Gewölbe

[810] Gewölbe, über einem teilweise oder ganz von Mauern umschlossenen Raum aus Steinen zusammengesetzte, gekrümmte, frei schwebende Decke. Diejenigen Teile der Umfassungsmauern, auf die der Schub des Gewölbes wirkt, und welche diesem durch ihre Standfestigkeit entgegenwirken, heißen Widerlager, die andern Mauern, die von den anschließenden Teilen des Gewölbes keinen Seitendruck erleiden, Stirn- oder Schildmauern. Ein G. besteht demnach aus zwei konstruktiv wesentlichen Teilen: den Widerlagern und der Wölbung. Der in der letztern entwickelte Seitendruck erfordert um so stärkere Widerlager, je größer er selbst ist, und je höher die letztern sind. Jener Seitendruck wird aber um so größer, je geringer die Höhe des Gewölbes im Verhältnis zu seiner Spannweite und je größer sein eignes Gewicht samt seiner Belastung ist. Dem in dem G. entwickelten Seitendruck muß die Dicke in seinem höchsten Teil, dem Scheitel, entsprechen, die dem vom Scheitel nach dem Widerlager hin zunehmenden Gewölbedruck gemäß, wenigstens bei weiter gespannten Gewölben, ebenfalls zunehmen muß.

Teile der G. Die Keilsteine, welche die G. bilden, nennt man Wölbsteine. Ihre Zahl ist gewöhnlich ungerade; der in dem Scheitel des Gewölbes befindliche Wölbstein s (Fig. 1) heißt Schlußstein, jeder der beiden untersten, auf dem Widerlager w ruhenden Wölbsteine a Anfänger. Die beiden rechts und links von der durch den Scheitel des Gewölbes gehenden Lotrechten befindlichen Teile g nennt man Gewölbschenkel.

Fig. 1. Teile des Gewölbes.
Fig. 1. Teile des Gewölbes.

Die Innenfläche l des Gewölbes heißt Leibung, seine Außenfläche Rücken, seine vordere und hintere lotrechte Begrenzungsfläche Stirn. Die geneigten Flächen, womit sich die Wölbsteine berühren, nennt man Lagerfugen, die lotrechten Berührungsflächen derselben Stoßfugen. Die Form und Stärke der G. ergibt sich durch deren innere und äußere Wölblinie, auf welch ersterer die Lagerfugen in den meisten Fällen senkrecht stehen. Die zu den Widerlagern parallele Mittellinie des Gewölbes heißt Achse. Je nach der Bogenform der innern Wölblinie unterscheidet man Halbkreis-, Segment- oder Stichbogen-, Korbbogen-, Spitzbogen-, elliptische[810] etc. G. Unter den Formen der G., die von einer gewissen Belastung derselben abgeleitet sind, z. B. bei gewölbten Brücken, sind die Klinoidengewölbe hervorzuheben, deren Belastung gerade, und zwar gewöhnlich wagerecht, abgeglichen ist.

Erhält ein G. zwei volle, parallele Widerlager und folgt seine Leibung durchgehends der zugrunde gelegten Bogenform, so entsteht das Tonnengewölbe. Ein Tonnengewölbe ist gerade, wenn es rechteckigen, und schief, wenn es rauten- oder trapezförmigen Grundriß zeigt. Flachbogige Tonnengewölbe pflegen preußische Kappen, auch kurzweg Kappen genannt zu werden.

Fig. 2. Tonnengewölbe.
Fig. 2. Tonnengewölbe.
Fig. 3. Kreuzgewölbe.
Fig. 3. Kreuzgewölbe.
Fig. 4. Muldengewölbe.
Fig. 4. Muldengewölbe.
Fig. 5. Spiegelgewölbe.
Fig. 5. Spiegelgewölbe.
Fig. 6. Klostergewölbe.
Fig. 6. Klostergewölbe.
Fig. 7. Kuppel mit Pendentifs.
Fig. 7. Kuppel mit Pendentifs.

Wird ein Tonnengewölbe durch zwei lotrechte, über den beiden Diagonalen a d und b c (Fig. 2) seines Grundrisses errichtete Ebenen geschnitten, so entstehen an den beiden Stirnseiten zwei sogen. Kappen KK und an den beiden Widerlagerseiten zwei sogen. Walme (auch Wangen) WW. Die erstern besitzen je ein Gewölbschild abg und cdf, je eine Scheitellinie eg und ef und je zwei Widerlagspunkte a, b und c, d, die letztern je eine Widerlagslinie ac und bd und je einen Scheitelpunkt e. Die Durchschnittslinien aed und bec jener senkrechten Ebenen mit der Leibung des Tonnengewölbes nennt man Gratbogen, Grate. Werden die beiden Walme jenes Tonnengewölbes durch zwei Kappen mit gleichem Gratbogen ersetzt (Fig. 3), so entsteht das Kreuzgewölbe (s. auch Tafel »Baustile II«, Fig. 23), werden die beiden Kappen des Tonnengewölbes durch zwei Walme mit gleichem Gratbogen ersetzt (Fig. 6), so entsteht das Klostergewölbe. Ein Kreuzgewölbe besitzt mithin vier Schildbogen agb, ahc, cfd, bid, zwei Scheitellinien gf und hi, vier Widerlagspunkte a, b, c, d und vier innen erhabene Halbgrate ae, be, ce, de; ein Klostergewölbe einen Scheitelpunkt e, vier Widerlagslinien ab, bd, de, ca und vier innen vertiefte Halbgrate ae, be, ce, de. Über rechteckiger Grundfläche wird das Klostergewölbe zum Muldengewölbe (Fig. 4). Wird letzteres unterhalb seiner Scheitellinie ee' durch eine wagerechte Ebene geschnitten, seine Scheitellinie also durch eine wagerechte Fläche a'b'c'd' ersetzt, so entsteht das Spiegelgewölbe (Fig. 5). Das Klostergewölbe über vieleckigem, elliptischem oder kreisförmigem Grundriß wird zum (polygonalen, bez. elliptischen oder kugelförmigen) Kuppelgewölbe, zur Kuppel. Wird diese über quadratischem Grundriß so errichtet, daß ihr größter Horizontalkreis dem Quadrat ein geschrieben ist (Fig. 7), so bedarf man zum Übergang in die Rundung der Kuppel der vier Gewölbezwickel (sog. Pendentifs) ahg, bgi, dif und cfh.

Fig. 8. Hängekuppel.
Fig. 8. Hängekuppel.

Führt man ein kugelförmiges Kuppelgewölbe über einem quadratischen Grundriß derart auf, daß der größte Grundrißkreis dem Grundrißquadrat um schrieben ist, also ein idealer wird, so entsteht die Hängekuppel (Stutzkuppel, Kugelgewölbe; Fig. 8). Liegt in Höhe des Horizontalkreises gifh ein Gesims, so wird das G. zur Flachkuppel. Und geht der größte Grundrißkreis nicht durch die Ecken des zu überwölbenden Raumes, sondern liegt er ganz außerhalb des letztern, so entsteht das böhmische G., die sogen. böhmische Kappe.

Fig. 9 u. 10. Sterngewölbe.
Fig. 9 u. 10. Sterngewölbe.

Wird die Kuppel im Scheitel nicht vollkommen geschlossen, sondern über der verbliebenen Öffnung ein oben besonders abgeschlossener Lichtschacht ausgeführt, so erhält man die Kuppel mit Laterne. Wird zwischen den Pendentifs und der eigentlichen Kuppelwölbung ein zylindrischer, meist von Fenstern durchbrochener Mauerkörper eingeschoben, so erhält man die Kuppel mit Tambour. Das Sterngewölbe (Fig. 9 u. 10) erscheint als ein Kreuzgewölbe, dessen einzelne im Grundriß dreieckige Gewölbeflächen nach dem gleichen Prinzip überwölbt werden. Wird nämlich über einem solchen dreieckigen Gewölbefeld abe (Fig. 9) ein Scheitelpunkt i angenommen und aus den drei Eckpunkten Grate zweiter Ordnung ai, bi, ei nach demselben hingeführt, so entsteht ein weiteres Kreuzgewölbe.

Fig. 11. Netzgewölbe.
Fig. 11. Netzgewölbe.

Durch Einschaltung solcher sekundären Kreuzgewölbe auch in die übrigen Gewölbefelder bed, dec und cea entsteht die einfachere oder reichere, mehr oder minder gleichmäßige Sternform, die diesem G. den Namen gegeben hat. Durch Aufgeben der Einteilung in einzelne Gewölbejoche und reichere Kombinationen der[811] nunmehr gleichwertigen Gewölberippen entstehen die Netzgewölbe, Reihungen (Fig. 11, S. 811). Denkt man sich die vier Grate eines Kreuzgewölbes um vier durch ihre Widerlagspunkte abcd (Fig. 12) gefällte Lotrechte gedreht, so entstehen vier kelchartige Gewölbeflächen, welche einen in vier Spitzen auslaufenden Zwischenraum offen lassen.

Fig. 12. Trichtergewölbe.
Fig. 12. Trichtergewölbe.

Werden nach jenen vier Flächen G. ausgeführt und jener Zwischenraum durch ein scheitrechtes, gewöhnlich mit »Hängezapfen« versehenes G. geschlossen, so entstehen die sogen. Fächer- oder Trichtergewölbe (Fig. 12 u. 13).

Die G. werden meist entweder in Hausteinen, in Backsteinen, in Bruchsteinen oder in Hausteinen in Verbindung mit einem der beiden letztern Materialien, seltener in Gußmörtel ausgeführt. Leichtere G. stellt man aus porigen oder gelochten Ziegeln, aus Tuffsteinen oder hohlen gebrannten, sogen. Topfsteinen her (Tuffgewölbe, Topfgewölbe). Die neuerdings in Monierbau oder Gipsdrahtbau (s.d.) ausgeführten Wölbformen sind genau genommen keine G., sondern nur gekrümmte Decken. Tonnengewölbe bedürfen vor ihrer Schließung interimistischer Unterstützungen, der Lehrgerüste (s.d.), während Kuppelgewölbe, deren einzelne Mauerringe in sich geschlossen sind, ohne Gerüst ausgeführt werden können.

Fig. 13. Trichtergewölbe.
Fig. 13. Trichtergewölbe.

Bei den Kreuzgewölben pflegen nur die Gräte, die beim gotischen Kreuzgewölbe zu Rippen werden, auf Lehrbögen, die Kappen freihändig gewölbt zu werden. Die Gewölbekonstruktion war schon den Ägyptern u. Assyrern bekannt, wie neuere Untersuchungen ihrer Denkmäler ergeben haben, und wurde von den Etruskern in die Praxis des Abendlandes eingeführt. Hier waren es besonders die Römer, welche dieselbe weiter ausbildeten u. auf die Herstellung der Tonnen-, Kreuz- und Kuppelgewölbe verwendeten. Die höchste Ausbildung erfuhren die Kreuzgewölbe und ihre Spielarten in der gotischen, die Kuppelgewölbe in der altchristlichen Baukunst und Renaissance (s. Architektur), die Tonnengewölbe im Brückenbau (s. Brücke). Vgl. Schwedler, Theorie der Stützlinie (in der »Zeitschrift für Bauwesen«, Berl. 1859) und Die Konstruktion der Kuppeldächer (2. Aufl., das. 1877); Culmann, Graphische Statik (2. Aufl., Zür. 1875); Dupuit, Traité de l'équilibre des voûtes (Par. 1872); Menzel-Heinzerling, Der Steinbau (9. Aufl., Fulda 1893); Wehrle, Steinschnitt (Zürich 1880); Schreiber, Tabellen zum Auftragen der Gewölbestützlinien nach Ordinaten (Straßb. 1884); Haase, Der Gewölbebau (Halle 1900); Körner, Gewölbe, im »Handbuch der Architektur«, 3. Teil, 2. Bd., Heft 3 (Stuttg. 1901).

Im weitern Sinn ist G. ein gewölbter, feuerfester Raum überhaupt; an manchen Orten auch Benennung eines jeden, also auch eines nicht gewölbten oder feuerfesten Kaufmannsladens, z. B. Kräutergewölbe, soviel wie Drogerieladen.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 810-812.
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