Eismeer

[572] Eismeer (Polarmeer), Bezeichnung für die die beiden Erdpole umgebenden Wassermassen, wonach ein nördliches und ein südliches E. zu unterscheiden ist. Als Südgrenze gilt, wo die Landgrenze fehlt, der Polarkreis. Das Nördliche E. oder Arktische Polarmeer (s. Karte »Nordpolarländer«) berührt die nördlichen Küsten von Asien, Europa und Amerika. Zwischen den[572] dem letztern Kontinent vorgelagerten Inseln bildet es eine Menge von Busen, Durchfahrten und Straßen. Mit dem Atlantischen Ozean steht es durch die Davisstraße, die Dänemarkstraße zwischen Grönland und Island und durch die breite Öffnung zwischen Island und Südnorwegen in Verbindung; in das Stille Meer führt die Beringstraße. Nördlich und östlich von Spitzbergen besitzt nach Nansen das E. große Tiefen von meist über 3000 m (im Höchstbetrage bis 3850 m, soviel bis jetzt gelotet); die amerikanische Hälfte des Eismeeres ist noch unerforscht. Auch zwischen Spitzbergen und Grönland befindet sich ein tiefes Becken, in dessen nördlichem Teil sogar Stellen von 4600 und 4800 m gefunden worden sind. Beide tiefe Becken sind höchstwahrscheinlich durch eine unterseeische Schwelle von 800–900 m größter Tiefe getrennt. Ebenso bildet die Davisstraße einen vergleichsweise tiefen Fjord, auch in der Baffinbai sind Tiefen bis zu 1830 m gelotet. Die aus der Baffinbai in das nördliche Polarbecken führenden schmalen Wasserstraßen dagegen sind wieder flach, und die bis jetzt dort angestellten Lotungen haben keine Tiefen über 370 m ergeben. Nach Nansen ist die Temperatur der Luft über dem E. im Jahresdurchschnitt -19°, das Minimum -35°, das Maximum -0,7° im Mittel. Die Eisbildung reicht im Winter bis zum südlichen Nowaja Semlja und noch südwärts von Jan Mayen, doch hat man auch bis zu den höchsten erreichten Breiten größere offene Stellen (Polinjen) gefunden. Selbst in der wärmern Jahreszeit treiben aus den Polargegenden gegen S. Eismassen von kolossaler Ausdehnung und oft höchst merkwürdiger Gestalt: schwimmende Eisinseln, die z. T. auf dem Meer selbst, an seinen Küsten und in seinen Buchten, z. T. in den Flüssen entstanden sind oder endlich von den Gletschern der Landbezirke stammen (Eisberge und Gletschereisblöcke; vgl. die Abbildung S. 474 dieses Bandes). Diese Eismassen folgen im allgemeinen den polaren Strömungen, und zwar erstens dem ostgrönländischen Strom bis Kap Farewell, wo der Strom nach N. in die Davisstraße umbiegt, und zweitens dem Labradorstrom, durch den Eisberge südwärts bis zu den Wegen der New Yorker Dampfer geraten können. Die große Masse des Polareises scheint von der Beringstraße her nahe am Pol vorbei oder über denselben hinweg auf Grönland zu in jahrelangem, langsamem Vorrücken zu treiben: hierauf hat Nansen seinen Plan mit Erfolg gebaut und eine höchste Breite von 86°14´ erreicht. Sibirisches Holz wird auf Spitzbergen, Island. und Grönland als Treibprodukt gefunden.

Die vertikale Temperaturverteilung im E. ist eigentümlich. An der Oberfläche bis etwa 100 m Tiefe liegt das sehr kalte und angesüßte Wasser (Temperatur -1,6° bis -1,9°), meist wohl aus Schmelzwasser des Eises und Süßwasser der sibirischen Ströme gemischt, dann folgt relativ warmes und salzreiches Wasser (Temperatur in manchen Tiefen bis über +1°); am Boden ist die Temperatur etwa -1°. Man hat daraus mit Recht geschlossen, daß das Tiefenwasser vom Golfstrom stammt. Der Golfstrom sendet seine Verzweigungen bis in die Baffinbai, nach der Westküste von Spitzbergen und in das Meer zwischen Spitzbergen und Nowaja Semlja. Die Flora des Eismeeres ist verhältnismäßig reich entwickelt und enthält große Formen aus den Gattungen Laminaria und Alaria. Kjellmann zählt 260 Algenarten, die z. T. massenhaft auftreten und z. B. an Spitzbergens Küste noch in 270 m Tiefe wachsen. Auch an Tieren ist das E. reich (vgl. Arktische Zirkumpolarregion). Neben Grönlandswal, Finnwal, Narwal kommen Robben und Seeotter vor, von Fischen besonders der Stockfisch und der Eishai, von niedern Tieren sind Kruster, Mollusken, Hydroidpolypen und Stachelhäuter reichlich vertreten, und gerade die kleinsten Tiere treten so massenhaft auf, daß sie die hauptsächlichste Nahrung der Wale bilden. Nansen hat überall, auf dem Eis und unter dem Eis, noch Tierleben beobachtet, z. B. Füchse und Robben noch auf 84° nördl. Br. Der Walfischfang sowie die Jagd auf Pelztiere, nächstdem der Wunsch, von der Hudson- und Baffinbai aus an der Nordküste von Nordamerika hin eine nordwestliche Durchfahrt (Nordwestpassage) oder auch über Spitzbergen oder Nowaja Semlja eine nördliche oder nordöstliche Durchfahrt nach der Beringstraße aufzufinden, veranlaßte seit 1517 eine Menge von Expeditionen nach dem Norden (s. Nordpolarexpeditionen). Erst Mac Clure fand im Herbst 1850 die Nordwestdurchfahrt, die aber durch das Treibeis der zwischen den polaren Inseln sich hinwindenden Kanäle im W. und S. des Melvillesundes für die Schifffahrt völlig unbrauchbar ist. Die Sage von einem offenen Polarmeer im N. der Smithsund-Route wurde durch die englische Expedition von Nares (1875 bis 1876) widerlegt, wobei Nares den Namen Offenes Polarmeer mit gleicher Übertreibung in den eines Paläokrystischen Meeres verwandelte. Die Nordostdurchfahrt gelang 1878 Nordenskiöld auf der Vega, aber auch nicht im Laufe eines Sommers. – Nach Island besteht monatliche Dampferverbindung von Dänemark und England her, nach Grönland wird nur wenig Schiffahrt betrieben, und zwar nur in den Monaten Juni bis September; um dieselbe Zeit werden die Missionsstationen in Labrador einmal im Jahre vom Londoner Missionsdampfer besucht.

Das Südliche E. oder Antarktische Polarmeer hat keine Landgrenze wie das Nördliche, sondern steht mit dem Atlantischen, Indischen und Stillen Ozean in offener Wasserverbindung. Die große Menge mit Erde und Steinen behafteter ausgedehnter Eisberge, die nach N. gelangen, macht das Vorhandensein eines großen antarktischen Landes sehr wahrscheinlich. Sehr weit (bis 78°11´) drang zuerst Kapitän Roß (1839–43) im Süden von Australien gegen den Südpol vor, wobei er eine größere südwärts streichende Küste, das Victorialand, mit gewaltigen Vulkanen (Erebus 3768 m, Terror 3317 m) entdeckte. Weiterm Vordringen mit Schiffen stellte sich eine kolossale Eismauer von 65–70 m Höhe entgegen, die, fest zusammenhängend, Hunderte von Kilometern sich hinzog. Kapitän Scott erreichte 1902 in derselben Gegend, auf Schlitten über das Inlandeis fahrend, bis jetzt die höchste südliche Breite mit 82°17´ unter etwa 163´ östl. L. Früher hielt man das Südliche E. für flach; die deutsche Tiefsee-Expedition hat 1898 gezeigt, daß zum mindesten südlich von Afrika und dem Indischen Ozean gewaltige Tiefen bis fast 6000 m vorhanden sind. Die Wärmeverhältnisse des Wassers des Südlichen Eismeeres entsprechen genau denen des Nördlichen Eismeeres, auch hier dringt in der Tiefe warmes Wasser niedriger Breiten bis weit zum Südpol. Die Lufttemperaturen scheinen nach den Beobachtungen der Südpolar-Expeditionen der letzten Jahre für gleiche Breiten noch niedriger zu sein als am Nordpol. Fast alljährlich dringen die mächtigen tafelförmigen Eisberge bis in die Routen der Seeschiffahrt, bis nach 50, ja 40° südl. Br., nordwärts vor. Die Strömungen des Südlichen Eismeeres werden im allgemeinen aus den direkten Strombeobachtungen[573] ostwärts und nordwärts gefunden. Dagegen hat man aus dem Verlauf der Treibeisgrenze den Schluß gezogen, daß südlich von der Kergueleninsel, südlich von Neuseeland und südwestlich vom Kap Horn warme Strömungen in das Südliche E. hineinfließen. Über die Eisverhältnisse der Polargegenden s. Meer (Eisverhältnisse) und Polareis. Vgl. Nansen, In Nacht und Eis (Leipz. 1898); Derselbe, Oceanography of the North Polar Basin (1902); Fricker, Antarktis (Berl. 1898); Chun, Aus den Tiefen des Weltmeeres (2. Aufl., Jena 1903).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 572-574.
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