Musset

[324] Musset (spr. müssä), Alfred de, einer der ersten modernen franz Dichter, geb. 11. Dez. 1810 in Paris, gest. daselbst 2. Mai 1857, war der Sohn eines Schriftstellers, der unter anderm ein Leben J. J. Rousseaus veröffentlicht hatte, absolvierte 1827 mit Glanz das Collège Henri IV und widmete sich, nachdem er es mit medizinischen und juristischen Studien und mit dem kaufmännischen Beruf versucht hatte, hauptsächlich durch den Verkehr mit Victor Hugo und dessen Freunden angeregt, dem schriftstellerischen Beruf. Schon als 19jähriger Jüngling gab er seinen ersten Band Gedichte heraus: »Contes d'Espagne et d'Italie« (1830), die durch die Grazie der Form und die Tiefe der Empfindung, vielleicht auch durch die Schalkhaftigkeit, stellenweise sogar Schlüpfrigkeit des Inhalts Aufsehen erregten. Eine zweite Sammlung (1831) machte geringeres Aufsehen, mehr dagegen eine dritte: »Un spectacle dans un fauteuil« (1832–34, 2 Bde.), mit dem Gedicht »La coupe et les lèvres« und dem komischen Heldenepos »Namouna«. Mit seinen ersten dramatischen Versuchen hatte M. kein Glück gehabt; er veröffentlichte sie daher 1833 einstweilen in Buchausgabe (»Andrea del Sarto«, »Les caprices de Marianne«, »Fantasio«). Im Sommer 1833 erschien in der »Revue des Deux Mondes« das bedeutende[324] Gedicht »Rolla«. In demselben Jahre trat er in ein intimes Verhältnis mit G. Sand und unternahm mit ihr eine Reise nach Italien; jedoch die Verschiedenheit ihrer Naturen führte bald zu unerquicklichen Auftritten, und in Venedig kam es zum Bruch. In der düstersten Stimmung kehrte M. nach Paris zurück und schrieb seine »Confession d'un enfant du siècle« (1836, 2 Bde.; deutsch von H. Conrad, Leipz. 1903), ein Buch voll Leidenschaft und Sinnlichkeit, Unglauben und Menschenhaß. Gemäßigter ist er in den Gedichten, die von 1835–40 in der »Revue des Deux Mondes« erschienen, besonders: »Une bonne fortune«, »L'ode à la Malibran«, den hochpoetischen (vier) »Nuits« (vgl. Foß, Die ›Nuits‹ Mussets, Berl. 1902), »Lettre à Lamartine«, »L'espoiren Dieu«. Seine Antwort auf Beckers Rheinlied: »Nous l'avons en, votre Rhin allemand!« wurde von den Franzosen als patriotische Tat gefeiert. Alle seine Gedichte sind gesammelt unter den Titeln: »Premières poésies« (1829–35), »Poésies nouvelles« (1836–52) und »Poésies complètes« (1851). Seine seinen und geistreichen Salonstücke, wie: »On ne badine pas avec l'amour«, »Il ne faut jurer de rien«, »Un caprice«, »Il faut qu'une porte soit ouverte ou fermée« u.a. (gesammelt als »Comédies et proverbes«, 1856, 2 Bde.), haben den Weg auf die Bühne gefunden und sich zum Teil bis heute behauptet. Persönliche Erlebnisse regten M. dazu an, auch eine Reihe graziöser Novellen und Erzählungen zu schreiben (gesammelt u. d. T.: »Nouvelles«, 1861), von denen die ersten: »Emmeline«, »Les deux maîtresses«, »Le fils du Titien« u.a., weitaus die besten sind; die spätern verraten die frühzeitige Ermattung des Dichters. Sein Amt als Bibliothekar am Ministerium des Innern, das ihm die Revolution von 1848 genommen, gab ihm das Kaiserreich zurück; auch wurde er 1852 in die Akademie aufgenommen. M. nimmt unter den französischen Dichtern seiner Zeit eine der hervorragendsten Stellen ein, zumal als Lyriker. Gegenüber der Sentimentalität Lamartines und dem Schwulst Victor Hugos zeichnen sich seine Gedichte durch die tiefe Wahrheit der Empfindung, durch Harmonie und Grazie besonders aus. Anderseits zeigt er sich zuweilen wunderlich, blasiert und zynisch. Denkmäler sind ihm in Paris und Neuilly errichtet. Die beste Ausgabe seiner Werke (die jedoch einzelne Stellen willkürlich ändert) ist die bei Lemerre in Paris 1876 und 1886 s. in 10 Bänden erschienene; eine illustrierte Ausgabe, mit Biographie von Paul de M., erschien in 11 Bänden (neue Ausg. 1882). Viele seiner Gedichte wurden von Freiligrath, Geibel u.a. ins Deutsche übertragen, zuletzt von O. Baisch (Brem. 1880), gesammelte Dichtungen von M. Hahn (bisher 4 Bde.: Dichtungen, Schauspiele, Novellen, Gedichte, Goslar 1900–05). Vgl. P. Lindau, Alfred de M. (3. Aufl., Berl. 1879); Clouard, Bibliographie des œuvres d'A. de M. (Par. 1883) und Documents inédits sur A. de M. (das. 1900); Mariéton, George Sand et A. de M. (das. 1896); de Janzé, Étude et récits sur A. de M. (das. 1891); Barine, A. de M. (das. 1893, 4. Aufl. 1904); Söderman, A. de M., hans lif och verk (Stockh. 1894); Spoelberch de Lovenjoul, La véritable histoire de, Elle et Lui' (2. Aufl., Par. 1897); Lafoscade, Le théâtre d'A. de M. (das. 1901); Crugnola, Alfredo de M. e la sua opera (Rom 1903); »Correspondance de George Sand et d'Alfred de M.« (hrsg. von F. Decori, Par. 1904); Adèle Colin, Alfred de M. intime. Souvenirs de sa gouvernante (1906). – Sein Bruder Paul de M., ebenfalls Schriftsteller, geb. 7. Nov. 1804 in Paris, gest. daselbst 17. Mai 1880, veröffentlichte zuerst eine Reihe gut geschriebener Romane, wie: »La table de nuit« (1832), »Samuel« (1833), »Lauzun« (1835, 4. Aufl. 1873), »Femmes de la Régence« (1841, 2 Bde.; 1858) u.a.; ferner: »Lui et Elle« (1860), nach den Aufzeichnungen seines Bruders und als Antwort auf G. Sands »Elle et Lui«; »Voyageen Italie« (1851) u.a.; einige Theaterstücke. Die Biographie seines BrudersAlfred de M., sa vie et ses œuvres«, 1877) hat den Erwartungen nicht entsprochen.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 324-325.
Lizenz:
Faksimiles:
324 | 325
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika