Völkerwanderung

[655] Völkerwanderung, die seit dem 4. Jahrh. n. Chr. erfolgte Auswanderung germanischer u. barbarischer Völkerschaften aus ihren damaligen nach andern Sitzen, bes. nach Westen u. Süden. Zwar hatten schon früher jene Völker Versuche gemacht sich in den schönern u. bebauten Ländern römischer Herrschaft niederzulassen, allein sie wurden von den Römern durch starke Grenzwerte u. Grenzwachen zurückgehalten; nur den Alemannen gelang es vom Main aus im 4. Jahrh. bis in das mittlere Rheinland, Rhätien u. Helvetien sich auszubreiten. Aber erst als jene Völker von andern aus Nordosten gedrängt, den Stoß weiter mittheilen mußten, auch der römische Grenzschutz gegen sie immer schwächer wurde, brach im 4. Jahrh. der Strom los. Der Übergang der Hunnen über die Wolga 374 nach Ehr war der Beginn der V.; diese besiegten die Alanen u. betraten, nach Überschreitung des Don, Europa; im Osten dieses Erdtheils saßen vom Don bis zur Donau die Gothen; von diesen ergab sich ein Theil (Ostgothen), der westlich wohnende Theil (Westgothen) suchte in dem Oströmischen Reiche Zuflucht. Darnach zogen aus den Gegenden des Baltischen Meeres Sueven, Vandalen, Burgunder, ebenso Alanen u. Gothen, gedrängt von asiatischen Horden, welche nördlich des Schwarzen Meeres gegangen waren, zu Anfang des 5. Jahrh. nach Italien zu, wendeten sich aber, von den Römern geschlagen, westlich u. gingen über den Rhein. Von ihnen blieben die Burgunder in dem nach ihnen benannten Landstrich Galliens; die übrigen zogen nach Südgallien u. über die Pyrenäen nach Spanien; dort gründeten die Westgothen dauernd das Westgothische Reich, hier die Alanen u. Sueven nur vorübergehend; die Wandalen ließen sich endlich in Afrika nieder. Aber nicht allein von andern Völkern gedrängt entwickelten sich die Völkerzüge nach fremden Landen; sondern nach Britannien zu Hülfe gerufen, gingen 449 Angeln, Sachsen u. Jüten von der deutschen Nordseeküste[655] u. von den Inseln, um Britannien nicht wieder zu verlassen. Erobernd breiteten sich die Franken bes. seit dem 5. Jahrh. vom Niederrhein über Nord- u. Mittelgallien aus. Wo in Osten die Gothen fortgezogen waren, da hatten sich die Hunnen festgesetzt; unter ihrer Herrschaft standen die Heruler, Rugier, Scirren etc., von Norden eingewanderte germanische Stämme. Da mit Attila's Tod sich das Hunnenreich auflöste, so zogen jene nach Italien u. eroberten 476 das Land unter Odoaker; doch schon 493 wichen sie den Ostgothen, welche nach ihrer Losreißung von der Hunnenherrschaft unter Theoderich das Land einnahmen. In das von den Rugiern verlassene Land (j. Österreich) rückten gegen 488 die Longobarden, welche nach 100 Jahren über die Alpen gingen u. 568 die nach ihnen genannte Lombardei eroberten. Die Züge der Asiaten an die untere Donau u. die pontischen Länder dauerten auch noch immer fort; gegen 487 erschienen, von den Türken verdrängt, die Bulgaren u. nahmen die unteren Donauländer ein; um 560 die Avaren, welche Dacien besetzten, doch nur kurze Zeit dort blieben, indem sie von ihren Nachbarn aufgerieben wurden. In die von Germanen verlassenen nordöstlichen Länder wanderten Slawische Völker; von der Weichsel, dem Dniestr u. Dniepr zogen sie nach Böhmen, Schlesien, Lodomirien, Illyrien, Polen, Pommern, Meißen, Brandenburg, Mecklenburg etc. Die Folgen der V. war eine Veränderung der Verhältnisse fast der ganzen damals bekannten Erde; sie brach die Macht des Weströmischen Reichs u. brachte fremde Volksstämme nach Europa; durch sie erschienen neue Staaten u. eine neue Ordnung der Dinge begann, welche die Schöpferin der spätesten Zukunft wurde, nicht blos für den Schauplatz der Wanderungen, sondern für die ganze bekannte Erde. Vgl. E. von Wietersheim, Geschichte der V., Lpz. 1859 ff., 4 Bde.; R. Pallmann, Geschichte der V. von der Gothenbekehrung bis zum Tode Alarichs, Gotha 1863.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 18. Altenburg 1864, S. 655-656.
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