Industrieschulen

[816] Industrieschulen, seit der Zeit der sogen. Philanthropen (s. d.) Name für sich bestehender oder mit der gewöhnlichen Schule verbundener Unterrichtsanstalten zur Weckung oder Förderung des Gewerbfleißes; namentlich Nebenanstalten der Volksschule, in denen Mädchen oder auch Kinder beiderlei Geschlechts in Handarbeiten (Stricken, Nähen, Flechten etc.) unterwiesen werden. Hier und da, auch in Holland, England etc., waren derartige Beschäftigungen schon früher mit dem Schulunterricht verbunden; so im Halleschen Waisenhaus von Francke und in den unter seinem Einfluß in Halle, Berlin etc. in der ersten Hälfte des 18. Jahrh. entstandenen Realschulen. In systematischer Weise verband dann der Dekan, spätere Bischof Ferdinand Kindermann (s. d.), von Maria Theresia als Ritter von Schulstein geadelt, zu Kaplitz in Böhmen Industrieklassen mit der »Lehrschule« (1773). Sein Beispiel fand in der für Reform des Unterrichtswesens begeisterten Zeit vielfach Nachfolge. Gleichzeitig versuchte nach einem großartigen Plan, aber mit geringem Erfolg Pestalozzi zu Neuhof im Aargau Handarbeit und Unterricht zu verbinden (1775). Im nördlichen und evangelischen Deutschland wurde die Neuerung besonders durch den Pfarrer Wagemann in Göttingen bekannt. Dieser errichtete in Göttingen 1784 eine Industrieschule, die bald zahlreiche Nachfolgerinnen im nördlichen Deutschland, auch in England, Frankreich etc. fand. Besonders ist unter diesen die sogen. Erwerbschule in Berlin (1793 gegründet) zu nennen. In enge gesetzliche Verbindung mit der Volksschule suchte die I. seit 1796 der Herzog Peter von Holstein und Oldenburg zu bringen. In Preußen u. a. wurde dies ebenfalls angestrebt. Größere Verbreitung haben sie in den ersten beiden Dritteln unsers Jahrhunderts in Belgien, Württemberg, Sachsen (Erzgebirge: Stick- und Klöppelschulen) etc. gefunden. In ausgedehntem Maß aber findet der Industrieunterricht die passendste Verwendung in Rettungshäusern, Taubstummen-, Blindenanstalten (s. d.) für Knaben und Mädchen. In den Volksschulen kam man von der Heranziehung der Knaben zu diesem Unterricht zurück, je mehr der Turnunterricht an Ausdehnung gewann. Nur wo besondere örtliche Verhältnisse es nahelegen, pflegt sie noch stattzufinden. Doch ist die Bewegung für den Unterricht der männlichen Jugend in der Handfertigkeit (s. Arbeitsschulen) unter andern Formen neuerdings wieder in Fluß gekommen. Dagegen ist für die Mädchen der Unterricht in weiblichen Handarbeiten als obligatorisch jetzt in den meisten Staaten Deutschlands und auf manchen Staaten des Auslandes (Österreich-Ungarn, Frankreich etc.) vorgeschrieben, so in Preußen durch die allgemeinen Bestimmungen vom 15. Okt. 1872. Die verbreitetste Methode für diesen Unterricht ist heutzutage die Schallenfeldsche, nach der die Lehrerin ganze Klassen oder Abteilungen gleichzeitig zu belehren und zu beschäftigen hat (s. Handarbeitsunterricht). – In Bayern bezeichnet man als I. seit 1868 mittlere Gewerbeschulen (s. d.), jetzt vier: in Augsburg, Kaiserslautern, München und Nürnberg, mit je einer mechanischen, chemischen, elektrotechnischen und bautechnischen Sektion, zu denen in München noch eine Sektion für Handel kommt. Diese bayrischen I. bereiten in zwei Jahreskursen für die Technische Hochschule oder in drei Jahreskursen unmittelbar für den Eintritt in die Praxis höherer gewerblicher Betriebe vor.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 816.
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