Zwerg

[1040] Zwerg, ein Mensch, der auffallend unter dem Minimalmaß seiner Rasse oder seines Stammes zurückbleibt. Für Mitteleuropa beginnt das Zwergentum bei etwa 100–105 cm Körperlänge, den Übergang zur normalen Größe bilden die zwerghaften Gestalten bis 140 cm Körperlänge. Durchaus pathologisch ist der kretinistische Zwergwuchs, der meist mit Idiotie und Kropf verbunden ist. Zwerge stammen in der Regel von normalen Eltern ab, werden meist sehr klein und haben oft normale Geschwister. Bisweilen schließt bei normal gebornen Kindern das Wachstum schon im Lauf der ersten Lebensjahre ab. Meist sind bei Zwergen Kopf und Bauch zu groß, Arme und Füße verkürzt, es erhält sich ein kindlicher Habitus. Oft sind Rücken und Extremitäten verkrümmt, letztere sehr dick oder abnorm dünn. Die Fortpflanzungsfähigkeit fehlt oder ist sehr beschränkt. Die Muskelkraft der Zwerge ist meist sehr gering, Neigung zu Zorn, Bosheit, Eifersucht soll bei der Mehrzahl angetroffen werden; sie altern früh und sterben bald. Über die Ursache des Zwergwachstums ist wenig bekannt. Das geringe Gewicht bei der Geburt deutet auf Entwickelungsstörungen beim Embryo, vielleicht auf Einflüsse bei der Empfängnis; fötale Rachitis mit beschleunigter Verknöcherung, mit geringer Knorpelwucherung und abnormer Verdichtung des Knochengewebes scheint eine Hauptrolle zu spielen. Auch bei normal gebauten Kindern kommt Rachitis neben Störungen in der Entwickelung des Großhirns (chronische Gehirnwassersucht) in Betracht. Der kleinste Z., von dem glaubwürdige Nachrichten vorliegen, maß 42 cm und wurde 37 Jahre alt. Bei den Römern wurden Zwerge zu mancherlei Verrichtungen, bisweilen selbst, des Kontrastes willen, bei Fechterspielen gebraucht. Im deutschen Mittelalter galten Zwerge wie Krüppel weder für lehns- noch erbfähig, mußten aber von ihren nächsten Verwandten, die statt ihrer erbten, ernährt und verpflegt werden. In den Zeiten der Hofnarren dienten Zwerge zum Vergnügen bei Höfen und mußten bei Tisch die Gäste belustigen. Noch im 18. Jahrh. fehlte an den deutschen Höfen selten ein solcher Kammerzwark, der auch bisweilen die Rolle eines Hofnarren spielte. Peter d. Gr. von Rußland versammelte die Zwerge seines Reiches an seinem Hof und veranstaltete die bekannte Zwergenhochzeit. Vgl. Bollinger, Über Zwerg- und Riesenwuchs (Hamb. 1884); Arendes, über Zwergbildung (Helmst. 1886).

Eine wichtige Stelle nehmen die Zwerge in der Mythologie, besonders in der germanischen, ein. Sie gehören zu den Dämonen und sind als Personifikation der im Innern der Erde wirksamen Naturkräfte anzusehen; daher befördern sie z. B. das Wachstum der Pflanzen (vgl. den Mythus von dem Goldhaar der Sif). Besonders aber sind sie Erzeuger und Bearbeiter der edlen Metalle, weshalb sie als die kunstvollsten Schmiede dargestellt werden (Odins Speer Gungnir und Thors Hammer Miolnir sind nach der nordischen Sage von ihnen verfertigt). Gewöhnlich werden die Zwerge als mißgestaltet gedacht. Sie stehen unter eignen Königen (Laurin, Alberich) und wohnen im Innern der Erde, in Höhlen und Klüften; daher nennt man noch heute in Island das Echo die Zwergensprache (dvergmál). Unsichtbar machen sie sich durch die Tarnkappe (s. d.), einen zauberischen Mantel. Wer einem Z. die Tarnkappe abgewinnt, erwirbt damit die Herrschaft über ihn und durch Anlegung der Tarnkappe Unsichtbarkeit und erhöhte Stärke. Haben aber die Zwerge die Macht, den Menschen zu nützen, so besitzen[1040] sie auch die Macht, zu schaden, und die Mythen und Volkssagen wissen viel zu erzählen, wie sie durch Berührung, Anhauchen oder Blick Krankheiten, z. B. den Weichselzopf, ja selbst Tod bringen können, Wechselbälge statt der Kinder einlegen u. dgl. Oft machen sie auch Gemeinschaft mit den Menschen, die sie mit sich in ihre unterirdischen Bergpaläste nehmen und dort herrlich bewirten, deren Hilfe sie auch häufig in Anspruch nehmen, namentlich bei Geburten, bei Erbteilungen und großen Festen, zu denen sie sich die Benutzung von Sälen erbitten. Geleistete Dienste lohnen sie nicht selten durch Kleinode, die den Häusern und Familien besonders Heil bringen. Übrigens werden die Zwerge zuweilen auch (Verwechselung mit den Elben) als seelische Geister, d. h. als Seelen der Verstorbenen, betrachtet; diese Vorstellung bezeugen z. B. einzelne Namen, die die Zwerge in der deutschen Volkssage führen, wie Üllerken, Ölken, Alken, d. h. die Alten, Ältern. Vgl. Grimm, Deutsche Mythologie; Kuhn, Die Sprachvergleichung und die Urgeschichte der indogermanischen Völker (in der »Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung«, Bd. 4, Berl. 1864); Schwartz, Ursprung der Mythologie (das. 1860, namentlich S. 18, 117, 247); Wohlgemuth, Riesen und Zwerge in der altfranzösischen erzählenden Dichtung (Leipz. 1907).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 1040-1041.
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