Bürgerkunde

[622] Bürgerkunde als Gegenstand des Schulunterrichts. Die Forderung, daß durch den öffentlichen Schulunterricht grundlegende Kenntnisse vom Wesen des Staates und der Gesellschaft wie von den Rechten und Pflichten des Einzelnen beiden gegenüber vermittelt werden sollen, ist in ihrem Keime so alt wieder moderne Begriff des öffentlichen Schulwesens überhaupt. Sie war besonders der philanthropischrationalistischen Pädagogik des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jahrh. in Deutschland nicht fremd. Unter andern vertrat sie F. E. v. Rochow. Schon 1786 befahl eine Kabinettsorder in Preußen, die Strafgesetze für Schulen zu bearbeiten. In dem Begriffe der Nationalerziehung, wie ihn nach französischem Vorgange (La Chalotais 1762) H. Stephani, G. Zerrenner und J. G. Fichte u. a. aufstellten, war die Aufgabe der B. schon deutlicher ausgeprägt und ging von da aus in den Süvernschen Entwurf des preußischen (1819) und einige andre Schulgesetze über. Ernster trat das Verlangen seit dem vollen Siege des konstitutionellen Prinzips im letzten Drittel des 19. Jahrh. hervor. In Frankreich wurde die B. (instruction morale et civique) 1881 unter Verzicht auf den Religionsunterricht als besonderes Lehrfach in die öffentlichen Schulen eingeführt. Sie gilt auch in Deutschland gegenwärtig als unerläßliches Element der allgemeinen Schulbildung; nur sträubt man sich hier, sie als gesondertes Fach in die Lehrpläne aufzunehmen und weist sie vielmehr dem geschichtlichen, erdkundlichen und deutschen, teilweise auch dem Rechenunterricht (Versicherung, Renten etc.) als Aufgabe zu. In der pädagogischen Literatur wird die Frage der B. lebhaft diskutiert. Vgl. Tittmann, Allgemeiner Unterricht der Rechte und Verbindlichkeiten der Untertanen in wohleingerichteten Staaten. Zum Gebrauch für Schulen (Leipz. 1800); Vogel, Darstellung der Rechte und Verbindlichkeiten der Untertanen in wohleingerichteten Staaten (das. 1837); Jende, Über die Einführung der Volkswirtschaftslehre in den öffentlichen Volksschulunterricht (Hamb. 1889); Reyer, Handbuch des[622] Volksbildungswesens (Stuttg. 1896); Störk, Der staatsbürgerliche Unterricht (Freiburg 1893); Tezner, Politische Bildung und Patriotismus (Wien 1897); Schleichert, Die volkswirtschaftlichen Elementarkenntnisse im Rahmen der jetzigen Lehrpläne der Volksschule (Langens. 1898); Fritzsche, Die Verwertung der B. im Geschichtsunterricht (das. 1898); Krückmann, Die Entfremdung zwischen Recht und Volk (Leipz. 1899); Lüer, Die Volksschulerziehung im Zeitalter der Sozialreform (das. 1899); Fleischner, Zur Frage des Unterrichts in der B. (Beilage zur Münchener »Allgemeinen Zeitung«, 1900, Nr. 203); Giese, Deutsche B. (3. Aufl., Leipz. 1903); Hoffmann u. Groth, Deutsche B. (3. Aufl., das. 1902); Fleischner, Österreichische B. (2. Aufl., Prag 1897); Lüdemann, Deutscher Reichskatechismus (Leipz. 1897); Griep, Bürgerkunde (das. 1901); Derselbe, Kleine Rechts- und Bürgerkunde (das. 1902); Laux u. Boock, Die Erziehung des Deutschen zum Staatsbürger (Berl. 1902) und Literatur bei »Fortbildungsschulen«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1905, S. 622-623.
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