Staatsvertrag

[646] Staatsvertrag, die zwischen zwei od. mehren Staaten nach den Grundsätzen des Völkerrechts abgeschlossene Übereinkunft, durch welche die contrahirenden Staaten entweder eine Verfügung über Rechte od. Bestandtheile der Staatsgewalt treffen od. über solche Gegenstände mit einander pactiren, hinsichtlich deren sie keinem inneren Staatsgesetz u. Richter unterworfen sind. Verträge, welche bloße Privatrechte der Souveräne betreffen u. rücksichtlich deren der Souverän einer richterlichen Instanz seines eigenen Staates unterworfen ist, ebenso Verträge, welche nur mit den Unterthanen geschlossen werden, mögen sie auch Rechte der Staatsgewalt betreffen, sind nicht als eigentliche Staatsverträge zu betrachten; die ersteren unterfallen den Grundsätzen des Privatrechts, die letzteren sind als Gesetze anzusehen u. ihre Gültigkeit nach den Normen des inneren Staatsrechts zu beurtheilen. Doch können auch beide Arten von Verträgen durch die Verbindung mit völkerrechtlichen Verträgen eine gemischte Natur erlangen. Die wesentlichen Bedingungen eines gültigen S-s sind ein zulässiger Inhalt, Dispositionsfähigkeit u. Willensfreiheit der contrahirenden Personen. Als ein zulässiger Inhalt kann nicht das angesehen werden, was physisch, sittlich od. rechtlich unmöglich ist. Die Dispositionsfähigkeit kommt für Staatsverträge nur den machtvollkommenen Repräsentanten der contrahirenden Staalsgewalten od. deren ausdrücklich autorisirten Stellvertretern zu; was ein unbefugter od. freiwilliger Geschäftsführer contrahirt hat, kann erst durch nachfolgende Ratification des Berechtigten Gültigkeit erlangen. Inwieweit hierbei in einem constitutionellen Staat auch die Zustimmung der Stände erforderlich ist, hat sich nach der inneren Verfassung des Staates zu beantworten. Der Regel nach kann diese Zustimmung, da der Abschluß[646] eines S-s nur ein Regierungsact ist, nicht als eine Vorbedingung für die Gültigkeit des S-s betrachtet werden; wohl aber gebührt den Ständen ein Ablehnungsrecht, wenn durch den S. den Unterthanen Lasten auferlegt, überhaupt Verhältnisse berührt werden, in denen nur durch, mit ständischer Zustimmung erlassene Gesetze eine Abänderung eintreten darf. Die nöthige Willensfreiheit wird durch Zwang, Betrug u. Hinterlist aufgehoben; nur kann ein schon vorhandener rechtmäßiger Zustand des Zwanges od. der Unfreiheit den Vertrag, welcher zur Beseitigung desselben abgeschlossen wird, nicht ungültig machen, daher z.B. nicht eine rechtmäßige Kriegsgefangenschaft des Souveräns od. die bereits erfolgte Eroberung eines ganzen Staates, wovon der S. eine Befreiung gewähren soll. Eine bestimmte äußere Form ist völkerrechtlich für den Abschluß der Staatsverträge nicht erforderlich. Bei wichtigeren Verträgen gehen dem wirklichen Abschluß gewöhnlich sogen. Tractaten voraus, d.h. vorläufige Verabredungen über die Haupt- u. Zielpunkte der demnächst abzuschließenden Convention. Für den eigentlichen Abschluß ist eine solenne Beurkundung insbesondere dann gewöhnlich, wenn der S. zunächst durch beiderseitige Bevollmächtigte zu Stande gebracht wurde. Die Auswechselung der gegenseitigen Ratificationen bildet dann zugleich die Beglaubigung dafür, daß der Bevollmächtigte die Grenzen seines Auftrages nicht überschritten habe. Sofern aber nichts Anderes verabredet, insbesondere die Ratification nicht ausdrücklich vorbehalten worden ist, ist der S. schon von dem Zeitpunkt an gültig wo der übereinstimmende Wille der beiden contrahirenden, gehörig legitimirten Bevollmächtigten vorliegt. Mit Rücksicht auf die größere od. geringere Bedeutung der einzelnen Staatsverträge unterscheidet man Haupt- u. Nebenverträge, desgleichen Präliminar- u. Definitivverträge, von denen die ersteren nur einen provisorischen Zustand festsetzen od. auch nur vorläufige Verabredungen über den Abschluß des Hauptvertrages enthalten, letztere dagegen dann die definitive Regelung betreffen. Erstreckt sich der Vertrag über mehre Bestimmungen, so wird bei der Redaction der Vertragsurkunde gewöhnlich die Artikelform angewendet. Man unterscheidet dann Haupt- u. Nebenartikel, ferner Separatartikel, welche der Hauptvertragsurkunde in Form eines Zusatzes od. Anhanges (Additionalacte) od. eines Nebenvertrages beigefügt worden sind, u. geheime Artikel, wenn für dergleichen Zusatzbestimmungen eine wenigstens temporäre Geheimhaltung festgesetzt worden ist. Ihrem Gegenstande nach zerfallen die Staatsverträge in solche, welche nur bestimmte Leistungen einer Sache od. eines Rechtes u. die Feststellung dieses besonderen Rechtes bezwecken, u. solche, denen die Gründung eines dauernden Gesellschaftsverhältnisses als Absicht zu Grunde liegt. In die erste Kategorie gehören Abtretungs-, Verzichts-, Grenz-, Theilungs-, Erb-, Handels- u. Schifffahrtsverträge, Rechtspflegeconventionen etc.; in die zweite die Freundschaftsbündnisse (Alliances), wodurch sich zwei od. mehre Staaten zu einem gemeinsamen politischen Verhalten, z.B. zur Erhaltung der Neutralität in Bezug auf eintretende Kriegszustände, zu Bewachung einer gewissen Grenze (Barrièrenverträge), zur Abwehr ungerechter Angriffe od. zur gemeinsamen Durchsetzung gewisser Ansprüche im Wege des Krieges (Defensiv- u. Offensivalliancen) verbinden, u. die eigentlichen Conföderationen, deren Zweck die Begründung eines engeren Staatensystemes (s.d.) mit bleibenden Anstalten zur fortgesetzten Erreichung eines od. mehrer gemeinsamer Zwecke bildet. Jeder in rechter Form u. Weise zu Stande gekommener S. verpflichtet zur vollständigen redlichen Erstellung der übernommenen Verbindlichkeiten, u. diese Verpflichtung geht, insofern nicht rein persönliche Leistungen des einen Souveräns den Gegenstand des S-s gebildet haben, auch auf die Regierungsnachfolger über. Die Nichterfüllung von der einen Seite gibt dem anderen Staat das Recht die Erfüllung durch die völkerrechtlichen Gewaltmaßregeln, nöthigenfalls durch Krieg zu erzwingen. Mit dem Eintritt eines allgemeinen, nicht blos partiellen Kriegszustandes zwischen den contrahirenden Staaten werden alle Staatsverträge ohne Weiteres suspendirt, insofern nicht ein S. ausdrücklich auch für die Dauer eines Krieges geschlossen sein sollte. Außerdem erlischt die Kraft eines S-s mit Eintritt einer beigefügten Resolutivbedingung, Ablauf der vorbestimmten Zeit, Aufkündigung, wenn letztere vorbehalten war, od. gänzlichen Untergangs des Gegenstandes, worüber contrahirt worden. Als Bestärkungsmittel der Staatsverträge kommen die Bestellung von Bürgen, Geißeln, so wie die Garantieverträge (s.u. Garantie) vor.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 16. Altenburg 1863, S. 646-647.
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