Constitutionell

[399] Constitutionell, im weiteren Sinne überhaupt verfassungsmäßig, im engeren denjenigen Ideen entsprechend, welche die Theorie über Begriff u. Wesen einer constitutionellen Monarchie (s. u. Constitution 2) aufgestellt hat. Daher Constitutionelle, Parteiname für Diejenigen, welche diesen Ideen anhängen; Constitutionelle Staaten, solche Staaten, in deren Verfassung diese Ideen verwirklicht sind; Constitutionelles System od. Princip, diese Ideen selbst. Als Muster eines constitutionellen Staates u. Vorbild des constitutionellen Systems wird gewöhnlich die Staatsverfassung Englands aufgestellt, u. gewiß ist, daß, wenn man das constitutionelle Princip nur in der möglichsten Abhängigkeit des Souveräns von den Beschlüssen der Volksvertretung finden will, die englische Verfassung, weil sie hierin am weitesten geht, auch dem Begriffe am meisten entspricht; demnach darf man aber dabei nicht vergessen, daß gerade die englische Staatsverfassung auch in vielen Stücken eine sehr eigenthümliche Ausbildung hat, welche von den constitutionellen Theoretikern des Festlandes meist gar nicht od. nur in sehr geringem Maße berücksichtigt wird. Das constitutionelle System, wie es seit der Französischen Revolution in Frankreich zur Ausbildung gelangte, dort den Verfassungen von 1814 u. 1830 zu Grunde lag u. seit dieser Zeit auch in Deutschland als Zielpunkt der Liberalen Partei aufgestellt wurde, ist daher weit mehr als eine selbständige u. durch theoretische Speculationen erweiterte Idee vom besten Staate, als nur als eine bloße Nachahmung der englischen Verfassungsgrundsätze zu betrachten. Zu[399] ihrer Entfaltung hat diese Theorie selbst sehr verschiedene Systeme zu Wege gebracht, die außer dem einen Punkte, daß sie sämmtliche eine Beschränkung des monarchischen Herrscherwillens durch eine neben demselben gestellte Volksvertretung für nothwendig erachten, meist fast in allen anderen Beziehungen aus einander gehen. Je nachdem dabei entweder der monarchischen Gewalt des Staatsoberhauptes od. umgekehrt den Rechten des Volkes ein größerer Einfluß beigelegt wird, hat man dabei zwischen einem monarchisch-constitutionellen u. einem demokratisch-constitutionellen System (Monarchie mit republikanischen Institutionen) unterschieden. A) Als Grundsätze des monarchisch-constitutionellen Systems kann man folgende betrachten: Der Monarch, wenn er auch die oberste Gewalt im Staate bekleidet, hat mit diesem Rechte auch eine Herrscherpflicht übertragen erhalten, die darauf gerichtet ist, daß er nur gesetzmäßig u. im wohlverstandenen Interesse seiner Unterthanen zu regieren hat. Die Staatsgewalt ist daher in so weit zu beschränken, daß ihr Mißbrauch möglichst erschwert u. so viel, als dies durch Gesetz geschehen kann, unmöglich gemacht werde. Dies geschieht zunächst: a) durch die Verantwortlichkeit der Minister, nach welcher die obersten Räthe des Fürsten demselben so zur Seite stehen, daß sie für alle Regierungsacte des Regenten dem Lande Rechenschaft schuldig sind. Jede Verfügung des Fürsten hat daher die Gegenzeichnung (Contrasignatur) wenigstens Eines Ministers zu tragen. Der Minister übernimmt damit alle Verantwortlichkeit, welche aus der Verfassungswidrigkeit der Verfügung etwa abgeleitet werden kann. So lange freilich keine besonderen Gesetze darüber bestehen, welche Handlungen als Anklagegründe gelten sollen, bleibt diese Verantwortlichkeit selbst nur eine mehr moralische; den eigentlichen Ausbau erhält das System in dieser Richtung erst durch die Creirung eines Staatsgerichtshofes (s.d.), welcher über die wider die Minister erhobenen Anklagen entscheidet. b) Dem Fürsten gegenüber steht als Repräsentantin der Volksrechte die Versammlung der Abgeordneten. Ihre Beschlüsse gelten daher als der rechtlich manifestirte Wille des Volkes, welchen der Fürst möglichst zu beachten hat. Die Versammlung kann je nach der Größe u. der historischen Ausbildung des Staates in einer od. zwei Kammern bestehen. Im letzteren Fall ist die erste Kammer dazu bestimmt, bes. die vorhandenen aristokratischen Elemente in sich aufzunehmen, wogegen die zweite aus allgemeinen, unmittelbar aus den verschiedenen Klassen des Volkes hervorgehenden Wahlen gebildet wird. Beide Kammern stehen rechtlich einander gleich, nur Beschlüsse, welche in beiden Abtheilungen gleichmäßig gefaßt worden sind, vertreten daher den Willen des gesammten Volkes, nicht aber kann Eine Kammer für sich allein darauf Anspruch machen. Bestehen daher Meinungsdifferenzen zwischen beiden, so sind dieselben durch ein besonderes Vereinigungsverfahren auszugleichen, od. es wird vor der Hand angenommen, daß der Volkswille zu einer bestimmten Überzeugung noch nicht gelangt sei. Die Rechte der Abgeordnetenversammlung aber bestehen darin, daß sie der Staatsgewalt gegenüber überall eine gewissermaßen controlirende Thätigkeit auszuüben hat. Alle Gesetze, welche das Eigenthum od. die Personen der Untertbauen betreffen müssen daber ihr regelmäßig zur Mitberathung u. Zustimmung vorgelegt werden; sie hat das Recht der Bewilligung bei neuen Steuern, das Recht der Ministeranklage bei bemerkten Verfassungsverletzungen, die Prüfung der Ausgabe- u. Einnahme-Etats, das Recht, über wichtigere Gegenstände des Staatslebens die Regierung um Auskunft anzugehen, das Recht, Beschwerden u. Petitionen an den Fürsten zu bringen etc. Bei aller dieser Machtstellung ist der Repräsentantenversammlung nicht das Recht eingeräumt, das Staatsoberhaupt irgendwie direct zu einer Maßregel zu zwingen; vielmehr steht demselben gegen die Beschlüsse der Kammern einestheils ein Veto zu, anderentheils das Recht, den Repräsentantenkörper aufzulösen u. eine Neuwahl anzuordnen. Dies ist der Inhalt der sogen. fürstlichen Prärogative. Außerdem stellt das C-e System meist noch c) mehrere allgemeine Sätze als Garantien einer verfassungsmäßigen Regierung auf, wohin namentlich das Recht der freien Meinungsäußerung in Wort u. Schrift, das Recht zur Beschwerde, Unabhängigkeit des Richterstandes u. Verbot der Cabinetsjustiz, die Forderung, daß Niemand seinem ordentlichen Richter entzogen werden darf, Öffentlichkeit der Regierungsbeschlüsse u. landständischen Verhandlungen, Zugänglichkeit der Staatsämter für jeden Staatsbürger ohne Unterschied des Standes u. A. gehören. Im Gegensatz hierzu basirt B) das demokratisch-constitutionelle System wesentlich auf dem Grundsatz der Theilung der Gewalten zwischen Fürst u. Volk. Fürst u. Volk werden dabei als zwei gleichberechtigte Subjecte betrachtet, welche in einem stillschweigenden Vertragsverhältnisse zu einander stehen. Dem Fürsten, als dem Oberhaupt des Staates, bleibt die Executivgewalt zugetheilt; von ihm gehen daher alle Acte der Administration, wenn auch mit den schon erwähnten Beschränkungen der Ministerverantwortlichkeit u. Ministeranklage, Controle über Verwendung der Staatsgelder, Abgabenverwilligung etc. aus; dagegen wird bezüglich der gesetzgebenden Gewalt die Hauptthätigkeit der Repräsentantenkammer als Vertreterin des Volkes zuerkannt. Die Abgeordnetenversammlung gilt daher als Hauptfactor der Gesetzgebung; ihr werden die Gesetze nicht zur Genehmigung, sondern zur Beschlußfassung vorgelegt, sie hat, ebenso wie der Monarch, nach dem Rechte der sogenannten Initiative die Befugniß zu selbständiger Einbringung von Gesetzesvorschlägen, u. bei wiederholt gleichlautenden Anträgen od. Beschlüssen wird dem Fürsten, weil man annimmt, daß durch diese Wiederholung der Wille des Volkes sich genügend ausgedrückt habe, das Recht des Veto versagt. Ausgehend davon, daß jeder Staatsbürger an der Bildung des Volkswillens einen gleichen Antheil habe, gelangt endlich dies System auch meist zu einer viel größeren Summe politischer Berechtigungen für den einzelnen Staatsbürger, als sie das monarchisch-constitutionelle System zuläßt. Das Wahlrecht zu den öffentlichen Ämtern, insbesondere zur Stelle der Volksrepräsentanten, wird jedem selbständigen Bürger ohne Unterschied eingeräumt, jede Abstufung nach Interessen od. Ständen dabei verworfen u. meist ebenso die Scheidung der Abgeordneten in mehrere Kammern gemißbilligt. Bei einer Beurtheilung beider Systeme leuchtet von selbst ein, daß das letztere eigentlich nur dem Namen nach noch als eine Monarchie gelten kann u. weit mehr[400] den Charakter einer republikanischen Verfassung mit einem erblichen Präsidenten an sich trägt. Das Gleichgewicht zwischen den fürstlichen u. Volksinteressen, welches durch die Theilung der Gewalten bezweckt werden soll, muß dabei offenbar früher od. später zum Nachtheil des monarchischen Princips ausschlagen, u. statt einer stetigen Entwickelung des Volkslebens u. der Volkswohlfahrt tritt ein Kampf der Parteien ein, welcher durch seine schwankenden Erfolge leicht zur Untergrabung aller Autorität führen kann. Die Erfahrungen des Jahres 1848 müssen hierfür zum Belege dienen. Für den deutschen Staatenbund ist nach den Bestimmungen der Bundesacte (Art. 13: In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung stattfinden) u. späteren bundesgesetzlichen Bestimmungen (Wiener Schlußacte, Art. 57; Die gesammte Staatsgewalt muß in dem Oberhaupt des Staates vereinigt bleiben u. der Souverän kann durch eine landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden; vgl. auch Art. 2, 3, 5 u. 6 des Bundesbeschlusses vom 28. Juni 1832), entschieden nur das monarchisch-constitutionelle System als gesetzlich zulässig anzusehen. Durch einen neuen Bundesbeschluß vom 23. Aug. 1851 sind die Regierungen verpflichtet, alle seit dem Jahre 1848 diesen Grundsätzen entgegen getroffenen staatlichen Einrichtungen wieder zu beseitigen, u. es erkennt die Bundesversammlung dabei selbst die Nothwendigkeit nicht an, diese Beseitigung auf dem gewöhnlichen, durch die Landesverfassung vorgeschriebenen Wege herbeizuführen.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 4. Altenburg 1858, S. 399-401.
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