Wendische Sprache

[93] Wendische Sprache, gehört dem Slawischen Sprachstamm, u. zwar dem nordwestlichen Zweig desselben an, daher sie dem Polnischen u. Böhmischen näher steht, als dem Russischen u. Illyrischen. Sie wird noch jetzt in der Lausitz von den Nachkommen der alten lausitzer Wenden, meist auf dem Lande, gesprochen u. zerfällt in den, weniger entwickelten, Niederlausitzischen u. den Oberlausitzischen Dialekt; letzter theilt sich wieder in den evangelischen Dialekt, um Budissin, den katholischen, bei Kamenz u. im Nordwesten, u. den nordöstlichen. Die Verschiedenheiten derselben beruhen größtentheils auf der Aussprache. Der Wortschatz in der W-n S. ist fast zur Hälfte mit deutschen, freilich sehr verstümmelten Wurzeln gemengt. Die wendische Orthographie ist von jeher sehr unbestimmt gewesen; zwei Parteien, die Katholischen u. Evangelischen, haben auch hierin sich beharrlichen Widerstand geleistet. Ein Versuch zur Einigung u. Verbesserung ist in neuerer Zeit von Jordan gemacht worden. Im Druck wurden bisher deutsche Buchstaben angewendet. Vocale sind: a, o, u, e, i, ó (zwischen o u. u), ė (wie langes i) u. y (dumpfes i). Consonanten sind 32: j, w, ẃ, b, ḃ, p, ṕ, m, ḿ, n, ń, l, ł, r, ŕ, z, ž, s, š, d, dz, dž, ds, t, c, č, ts, h, ch, g, k. ł lautet wie w, dz wie ds, wie dsch, z wie weiches s, ž wie weiches sch, š wie sch, c wie z, č wie tsch, č wie scharfes tsch, ds u. ts wie tz, ch wie k. Die Consonanten sind ihrer grammatischen Natur nach theils harte, theils weiche, wozu sämmtliche gestrichene gehören, theils indifferente, nämlich w, f, p, b, m, n, ds, ts. Die Diphthongen werden durch Zusammensetzung mit j gebildet u. in der Aussprache etwas gedehnt; es sind folgende: aj, ój, uj, ej, ėj, yj, ij. Einen Artikel gibt es nicht; Geschlechter sind drei. Die meisten auf Consonanten endigenden Substantiva sind männlich, die auf a u. i weiblich, die auf o u. e sächlich. Declinationen gibt es sieben, zwei für das Masculinum, drei für das Neutrum u. zwei für das Femininum. Die Unterabtheilungen sind durch die Beschaffenheit der Endconsonanten der Wurzel bedingt. Zu den beiden gewöhnlichen Numeris kommt ein Dual hinzu. Casus sind sieben: Nominativ, Accusativ, Genitiv, Dativ, Localis, Instrumentalis, Vocativ. Die Adjectiva endigen auf y, i (männlich), a (weiblich), o u. e (sächlich). Das Adjectiv hat dieselbe Declination, wie das Substantivum, beide Redetheile haben auch die Eigenthümlichkeit gemein, daß im Masculinum bei vernünftigen Geschöpfen der Accusativ gleich dem Genitiv ist, bei unvernünftigen Geschöpfen im Plural gleich dem Nominativ, bei leblosen Gegenständen immer gleich dem Nominativ. Die Form für den Comparativ ist iši; um den Superlativ zu bilden, wird dem Comparativ die Sylbe naj vorgesetzt. Aus dem Adjectiv entsteht das Adverbium durch Verwandlung des y od. i in e od. y od. o,[93] wobei oft die Consonanten Veränderungen erleiden. Die persönlichen Pronomina sind wie gewöhnlich unregelmäßig, die übrigen folgen dem Adjectiv. Die Zahlen von 1_–10 lauten: jeden, dwaj, tsio, štyro, péco, šėsćo, sedyḿo, wosyḿo, džeẃeco, džesaćo, 100 sto, 1000 tawzynt. Die Grundformen des Zeitworts sind der Infinitiv u. die erste Person des Präsens im Singular. Die W. S. unterscheidet deren sechs: u u. ć, nu u. nyć, u. u. eć, u u. ić, am u. ać (eć), uju u. ować. Das reflexive Genus des Verbum wird durch so sich, das Passivum wird theils auf dieselbe Weise, theils durch Zusammensetzung des Particips Perfecti mit dem Hülfszeitwort ausgedrückt. Jedes Verbum kann im Allgemeinen einer dreifachen Modification unterliegen, je nachdem die Handlung od. der Zustand schnell vorübergehend, dauernd od. wiederholt ist, daher unterscheidet man der Form nach einen Momentativ, Durativ u. Frequentativ, z.B. lehnyć so sich schnell niederlegen, ležeć liegen, léhać so sich öfters niederlegen. Tempora sind: Präsens, Imperfectum, Futurum, Perfect, Plusquamperfect. Modi: Imperativ, Infinitiv, Conjunctiv, Optativ; außerdem gibt es ein Gerundium u. drei Participia für das Präsens u. Perfect. Activi u. das Perfect. Passivi. Das Perfectum u. Plusquamperfectum, auch eine zweite Form des Futuri werden durch Zusammensetzung der Participia mit dem Hülfszeitwort sym, ich bin, gebildet. Die Participia erhalten die den Adjectiven zukommenden Geschlechtsbezeichnungen. Die slawische Besonderheit, das als Prädicat dienende Substantiv od. Adjectiv in den Instrumentalis zu setzen, findet auch in der W-n S. statt. In negativen Sätzen wird statt des Accusativs der Genitiv gebraucht In der Anordnung des Satzes behauptet das Subject die erste Stelle, ihm folgt das Prädicat u. dann die übrigen Bestimmungen. Nicht zusammengesetzte Zeitwörter werden jedoch häufig an das Ende des Satzes gestellt. Das Hülfszeitwort sym ändert seine Stellung willkürlich, immer aber wird es unmittelbar nach den Conjunctionen gesetzt In der Frage geht das Verbum voraus, ebenso in Bedingungssätzen mit der Partikel li. Der Anfang des Vaterunser lautet: nasch wotze, kiž szy ty we nebeszach sswecžene budž twoje meno, d.h. unser Vater. welcher bist du in Himmeln, geheiligt sei dein Name. Gramatiken lieferten: Jakob Ticinus, Principia linguae Vendicae. Prag 1679, 1782: Matthäi, Wendische Grammatik, Bautzen 1721 (mit Wörterbuch); Hauptmann (Niederlausitzisch), Lübben 1761; A. Seiler (nach dem Budissiner Dialekt), Bautz. 1830; Jordan (Oberlausitzisch), Prag 1841; F. Schneider (des katholischen Dialekts), Bautzen 1853 Wörterbücher schrieben: Megiser, Thesaurus polyglottus, Frankf. 1603 (enthält niederlausitzische Wörter); Bose (nach dem oberlausitzer Dialek:), Grimma 1840. Schmaler, Wendisch-deutsche Gespräche nebst einem wendisch-deutschen u. deutsch-wendischen Wörterbuch, Bautz. 1841; Derselbe, Deutsch-wendisches Wörterbuch; Pfuhl u. Jordan (Oberlausitzisch), Lpz. 1844 ff.; Zwahr (Niederlausitzisch), Spremb. 1846 f., mit Nachträgen in Schmalers Jahrbüchern für slawische Literatur, Kunst u. Wissenschaft, Bautzen 1855. Vgl. Frisch, De dialectis Venedorum in Lusatia et in Ducatu Luneburgico, Berl. 1730; G. Körner, Philosophisch-kritische Abhandlung von der W-n S., Lpz. 1766; Hortzschansky, Versuch über die Sprache der Wenden in der Oberlausitz, in der Lausitzer Monatsschrift, Görl. 1797; Schmaler, Die dialektischen Unterschiede in der W-n S., in Haupt's u. Schmaler's Volksliedern der Wenden in der Ober- u. Niederlausitz, Grimma 1841–43, 2 Bde.; Schmaler, Kurze Darstellung der allgemeinen wendischen Rechtschreibung, Bautzen 1843, u.a.m.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 19. Altenburg 1865, S. 93-94.
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