Paralyse, progressive

[428] Paralyse, progressive (Dementia paralytica), eine chronisch verlaufende Geisteskrankheit von durchschnittlich zwei- bis dreijähriger Dauer und fast immer tödlichem Verlauf, bei der die psychische Leistungsfähigkeit im Denken, Fühlen und Handeln ganz allmählich, aber unaufhaltsam abnimmt bis zur völligen Vernichtung der psychischen Persönlichkeit, bis zum denkbar tiefsten Blödsinn. Sehr früh zeigt sich eine Änderung der gesamten geistigen Persönlichkeit, ihres Charakters, zum Schlimmen. Besonders die moralischen Funktionen erleiden eine Einbuße. Ein vorher musterhafter Familienvater vernachlässigt seine Berufs- und Familienpflichten über sinnlichem Genuß, es machen sich plötzlich auffallend starke alkoholische und sexuelle Bedürfnisse geltend. Besonders bezeichnend ist der früh eintretende Ausfall der ethischen und ästhetischen Funktionen bei Schriftstellern und Künstlern. Sehr früh zeigt sich auch eine sehr auffallende Gedächtnisschwäche, so daß der Kranke die wichtigsten Berufspflichten und Geschäfte vergißt. Ganz besonders schwindet die Fähigkeit, neue Eindrücke der jüngsten Vergangenheit festzuhalten. Der Kranke weiß Vorgänge der letzten Tage nicht mehr, ja, er kann sich schließlich nicht mehr erinnern, was er vor einer Viertelstunde getan hat, ob er schon zu Mittag gegessen hat. Infolgedessen hat der Kranke auch das Zeitgefühl fast ganz verloren; es ist ihm unklar, ob seit einem bestimmten Ereignis Wochen oder Tage verflossen sind, er weiß weder Wochentag noch Datum, oft nicht einmal das Jahr. Diese Schwäche auf allen Gebieten des psychischen Lebens nimmt immer mehr zu, obgleich sich der Kranke äußerlich noch ziemlich geordnet in seiner Umgebung zu bewegen vermag.

Zu den wichtigsten und frühesten Zeichen der progressiven Paralyse gehören Änderungen der Sprache und Schrift. Die Sprache nimmt einen lallenden Charakter an, die Handschrift wird kleiner oder größer, man begegnet öfters Versetzungen der Buchstaben und Silben, Auslassungen und Wiederholungen derselben, die Striche fahren häufig über die Grenzen hinaus, die Buchstaben sind ungleich groß. Der geistige Horizont wird immer begrenzter, die Kritik und Besonnenheit erleidet solche Einbuße, daß Erlebtes und Geträumtes oder Phantasiertes miteinander verwechselt werden. Das Sprachvermögen wird immer schlechter, besonders auffallend ist das sogen. Silbenstolpern, das Versetzen und Auslassen von einzelnen Buchstaben und Silben. Auch der Gang wird auffälliger, plumper, unsicherer; manche Bewegungen werden ungeschickter oder gehen ganz verloren, z. B. Zugreifen, Knöpfen. Die Miene wird schlaffer und ausdrucksloser, bis zum ausgesprochen Blöden. Das Schlucken ist erschwert, der Kranke verschluckt sich leicht. Im Verlauf der Krankheit zeigt sich eine auffallende Neigung zu Schlag- und epileptischen Anfällen. In vorgerücktem Stadium stellt sich bisweilen auch der oft die abenteuerlichsten und bizarrsten Formen annehmende Größenwahn ein. Mit diesem steigt auch die Stimmung des Kranken, er sieht in seiner Umgebung nur Herrliches und Köstliches, er ist überschwenglich glücklich, selig etc. Überhaupt ist das subjektive, im krassen Widerspruch zu der wirklichen traurigen Lage stehende Wohlbefinden (Euphonie) für die Paralyse typisch. Das Endstadium ist bei allen Kranken dasselbe. Der Kranke wird immer stumpfer und blöder, er kennt die Gegenstände und Personen seiner Umgebung nicht mehr und muß gewartet und gefüttert werden wie ein kleines Kind. Die Sprache ist nur noch ein unverständliches Stammeln. Der Kranke wird nahezu vollkommen unempfindlich, verliert die Möglichkeit der selbständigen Bewegung und kann weder gehen, noch stehen, noch sitzen. Der Ausgang ist regelmäßig der Tod. Häufig geht auch die Erkrankung unter dem Bild einer gewöhnlichen Neurasthenie, einer Melancholie oder Manie einher. Die Diagnose sichert der Arzt durch das Konstatieren bestimmter, charakteristischer körperlicher Krankheitszeichen. – Unter den Ursachen der progressiven Paralyse ist in erster Linie die Syphilis zu erwähnen, in zweiter Linie die Arbeitssteigerung und die vielfachen Überreizungen des Gehirns, denen der moderne Mensch so vielfach ausgesetzt ist. Besonders in dem lebhaften Getriebe der großen Städte fordert die Krankheit zahlreiche Opfer, und es ist nachgewiesen, daß dort die p. P. etwa viermal häufiger vorkommt als bei der ländlichen Bevölkerung. Der Krieg mit seiner Anspannung der gesamten Leistungs- und Widerstandsfähigkeit, das Börsenspiel mit seinen Aufregungen, aber auch das moderne soziale und politische Leben mit allen seinen agitatorischen Auswüchsen schafft eine Prädisposition zur progressiven Paralyse. – Zur Behandlung der progressiven Paralyse bedarf der Kranke in den ersten Stadien der Krankheit besonders der Ruhe, Einstellung der Berufstätigkeit, Entfernung aus den gewohnten Verhältnissen und Beschäftigungen sowie einer sorgfältigen körperlichen wie geistigen Diätetik. Im spätern Stadium ist die Verbringung in eine gut geleitete Irrenanstalt notwendig, da die Kranken in ihren Wahnideen oft sich und ihrer Umgebung gefährlich werden können. Vgl. Kraepelin, Psychiatrie (7. Aufl., Leipz. 1904, 2 Bde.); Krafft-Ebing, Die progressive allgemeine Paralyse (in Nothnagels »Handbuch der speziellen Pathologie«, Bd. 9, Wien 1894); »Verhandlungen des zwölften internationalen medizinischen Kongresses zu Moskau«, 1897; Binswanger, Die allgemeine p. P. der Irren (»Deutsche Klinik«, Bd. 6, 1901).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15. Leipzig 1908, S. 428.
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