Kierkegaard

[891] Kierkegaard (spr. kjérkegōr), Sören Aaby, der bedeutendste Denker und eigenartigste Prosaist Dänemarks, geb. 5. Mai 1813, gest. 11. Nov. 1855 in Kopenhagen, wurde als kränkliches Kind zu streng christlicher Askese erzogen, widmete sich in Kopenhagen theologischen und philosophischen Studien, machte 1841–42 eine wissenschaftliche Reise nach Deutschland und führte dann in seiner Vaterstadt ein zurückgezogenes Denker- und Schriftstellerleben. Er hatte sich 1840 verlobt, glaubte aber dem Liebesglück entsagen zu müssen und schrieb, um der über den Treubruch Empörten seine Motive klarzulegen, das große Werk »Entweder-Oder. Ein Lebensfragment, herausgegeben von Victor Eremita« (»Enten-Eller«, 1843; deutsch, 3. Aufl., Dresd. 1904). Es knüpft an seine Dissertation »Über den Begriff der Ironie« (1841) an. Ihm folgten im[891] Verlauf der nächsten drei Jahre unter verschiedenen Pseudonymen eine erstaunliche Menge Abhandlungen, erbauliche Reden, Lebensschilderungen etc.: »Furcht und Zittern« (1843; deutsch, Erlang. 1882); »Die Wiederholung« (1843); »Der Begriff der Angst« (1844; mit andern Abhandlungen, deutsch von Schrempf, Leipz. 1890) und die das Fazit seiner Philosophie enthaltenden Werke: »Stadien auf dem Lebensweg« (»Studier paa Livets Vei«, 1845; deutsch, Leipz. 1886); »Abschließende, unwissenschaftliche Nachschrift« (1846) u. a. In diesen Werken läßt er verschiedene Individuen (deswegen die Pseudonyme) schildern, wie sich das Leben nach der ästhetischen oder der ethischen Überzeugung des Menschen gestaltet, um schließlich unter eignem Namen in der christlichen Lebensführung das höchste Ideal darzustellen. K. verkündet mit äußerster Konsequenz das Christentum, wie es Jesus und die Urchristen lebten und predigten. Nach seiner Auffassung ist das Christentum das Paradoxe und subjektiv Individuelle. Es ist, objektiv betrachtet, das Absurde, das nur für das religiöse Bewußtsein Gültigkeit erlangt, für den Glauben ein Gegenstand der Leidenschaft, dem Verstand aber ein Ärgernis ist. Entweder ist es nämlich aus teleologischen Gründen möglich, die allgemeingültigen Sätze der Ethik aufzuheben, oder Abraham, der Vater des Glaubens, ist ein Mörder, ein Verbrecher, und der Prediger muß sich hüten, Sonntags Abraham zu preisen, auf daß er nicht Montags genötigt sei, den einfältigen Zuhörer zu verurteilen, der dieses Beispiel befolgt. Also ist Gottes Gebot an Abraham nur an ihn, das Einzelindividuum, gerichtet, so wie er K. selbst geboten hatte, seiner Liebe und seinem Lebensglück zu entsagen. Überhaupt in das Leben im Glauben ausschließlich eine Vereinbarung zwischen Gott und »dem Einzelnen«, wie K. den Menschen als religiöses Wesen bezeichnet, ein schroffer Gegensatz zu dem damals herrschenden Hegelschen »Staatschristentum«. Zu dieser Zeit wurde K. plötzlich eine Zielscheibe des Spottes für das gefürchtete Witzblatt »Korsar«, das ganz Kopenhagen terrorisierte. Er hatte es sich verbeten, der einzige anständige Mensch zu sein, den das Blatt lobte; nun sollte er erfahren, wie sein Lebenswerk dem Witz, seine leicht karikierte dürre, schiefe Gestalt dem Straßenpublikum preisgegeben wurde. Dies gab ihm den Anstoß zu neuer, sehr lebhafter Produktion (»Einübung im Christentum«, 1850; deutsch, 2. Aufl., Halle 1894; »Zur Selbstprüfung«, 1851; deutsch, 4. Aufl., Erlang. 1895). Es galt mit noch innigern Worten, noch eindringlichern Beispielen seinen Lesern einzuschärfen, daß der Weg zu Christus schmal, voller Leiden und Entsagung sei. Ein härterer Schlag traf ihn, als der Bischof Martensen seinen Vorgänger, Bischof J. P. Mynster (s. d.), als einen Zeugen des wahren Christentums hinstellte. Niemals hat wohl die dänische Sprache einem so vulkanischen Ausbruch des Schmerzes und der Empörung gedient als in dem Flugblatte »Ojeblikket« (»Der Augenblick«, 1855), wo K. seinen Donnerkeil gegen die Staatskirche und die Brotpfaffen schleudert. Die Erregung war ihm zuviel; kurz nach her verschied er, wie »sein Lehrer Sokrates«, im Kreise seiner Freunde und wie er, überzeugt, daß der Tod seinen Ideen kein Hindernis bereiten werde. Alle Werke Kierkegaards zeichnen sich aus durch die feinste und geistvollste Dialektik; seine Sprache ist edel, voll dichterischen Schwunges und hinreißender Beredsamkeit. Sein Einfluß ist ethisch und literarisch immer noch im Wachsen. Unter seinen Anhängern in Deutschland verdient der württembergische Pfarrer Christoph Schrempf (s. d.), der sich auch um Übersetzung mehrerer Abhandlungen Kierkegaards (s. oben) verdient gemacht hat, besondere Erwähnung. Seine »Nachgelassenen Papiere«, Tagebücher, Entwürfe u. dgl., sind in 8 Bänden von H. P. Barfoed und H. Gottsched gesammelt (Kopenh. 1869–81). Eine neue Ausgabe seiner »Gesammelten Werke« besorgten Drachmann, Heiberg und Lange (Kopenh. 1901 ff.). In deutscher Übersetzung erschienen außer den genannten Schriften insbesondere noch: »Leben und Walten der Liebe« (Leipz. 1890), »Angriffe auf die Christenheit« (Bd. 1, Stuttg. 1896), »Ausgewählte christliche Reden« (Gieß. 1901), »Zwei ethisch-religiöse Abhandlungen« (das. 1902), »Das Tagebuch des Verführers« (Leipz. 1903), »Buch des Richters; seine Tagebücher 1833–1855« (im Auszug deutsch von Gottsched, Jena 1905). Nach dem Tode seiner Jugendliebe, der Konferenzrätin Schlegel, wurden die Briefe aus der kritischen Periode seines Lebens herausgegeben von Raphael Meyer (deutsch, Stuttg. 1904) und von Kierkegaards Nichte, Henriette Lund (deutsch, Leipz. 1904). Vgl. G. Brandes, Sören K. Ein literarisches Charakterbild (Leipz. 1879, und in Brandes' »Gesammelten Schriften«, Bd. 3, Münch. 1903); Höffding, Sören K. als Philosoph (deutsch von Dorner u. Schrempf, 2. Aufl., Stuttg. 1902); Münch, Die Haupt- und Grundgedanken der Philosophie S. Kierkegaards (Dresd. 1902); Bärthold, Noten zu S. Kierkegaards Lebensgeschichte (Halle 1876), Die Bedeutung der ästhetischen Schriften S. Kierkegaards (das. 1879), Zur theologischen Bedeutung S. Kierkegaards (das. 1880), S. Kierkegaards Persönlichkeit in ihrer Verwirklichung der Ideale (Gütersl. 1886) und andre Schriften; Victor Déleuran, Esquisse d'une étude sur S. K. (Par. 1897); Chr. Jensen, S. Kierkegaards religiöse Udvikling (Kopenh. 1898); Carl Koch, Sören K. (das. 1898); P. A. Rosenberg, Sören K. (das. 1898).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 891-892.
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