Tacĭtus, Publius Cornelius

[277] Tacĭtus, Publius Cornelius, der größte röm. Geschichtschreiber, um 55–120, begann seine staatliche Laufbahn unter Vespasian, war unter Domitian Prätor 88, unter Trajan 97 Konsul; später hat er Asien als Prokonsul verwaltet. Ob und wann T. den seinen Namen tragenden »Dialogus de oratoribus«, über[277] die Ursachen des Verfalls der Beredsamkeit in der Kaiserzeit, eine geistvolle, mehr im Ciceronianischen Stil gehaltene Schrift, verfaßt hat, ist eine Streitfrage. Im J. 98 sind verfaßt »De vita et moribus Agricolae«, die Biographie seines Schwiegervaters, und die sogen. »Germania« (»De origine, situ, moribus ac populis Germanorum«), die für uns Deutsche höchst wertvolle Schilderung des damaligen Deutschland. Seine beiden Hauptwerke sind die »Historiae« und die sogen. »Annales« (eigentlicher Titel: »Ab excessu divi Augusti«), erstere in 14 Büchern die Geschichte seiner Zeit von 69–96 n. Chr., letztere, später verfaßt, in 16 Büchern die Geschichte des Julisch-Claudischen Hauses von Augustus' Tode (daher der Titel) von 14–69 enthaltend, so daß beide zusammen die vollständige Kaisergeschichte von Tiberius bis Domitians Tode umfaßten. Von beiden sind nur Teile erhalten, von den Historien die ersten vier Bücher und ein Teil des fünften, nicht volle zwei Jahre, 69 bis 70, umfassend, von den Annalen die ersten sechs (mit einer Lücke zwischen dem fünften und sechsten), Tiberius' Zeit (14–37), und die letzten sechs (zu Anfang und zu Ende unvollständigen) Bücher, Claudius' Regierung und Neros Geschichte 47–68. In beiden Werken herrscht die annalistische Anordnung des Stoffes vor. Sie beruhen auf eingehenden, umfänglichen Quellenstudien und sorgfältiger Kritik, wenn sie auch an eindringlicher Kenntnis aller Verhältnisse, besonders des Militärischen und der Örtlichkeiten, nicht an Thukydides und Polybios heranreichen. Stets bemüht, die innern Gründe der Ereignisse aus den Verhältnissen und den handelnden Persönlichkeiten zu erklären, zeigt T. sich als Meister der Charakterzeichnung und psychologischen Analyse. Den überlieferten Schematismus der annalistischen Form hat er in den »Annalen« mit ergreifenden, meist in düstern Farben gehaltenen Bildern ausgefüllt, die ihn in die Reihe der größten Schriftsteller aller Zeiten stellen. Seinem Versprechen, ohne Parteilichkeit (sine ira et studio) zu schreiben, getreu, strebt er durchaus nach objektiver Darstellung, und fühlt man auch vielfach seine subjektive Stellung zu den Ereignissen durch, so darf ihm doch nie absichtliche Färbung und Entstellung vorgeworfen werden, wie es namentlich bezüglich der Schilderung des Tiberius geschehen ist (vgl. Sievers, Studien zur Geschichte der römischen Kaiser, Berl. 1870; Stahr, Tiberius, 2, Aufl., das. 1873, und in der Übersetzung der ersten sechs Bücher der »Annalen«, das. 1871; Freytag, Tiberius und T., das. 1870). Voll Bewunderung für Roms ehemalige Größe, ist T. im Herzen Republikaner, aber ebenso überzeugt, daß das gegenwärtige Rom wegen des Sittenverfalls die Republik nicht ertrage. Im Fortschritt seiner Schriftstellerei wird sein unnachahmlicher Stil immer feierlicher und pathetischer, zeigt zunehmende Neigung zu rhetorischer Färbung und Annäherung an poetischen Ausdruck und malt in ausdrucksvollster Kürze Tatsachen und Situationen, für deren Darstellung andre der ausführlichsten Beschreibung bedürften. Neuere Gesamtausgaben von Ritter (Bonn 1834–36, 2 Bde.; Cambridge 1848, 4 Bde.), Orelli (Zür. 1846–48, 2 Bde.; neubearb., Berl. 1877–95); Textausgaben von Halm (4. Aufl., Leipz. 1883), Nipperdey (Berl. 1871–76, 4 Bde.), Joh. Müller (2. Aufl., Leipz. u. Wien 1902–06, 2 Bde.); Einzelausgaben: der Annalen von Nipperdey-Andresen (9. u. 5. Aufl., Berl. 1892, 2 Bde.) und Dräger-Becher (Leipz., 2 Bde.), der Historien von Heräus (4. Aufl., das. 1899, 2 Bde.) und Wolff (Berl. 1886 ff.); des »Dialogus« von Michaelis (Leipz. 1868), Andresen (3. Ausg., das. 1891), Gudeman (Boston 1894), Baehrens (Leipz. 1881), John (Berl. 1899); des »Agricola« von Wex (Braunschw. 1852), Kritz (3. Aufl., Berl. 1874), Urlichs (Würzb. 1875), Dräger (4. Aufl., Leipz. 1884), Gudeman (Berl. 1902); der »Germania« von Haupt (2. Ausg. von Müllenhoff, das. 1873; Kommentar in Müllenhoffs »Deutscher Altertumskunde«, 4. Bd., das. 1900), Schweizer-Sidler (6. Aufl. von Schwyzer, Halle 1902), Holder (Leipz. 1878), Baumstark (das. 1875–80, 2 Bde.), Zernial (2. Aufl., Berl. 1897), Wolff (Leipz. 1896), J. Müller (2. Aufl., Wien 1900). Übersetzungen von Gutmann (4. Aufl., Stuttg. 1869, 5 Bde.) und Roth (4. Aufl., Berl. 1888); »Lexicon Taciteum« von Gerber und Greef (Leipz. 1903); »Onomasticon Taciteum« von Fabia (Par. 1900). Vgl. Urlichs, De Taciti vita et honoribus (Würzb. 1879); Fabia, Les sources de Tacite dans les Histoires et les Annales (Par. 1893); Leo, Tacitus (Götting. 1896); Boissier, Tacite (2. Aufl., das. 1904); Dräger, Über Syntax und Stil des T. (3. Aufl., Leipz. 1882).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 277-278.
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