Turin

[221] Turin. Mit balsamischen Fittigen weht nach des Tages Sonnenbrand endlich die milde Vespertina über Turin; Italiens Blumen entsenden von den Balkonen nun ihre lieblichsten Wohlgerüche; und Piemonts reizende Töchter greifen zum französischen Modekleide, um zu lustwandeln in der Kühle des Abends. Wie lind und labend wehen die Westwinde! Wie zum Abschied beugt sich noch einmal die Sonne über die stolze Citadelle und beleuchtet auf der nahen Hügelkette, die sich amphitheatralisch oberhalb des Po erhebt, mit ihren letzten Strahlen die unzähligen Landhäuser und malerischen Gärten, den reizenden Weinberg der Königin (la vigna della Regina), wie dieß königl. Lusthaus genannt wird, darüber das große Kapuziner- und Kamaldulenserkloster, und auf dem steilsten und höchsten dieser Hügel das prachtvolle, von Gold, Marmor und Bronze strahlende Kloster Superga mit der Begräbnißkapelle der königlichen Familie, welches in der ganzen Umgebung von T. dem Auge als ein glanzvoller Punkt erscheint, während hoch über dasselbe wie eine silberne Krone die beeiste Alpenkette hineinschaut. Eben wandeln wir auf T's schönster Straße, der 1100 Schritt langen und 25 Schritt breiten Contrada della Posta. Fast nur palastartige Gebäude grüßen sich von beiden Seiten hier mit ihren marmornen Augen; glühende Augen schauen von den Balkonen herab, unter denen nicht selten herrliche Mosaik von bunten Steinen strahlt. Unter den Arkaden wandelt jetzt die lebenslustige Menge; – die turiner Cavaliere im englischen Stutzeranzuge, redend à l'anglais von Pferden und Wetten und die französisch redenden Frauen mit rein italienischer Anmuth, mit der Anmuth der Einfachheit. Auf dem trefflichen Pflaster rasseln die Staatskarossen der vornehmen Welt auf und nieder; – denn die Poststraße ist die belebteste der Stadt der Corso von T. Ueberhaupt[221] zeichnet sich diese Hauptstadt von Piemont und dem Königreiche Sardinien durch das reiche Volksleben auf ihren herrlichen Straßen aus. Letztere, namentlich in der Neustadt mit den schönsten Gebäuden geziert, laufen fast alle geradlinig, sich in rechten Winkeln durchkreuzend, und Straßen wie die Contrada del Po, nuova, di Dora grossa, sowie die schon erwähnte Poststraße, werden mit Recht zu den schönsten Europa's gerechnet. Zwischen ihnen breiten sich treffliche Platze aus, wie der Platz San Carlo, gewöhnlich Place d'Armes genannt, ein regelmäßiges, von gleichgebauten Palästen umgebenes Viereck mit geräumigen Arkaden für die Fußgänger. Hier liegt der Palast, den einst der große Alfieri bewohnte. In der Mitte des »königlichen Platzes« zwischen der Po- und Dorastraße erhebt sich der »alte Palast« (Castello reale) von düsterm, abschreckendem Aeußern, festungsartig vom Herzog Amadeus VIII. im J. 1416 erbaut, doch mit einer sehr schönen, sehenswerthen Treppe geschmückt. Auf dem Platze Carlin stehen reiheweis die beladenen Frachtwagen aufgestellt, um auf ungeheuern Schnellwagen ohne abzuladen gewogen zu werden; und der Kräuterplatz, ein ähnliches mit Bogengängen umgebenes Viereck, ist der Verkaufsplatz für alle Arten von Eßwaaren. Am Ende der Poststraße liegt der königliche Palast (palazzo reale), ein wahrhaft imposantes, im Innern prachtvoll verziertes Gebäude mit einer schönen Gemäldesammlung, und mit der marmornen Reiterstatue Victor Amadeus I. auf der Treppe. Auf dem von Bogenhallen umringten Metropolitanplatze prangt die stolze Metropolitankirche St. Johannis des Täufers mit ihrer schönen Façade, ihrem Schaße von Gemälden aus der piemontesischen Schule, kostbaren Statuen, eine Mutter Gottes von Albrecht Dürer und der berühmten Kapelle des heil. Schweißtuchs, welche Reliquie in der Mitte des prachtvoll ausgeschmückten Altars in einem großen silbernen Behältniß aufbewahrt wird, während die Kapelle selbst, ganz mit schwarzem Marmor bekleidet, auf 30 Säulen von schwarzem Marmor[222] mit Sockeln und Kapitälern von reich vergoldeter Bronze ruht. Schön ist auch die heilige Geistkirche, in welcher J. J. Rousseau zum kathol. Glauben übertrat; nicht minder beachtenswerth die Dreieinigkeits-, Theresen-, Domenico- und besonders auch die Liebfrauenkirche, welche der Pobrücke gegenüber 1814 nach dem Modell des Pantheon in Rom erbaut wurde. Die Pobrücke selbst, sowie die aus einem einzigen kühnen Bogen gespannte Brücke über die Dora können den herrlichsten Bauwerken beigezählt werden; und öffentliche Gebäude, wie der mit herrlichen Granitsäulen verzierte Senatspalast, das Zeughaus mit seiner prächtigen Façade, der Palast der Akademie der Wissenschaften und das Universitätsgebäude etc. bilden den reichverzierten Spitzenschleier der königlichen Donna T., welche übrigens nicht blos mit dem heiligen Gesicht einer Madonna und dem ernsten Denkerantlitz in Kirchen und Palästen weilt, sondern sich auch gern lustweilt in den vier Theatern, dem großen oder königlichen, dem neuen, und den Theatern Carignan und d'Argennes. Hat sie nicht auch genugsam zu warten und pflegen als pia Madre, gehe sie nun in das Lyceum oder in die königl. Militärschule, in das erzbischöfliche Seminar, in die Malerakademie, die Accademia Filarmonica mit der Gesangfreischule, oder in das Institut Albergo di Virtù zur Ausbildung von Handwerkern, auf die Sternwarte, den botanischen Garten Valentino, den reichen Pflanzengarten St. Sebastiano; oder in das Museum im Erdgeschoß des Theater d' Argennes mit seinen seltenen Kunstschätzen, in die köstlichen Sammlungen der Akademie, oder in die Gemäldegalerie des Marchese de Prie, die Medaillensammlung des Abbate Incisa und das Gemmencabinet des Grafen de la Turbie etc.? Liegen ihr nicht süße Pflichten ob als madre della Carita, nur zu sorge für das »große königl. Hospital,« in welchem drittehalbtausend Hilfsbedürftige aufgenommen werden, für das Rosinenhospiz zur Erziehung armer Mädchen; für das Irren-, Zucht-, und die 2 Waisenhäuser? Kaum kann sie als Inspectrice fertig[223] werden, denn 135,000 Ew. wogen in ihren Straßen auf und nieder; der Po will seine Dampfladung haben an Wein, Seide, Tuch, Papier, Strümpfen, Tüchern, Porzellan, Fayence, Wagen, Gewehren oder Leder, Tapeten, Wachstuch, Marmor, Holzwaaren etc.; reichen doch Venedig, Triest und die ionischen Inseln zum Wechselverkehr ihre Schwesterhände herüber! Und die zahllosen Fremden mehren noch ihre mütterlichen Mühen, die Fremden, die ihrerseits wiederum ihre ganze Aufmerksamkeit der italischen, marmorgekrönten Donna und der regsamen, geistreichen Bevölkerung derselben schenken.

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Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 10. [o.O.] 1838, S. 221-224.
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