Farbensinn

[318] Farbensinn, die Empfindlichkeit und Empfänglichkeit für die Reize der Farb en, sowohl in ihrer einfachen Erscheinung als in ihrer Zusammenwirkung. In der ältern Auffassung, nach der man in den Farben der Naturdinge nur einen für den Menschen bestimmten Schmuck sah, konnte der F. kaum ein andres als das ästhetische Interesse beanspruchen; aber die neuere Weltanschauung, die alle Erscheinungen auf ihren Nutzen und ihre Entstehungsweise prüft, gab, nachdem sie in den Farben der Pflanzen und Tiere bestimmte Beziehungen nachgewiesen hatte, auch der Farbenbetrachtung einen tiefern Hintergrund. Die Farben der Blumen und Früchte wurden ihr als Lockmittel für Tiere, die zu deren Befruchtung und Aussäung beitragen, die Farben und Zeichnungen der Tiere teils als Anziehungsmittel bei der geschlechtlichen Auswahl, teils als Verbergungsmittel ihren Feinden oder Beutetieren gegenüber, teils als Erkennungsmittel der wegen übeln Geschmacks etc. gemiedenen Tiere verständlich. Nach dieser Auffassung der Naturfarben muß den Tieren ein F. in weiterer Ausdehnung zugeschrieben werden, als man bis dahin geglaubt hatte, und dies wurde durch einschlägige Untersuchungen bestätigt. Die Vorliebe der Insekten für bestimmte Blumenfarben wurde dabei teils durch eine Statistik ihrer Besuche, teils durch Versuche mit farbigen Papieren, auf denen Honigtröpfchen verteilt wurden, ermittelt und dadurch unter anderm die Vorliebe der Zweiflügler für weiße, gelbe und mißfarbene, die der Hautflügler für blaue, violette und rote, die der Tagschmetterlinge für reinblaue und karminrote Blüten bewiesen, so daß angenommen werden konnte, diese Blütenfarben seien von ihnen gezüchtet worden. Nicht ganz so einwandfrei sind Lubbocks Versuche, bei denen Reihen farbiger Gläser über die Behälter, in denen sich Wassertiere, Insekten etc. befanden, gelegt und Schlüsse aus der Bevorzugung des Aufenthalts unter dem einen oder andern Glas gezogen wurden. Denn hierbei kommt offenbar auch das ungleiche Durchlassungsvermögen der verschiedenen Farbengläser für die Wärmestrahlen in Betracht, weshalb z. B. die Schlüsse Lubbocks, nach denen der F. der Ameisen von dem der Menschen ganz verschieden sein soll, mit großer Vorsicht aufzunehmen sind. Der Mangel an bestimmt unterscheidenden Farbenbezeichnungen bei Homer und in den ältesten Religionsschriften (Bibel, Weda, Zendavesta etc.) hatte Gladstone, Geiger und andre Kulturhistoriker zu dem Schluß verführt, daß der Mensch noch zur Zeit der Abfassung jener Schriften nur Rot und Gelb deutlich zu unterscheiden im stande gewesen sei, dagegen Grün, Blau und Violett mehr oder weniger mit Grau und Schwarz verwechselt habe. Magnus fügte dazu die Hypothese, daß die Entwickelung des Farbensinns in der Reihenfolge der Spektralfarben vor sich gegangen sei, daß nach Rot und Gelb zuerst Grün, dann Blau und zuletzt Violett unterschieden worden sei, über das der F. des heutigen Menschen hinauszugreifen beginne, und daß die Farbenblindheit heute lebender Personen mithin als Atavismus aufzufassen sei. Dagegen wies E. Krause 1877 nach, daß die Menschen seit jeher die einzelnen Farben deutlich unterschieden haben, und daß der Mangel bestimmter Farbenbezeichnungen bei den alten Kulturvölkern einer Unvollkommenheit ihrer Sprache und nicht ihres Auges zuzuschreiben sei, daß sich bei heute lebenden Völkern niederer Bildungsstufe ähnliche Sprachlücken fänden, ja daß den Übergangsfarben (Orange, Lila, Violett und Pensee) auch in den modernen Sprachen erst in neuerer Zeit besondere Namen beigegeben worden seien. Studien über den F. der Naturvölker ergaben, daß diese Menschen meist einen sehr ausgebildeten F. besitzen und die feinsten Nuancen unterscheiden, aber allerdings häufig einen Mangel an Bezeichnungen zeigen. Von dem elementaren F., dessen teilweiser[318] oder vollständiger Mangel als Farbenblindheit bezeichnet wird, ist wohl zu unterscheiden der durch Schulung und Erziehung des Auges zu verbessernde Sinn für geschmackvolle Zusammenstellung der Farben (s. Farbenharmonie), welcher der Kleidung, Dekoration und allen Schaustücken den höchsten Reiz verleiht und deshalb dem Maler und andern Künstlern unentbehrlich ist. Kleine Kinder bringen den Farben augenscheinlich wenig Interesse entgegen; der F. verlangt daher ebenso wie der Formensinn eine besondere Schulung. Naturmenschen ziehen in der Regel grelle Farben und schreiende Kontraste den stumpfern Farben und gemäßigten Übergängen vor, die das gebildete Auge erfreuen; doch findet sich schon bei manchen afrikanischen Naturvölkern ein sehr ausgebildetes Gefühl für harmonische Farben. Vgl. Graber, Grundlinien zur Erforschung des Helligkeits- und Farbensinns der Tiere (Prag 1884); Magnus, Die geschichtliche Entwickelung des Farbensinns (Leipz. 1877); Derselbe, Die methodische Erziehung des Farbensinns (2. Aufl., Bresl. 1902); Gladstone, Der F. (deutsch, das. 1878); Dor, De l'évolution historique du sens des couleurs (Par. 1878, gegen Magnus und Gladstone); Marty, Die Frage nach der geschichtlichen Entwickelung des Farbensinns (Wien 1879); Allen, Der F. (deutsch, Leipz. 1880); Mauthner, Farbenlehre (2. Aufl., Wiesb. 1894); Lichtwark, Die Erziehung des Farbensinns (Berl. 1900).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6. Leipzig 1906, S. 318-319.
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