Patrimonialgerichtsbarkeit

[749] Patrimonialgerichtsbarkeit (Jurisdictio patrimonialis, Erbgerichtsbarkeit), die Gerichtsbarkeit, welche einer Privatperson im Staate als ein kraft besonderen Rechtstitels erworbenes Recht zusteht. Die P. ist ein Institut des Germanischen Rechtes, welches den Römern ganz unbekannt war. Ihren Ursprung hat man in den meisten Fällen in dem Schutzrechte zu suchen, welcher den Grundherrn über ihre Zinsleute, Hörigen u. Leibeigenen zukam; zum Theil hat sich die P. indessen auch auf anderem Wege, namentlich unter dem Einfluß besonderer Gemeinde-, Hof- u. Markverhältnisse, in Folge ertheilter landesherrlicher Privilegien etc. entwickelt. Sie zerfällt a) in die dingliche P. (Herrschafts-, Guts-, Grundstücksgerichtsbarkeit, J. patrimonialis realis s. praediatoria), welche mit dem Eigenthum an einem bestimmten Grundstück verbunden ist u. mit dem Eigenthume an diesem Grundstücke auf jeden Erwerber desselben übergeht; u. b) in die persönliche P. (J. patrimonialis personalis), welche nur einzelnen juristischen od. physischen Personen od. ganzen Familien zusteht. Zu der ersten Art gehört bes. die P. der Rittergüter, Standesherrschaften, zu der zweiten die Gerichtsbarkeit der Städte, Universitäten, Stifter u. dgl. In der Regel steht die P. blos in unterster Instanz zu; nur bei größeren Standesherrschaften kommt es bisweilen vor, daß sich die P. auch auf die zweite Instanz erstreckt. In jedem Falle ist die P. der höchsten Aufsicht u. der Gesetzgebung des Staates nicht minder unterworfen, als die vom Staate unmittelbar angestellter Richter. Es steht daher der Staatsgewalt das Recht zu, Mißbräuche, welche bei der P. vorkommen, zu rügen u. selbst die Entziehung des Rechtes zur P. auszusprechen, wenn diese Mißbräuche von Erheblichkeit gewesen sind. Der Inhaber der P. (Patrimonialgerichtsherr) ist als solcher befugt, seine Gerichtsbarkeit selbst auszuüben, nur wenn ihm die Qualification dazu abgeht od. bestimmte Staatsgesetze dies vorschreiben, muß er sie durch eigene von ihm bestellte Rechtsgelehrte (Gerichtshalter, Gerichtsverwalter, Justitiarien, Gerichtsdirectoren), welche er aus den zum Richterberuf qualificirten Juristen zu wählen hat, verwalten lassen. Meist hat daneben der Staat sich auch noch ein Bestätigungsrecht vorbehalten. Über die juristische Auffassung der Stellung eines solchen Gerichtsverwalters herrscht gemeinrechtlich Streit. Vielfach ist dabei der Gesichtspunkt eines römischrechtlichen Mandatcontractes zu Grunde gelegt worden; doch wird die Stellung auch als eine ganz dem Staatsdienst analoge betrachtet. Daraus ergibt sich, daß der Patrimonialgerichtsherr den Patrimonialrichter nicht willkürlich entlassen darf; daß die dem Patrimonialrichter ertheilte Vollmacht durch den Tod des Gerichtsherrn nicht erlischt, u. daß auch die Verantwortlichkeit des Gerichtsherrn bei Verfehlungen des Justitiars nicht weiter, aber auch nicht enger ist, als sie bezüglich der vom Staate angestellten Richter für den Staat besteht. In neuerer Zeit ist die P., weil dieselbe mit den erhöhten Ansprüchen an die Justizverwaltung, namentlich mit manchen Grundsätzen des neueren Proceßrechtes, insbesondere mit der Öffentlichkeit, Mündlichkeit, dem Anklageverfahren, so wie mit der angestrebten Collegialität der Untergerichte nicht wohl vereinbart ist, fast in den meisten deutschen Staaten aufgehoben u. von dem Staate übernommen worden. In Württemberg wurde sie schon 1809, in Baden 1813, in Braunschweig durch Verordnung vom 26. März 1823, in Österreich durch Gesetz vom 7. Septbr. 1848, in Preußen durch Verordnung vom 2. Jan. 1849, in Baiern durch Gesetz vom 4. Juni 1848, in Hannover zum größten Theil bereits durch Verordnung vom 13. März 1821 u. gänzlich durch Gesetz vom 8. Nov. 1858, in mehreren anderen Staaten (Oldenburg, Reuß j. L., Waldeck, Koburg-Gotha, Altenburg) nach 1848, u. zwar meist ohne Entschädigung, aufgehoben. Vgl. Holler, Geschichte u. Würdigung der deutschen P. mit besonderer Rücksicht auf Baiern, Bamb. 1809; Wachsmuth, Versuch einer Darstellung des Patrimonialgerichtsverfahrens der Rittergüter nach Gemeinem u. Sächsischem [749] Rechte, Lpz. 1809; Naumann, Die P. im Lichte unserer Zeit, ebd. 1835; Wirschinger, Darstellung der Entstehung, Ausbildung u. des jetzigen rechtlichen Zustandes der P. in Baiern, München 1837; Hesse, Ansichten über P., Altenb. 1842.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 12. Altenburg 1861, S. 749-750.
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