Kānon [2]

[566] Kānon (griech.) bezeichnet in der Kirchensprache teils das Verzeichnis der biblischen Bücher, die für inspiriert gelten und in den gottesdienstlichen Versammlungen gelesen werden, im Gegensatz zu den Apokryphen (s. Kanonische Bücher), teils jede kirchliche Vorschrift und Regel, daher später besonders gebraucht im Gegensatz zum bürgerlichen Gesetz (kanonisches Recht); ferner die Gebetsformel der römischen und griechisch-katholischen Kirche vor, bei und nach der Konsekration in der Messe (Meßkanon) sowie ein bestimmter Kirchengesang der griechischen Kirche; endlich das Verzeichnis der von der Kirche anerkannten Heiligen. – In der Philosophie ist unter K. ein methodologischer Grundsatz, eine Vorschrift für den richtigen Gebrauch des Erkenntnisvermögens zu verstehen. In diesem Sinne ist eine Schrift Epikurs über die obersten Grundsätze des Denkens kurz als K. betitelt und spricht Kant von dem K. der reinen Vernunft. – In der Mathematik, vorzüglich in der Algebra, ist K. eine allgemeine Formel, die bei Lösung einer Aufgabe herauskommt, und nach der man alle Beispiele ausrechnen kann, die besondere Fälle der allgemeinen Aufgabe sind. Kanonische Form (Normalform), eine durch besonders einfache Eigenschaften ausgezeichnete Form, auf die man einen gegebenen Ausdruck oder eine gegebene Gleichung bringen kann. – In der bildenden Kunst bezeichnet das Wort K. Statuen, die als Muster gelten, vorzüglich in Hinsicht auf die Verhältnisse des menschlichen Körpers (s. Proportion). Die Bezeichnung rührt von einem berühmten Werk des griechischen Bildhauers Polyklet, der Statue eines Speerträgers (s. Doryphoren), her, die ihrer den Künstlern als Vorbild dienenden Proportionen wegen den Beinamen K. erhielt (vgl. Friederichs, Der Doryphoros des Polyklet, Berl. 1863). Auch die Künstler des alten Ägypten hatten in späterer Zeit, als die Kunst schon erstarrt war, ihren K., eine feststehende Regel der Verhältnisse des menschlichen Körpers. Sie pflegten nach bestimmt proportionierten Modellen zu arbeiten, die sie in ein Netz von Quadraten einzeichneten, um so für jeden Punkt die entsprechende Lage festzuhalten. Für die menschliche Gestalt bildete die Einheit dieses Kanons nach einigen die Länge des Fußes, nach andern des mittlern Fingers. Nach Diodor hätten die Ägypter den Körper vom Scheitel bis zur Sohle in 211/4 Teile zerlegt. Aber die mancherlei Zeichnungen und Skulpturen, die noch unvollendet und mit solchen Quadratierungen versehen erhalten sind, weichen in der Zahl der Quadrate, die auf die Körperlänge kommen, zwischen 15 und 23 so erheblich voneinander ab, daß von einem einheitlich befolgten K. nicht die Rede sein kann, und man zwei oder drei verschiedene Proportionsregeln angenommen hat. – In der Philologie versteht man unter K. das von den alexandrinischen Grammatikern herrührende kritische Verzeichnis der alten Schriftsteller. – In der Chronologie nennt man K. Zeit tafeln bestimmter Art, z. B. die der sogen. Goldenen Zahl, der Epakten, der Ostern; in der Astronomie Tafeln für die Bewegungen der Himmelskörper, Zusammenstellungen sämtlicher Sonnen- und Mondfinsternisse etc. – In der Rechtssprache ist K. Bezeichnung für eine jährliche Geldabgabe von Grundstücken, Häusern, also soviel wie Erb-, Grundzins, Gült etc. – In der Buchdruckerkunst versteht man unter K. eine große Letternart, mit der früher die Meßkanons gedruckt wurden, die jetzt aber gewöhnlich nur auf Titeln, Anschlagzetteln etc. Anwendung findet; kleine K. hält 36, grobe K. 40 bis 48 typographische Punkte (vgl. Schriftarten).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 566.
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