Hauptverhandlung

[881] Hauptverhandlung heißt im modernen Strafprozeßrecht der wesentliche Hauptabschnitt des gerichtlichen Strafverfahrens (s. d.), insbes. des Hauptverfahrens (s. d.), der dem Urteilsspruch unmittelbar vorhergeht. Ohne Hauptverfahren und ohne H. insbes. kann ein gerichtliches Strafurteil nicht gefällt werden, und der Schwerpunkt der Untersuchung liegt daher in der H. Sie findet je nach Verschiedenheit der fraglichen Straftat vor dem Schöffen- (Amts-) Gericht, der landgerichtlichen Strafkammer, dem Schwurgericht oder dem Reichsgericht statt (vgl. Gerichtsverfassung, S. 643). Wesentlich ist für jede H. die Öffentlichkeit der Verhandlung, einschließlich der Verkündigung der Urteile und Beschlüsse. Nur wenn durch sie eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung, insbes. der Staatssicherheit, oder der Sittlichkeit zu besorgen ist, kann die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. Ebenso wesentlich ist die Wahrung des Grundsatzes der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit des Verfahrens. Die H. soll, um die Einheitlichkeit des Bildes nicht zu beeinträchtigen, in ununterbrochener Gegenwart der Richter, der Staatsanwaltschaft und eines Gerichtsschreibers, der das Protokoll führt, erfolgen. Wurde sie unterbrochen, so muß sie spätestens am vierten Tage nach der Unterbrechung fortgesetzt werden, widrigenfalls ist mit dem Verfahren von neuem zu beginnen. Gegen einen Abwesenden, d. h. gegen einen Angeklagten, dessen Aufenthalt unbekannt ist, oder der sich im Ausland aufhält, kann nur ausnahmsweise eine H. dann stattfinden, wenn nämlich eine strafbare Handlung in Frage steht, die nur mit Geldstrafe oder mit Einziehung bedroht ist. Gegen einen ohne Entschuldigung ausgebliebenen Angeklagten ist in der Regel ein Vorführungsbefehl zu erlassen, und nur ausnahmsweise kann in seiner Abwesenheit verhandelt werden, namentlich bei großer Entfernung seines Aufenthaltsorts und bei verhältnismäßiger Geringfügigkeit der ihm zur Last gelegten strafbaren Handlung. Ist dem Angeklagten auf Antrag oder von Amts wegen ein Verteidiger bestellt, oder ist ein solcher nach ausdrücklicher Gesetzesvorschrift (Strafprozeßordnung, § 140) zuzuziehen, so erscheint auch die Anwesenheit des Verteidigers als notwendig.

Die H. wird von dem Vorsitzenden eröffnet, geleitet und geschlossen. Sie beginnt mit dem Ausruf der Sache. Ist der Angeklagte verhaftet, so ist er vorzuführen und zwar ungefesselt; befindet er sich dagegen auf freiem Fuß, ist aber trotz Ladung nicht erschienen, so wird er, falls sein Nichterscheinen genügend entschuldigt ist, von neuem geladen oder aber wird mangels genügender Entschuldigung seine Vorführung angeordnet, bez. ein Haftbefehl erlassen (§ 229). Zunächst wird der Angeklagte über seine persönlichen Verhältnisse vernommen. Hierauf erfolgt der Ausruf der geladenen Zeugen und Sachverständigen, die schon jetzt auf die Bedeutung des Eides hingewiesen werden. Die Zeugen entfernen sich hierauf aus dem Sitzungszimmer, während es den Sachverständigen gestattet werden kann, der ganzen H. beizuwohnen. Der Beschluß über die Eröffnung des Hauptverfahrens (nicht aber auch die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft) wird verlesen. Hierauf erfolgt eine weitere Vernehmung des Angeklagten über den Sachverhalt selbst, die ihm Gelegenheit geben soll zur Beseitigung der gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe und zur Geltendmachung der zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen. Der Angeklagte ist jedoch berechtigt, die Aussage zu verweigern. Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme. Das Gericht kann auch von Amts wegen die Herbeischaffung neuer Beweismittel neben den von der Staatsanwaltschaft und von dem Angeklagten benannten anordnen. Die Zeugen und Sachverständigen sind einzeln zu vernehmen und vor ihrer Vernehmung einzeln zu vereidigen. Bei Sachverständigen, die für die Erstattung von Gutachten der betreffenden Art im allgemeinen beeidigt sind, genügt die Berufung auf den geleisteten Eid. Nicht nur[881] der Vorsitzende, sondern auch die beisitzenden Richter können an Zeugen und Sachverständige unmittelbar Fragen richten. Auch der Staatsanwaltschaft, dem Angeklagten, dem Verteidiger, den Geschwornen und den Schöffen ist auf ihr Verlangen die Befragung der Zeugen und Sachverständigen zu gestatten. Wird eine Frage von dem Befragten oder von dem Vorsitzenden oder von den Prozeßbeteiligten beanstandet, so hat nötigenfalls das Gericht über die Zulässigkeit zu entscheiden. Bei den von der Staatsanwaltschaft und von dem Angeklagten benannten Zeugen und Sachverständigen wird dem Staatsanwalt und dem Verteidiger auf deren übereinstimmenden Antrag das sogen. Kreuzverhör von dem Vorsitzenden gestattet. Jede Partei hat alsdann das Recht, die von der Gegenpartei vernommenen Zeugen und Sachverständigen auch noch ihrerseits zu vernehmen. Außerdem sind in der H. die als Beweismittel dienenden Schriftstücke zu verlesen. Nach der Vernehmung eines jeden Zeugen, Sachverständigen oder Mitangeklagten sowie nach der Verlesung eines jeden Schriftstückes ist der Angeklagte zu befragen, ob er etwas zu erklären habe. Nach Schluß der Beweisaufnahme erhalten die Staatsanwaltschaft und sodann der Angeklagte, resp. sein Verteidiger zu ihren Ausführungen (Plaidoyers) und Anträgen das Wort. Der Staatsanwaltschaft steht das Recht der Erwiderung zu; dem Angeklagten gebührt das letzte Wort. Die Beratung und Beschließung des Urteils ist nicht öffentlich. Zu jeder dem Angeklagten nachteiligen Entscheidung, welche die Schuldfrage betrifft, ist eine Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen erforderlich. Die H. schließt mit der Erlassung des Urteils (s. d.), das durch Verlesung der Urteilsformel und Eröffnung der Urteilsgründe zu verkünden ist. Die Verkündung des Urteils kann eine Woche ausgesetzt werden. Was die H. in der Instanz der Berufung (s. d.) anbetrifft, so hat in dieser ein Berichterstatter in Abwesenheit der Zeugen einen Vortrag über die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens zu halten. Auch bei der H. in der Instanz der Revision fungiert ein Berichterstatter. Auch in dieser H. gebührt dem Angeklagten das letzte Wort. Ähnlich ist der Gang der H. im Militärstrafverfahren geregelt, nur besteht bezüglich des Zutritts zur öffentlichen H. die Vorschrift, daß er aktiven Militärpersonen nur dann gestattet ist, wenn sie im Range nicht unter dem Angeklagten stehen, daß weiblichen sowie unerwachsenen Personen derselbe untersagt werden kann, und daß dem Verletzten das Gericht den Zutritt aus Gründen der Disziplin verbieten kann, wenn er zu den Personen des aktiven Heeres oder der Marine gehört (Militärstrafgerichtsordnung, § 287 u. 288). Die gleichen Grundsätze gelten in Österreich. Vgl. Deutsche Strafprozeßordnung, § 212–275, 365 ff., 391 ff.; Österreichische, § 220–279.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 8. Leipzig 1907, S. 881-882.
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