Physiologie

[110] Physiologie (v. gr.), 1) bei den Alten Untersuchung der Natur u. der Beschaffenheit der natürlichen Körper; jetzt versteht man darunter 2) die Lehre von der Entstehung, dem Wesen, der Beschaffenheit u. den Functionen der organischen, bes. der thierischen Körper u. in engstem Sinne des belebten menschlichen Körpers; daher gibt es eine Pflanzen-, Thier- u. Menschenphysiologie. Dem Studium der P. muß das der Anatomie, Physik, Mathematik, Chemie u. der Naturgeschichte vorausgehen. Die Ordnung des Vortrages der P. in Lehrbüchern ist sehr von einander abweichend, die natürlichste Darstellung bleibt die, wobei man mit der Erzeugung des lebendigen Körpers anhebt u. mit dem Tode desselben schließt, in der Lehre von der Entfaltung des Lebens aber die einfachsten Lebensphänomene den höheren u. zusammengesetzteren vorausgehen läßt, auch diejenigen Verrichtungen, welche ihrer Natur nach in näherer Beziehung mit einander stehen, im Zusammenhang vorträgt.

Wie die Anatomie findet sich die P. unter den griechischen Philosophen vor Aristoteles, aber erst seit Aristoteles gründet sich ihre Lehre der P. auf wirkliche u. treue Beobachtung der Natur. Die erste umfassende, auf Zergliederung u. Naturbeobachtung[110] gegründete Bearbeitung unternahm Galenos, welche, in ihrem Wesen ganz materialistisch (indem auch die den Körper regierenden Kräfte als Erzeugnisse der Körperorgane dargestellt wurden), sich auch unter den späteren Griechen u. unter den Arabern u. Arabisten erhielt. Erst nach Theophrastus Paracelsus wurde die Galensche P. in ihren Grundfesten erschüttert, indem dieser ihr, wiewohl auf sehr schwankenden Grund. agen, eine theosophistische P. entgegen setzte, welche jedoch von van Helmont besser gestaltet, zugleich aber auch mit chemischen Grundsätzen in Verbindung gebracht wurde. Dieses chemisch-mystische System der P. erhielt an der von Descartes ausgehenden Philosophie eine Stütze; indessen entwickelte sich dadurch ein neues System, welches alle Erscheinungen des gesunden u. kranken Körpers aus dem Verhalten der Säfte gegen einander, dem vermeintlichen Aufbrausen, Gähren, Niederschlagen, od. auch aus der Gestalt der kleinsten Theilchen der Säfte erklärte, das Mystische dabei aber größtentheils ausschloß. Auf diese Art entstand das, bes. durch de la Boe ausgebildete chemiatrische System, welches aber bald der iatromathematischen Schule weichen mußte, nach deren physiologischem System die festen Theile des Körpers als die zunächst zu berücksichtigenden Theile betrachtet wurden. Bald fühlte man jedoch, daß dem organischen Leben etwas zu Grunde liege, was sich nicht unter mechanische, hydraulische u. pneumatische Berechnungen bringen läßt, u. so bildeten sich die neueren dynamischen Ansichten. Unter diesen ist das physiologische System von Fr. Hofmann noch am meisten iatromathematisch Ziemlich gleichzeitig aber trat G. E. Stahl mit seinem System auf, welches der Seele die Oberherrschaft über das Leben des organischen Körpers zuerkannte. Beide Systeme wurden durch das von A. von Haller (mit welchem überhaupt für die P. eine neue Epoche anhob) aufgestellte System verdrängt, welches der Kraft des belebten Körpers bes. durch Aufstellung des Princips der Irritabilität u. Sensibilität mehr als dem physiologischen Einfluß einräumte. Es wurde: von der von I. Brown aufgestellten Erregungstheorie verdrängt, in welcher das quantitative Verhältniß der Kräfte zur nächsten Berücksichtigung kam. Die in neuester Zeit eingetretenen Umformungen der früheren Philosophie durch Kant, Fichte u. Schelling blieben auch nicht ohne wesentlichen Einfluß auf Bildung von P. Von nun an machte sich vor Allem die Naturphilosophie geltend u. hat bis heute noch nicht ganz durch die. lediglich auf möglichst ungetrübte Beobachtung der Natur sich beschränkende Forschung verdrängt werden können. Als die vorzüglichsten Physiologen sind zu nennen bei den Franzosen Bichet, Dumas, Cuvier, Broussais, Magendie, Prevost u. A., bei den Engländern Abernethy, Lawrence, E. Home, Brewster, Bell, Cooper u. A., bei den Amerikanern Marshall, bei den Deutschen Blumenbach, Hildebrandt, Treviranus, Rudolphi, Sömmering, A. von Humboldt, E. H. Weber (Annotationes anatomicae et physiologicae, Lpz. 1851), K. G. Carus (System der P., Dresd. 1838–40, 3 Thle., 2. Aufl. 1847–49, 2 Bde.); Ehrenberg, von Bär, R. Wagner, Burdach (Die P. als Erfahrungswissenschaft, Lpz. 1826–40, 6 Bde.); Tiedemann, Purkinje, I. Müller (Handbuch der P. des Menschen, Cobl. 1833, 3. A. 1837–39, 2 Bde.); Valentin (Lehrbuch der P. des Menschen, Braunschw. 1844, 2. Aufl 1847–1850); Budge (Specielle P. des Menschen, Weim. 1856) u. A.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 13. Altenburg 1861, S. 110-111.
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