Chirurgie

[416] Chirurgie (die) ist ein Theil der allgemeinen Heilkunst, den das deutsche oft dafür gebrauchte Wort Wundarzneikunst keineswegs erschöpft, sondern nur einen Zweig derselben bezeichnet. Die Chirurgie begreift nämlich die Lehre von den mechanischen Mitteln und der geregelten Anwendung derselben für die Zwecke der allgemeinen Heilkunst, daher man jene Mittel auch chirurgische nennt und der Chirurgie die sogenannte innere Medicin gegenüberstellt. Allein wenngleich rücksichtlich der Ausübung am Krankenbett Medicin und Chirurgie sich trennen lassen, kann dies doch in wissenschaftlicher Hinsicht nicht geschehen, und bei der jetzigen Ausbildung der Heilkunde ist weder ein Arzt ohne Kenntniß der Chirurgie, noch ein Chirurg ohne Kenntniß der sogenannten innern Krankheiten denkbar. Aber nicht Jeder ist zum Chirurgen geeignet, und das mag wol in der Praxis die Trennung zwischen Medicin und Chirurgie befördert haben. Wer sich zum Chirurgen und zwar nicht blos zum chirurgischen Gehülfen, sondern zum Operateur, d.h. zum Unternehmen chirurgischer Heilungen, welche die Entfernung oder Verletzung wichtiger Theile des Körpers durch das Messer oder andere chirurgische Instrumente nöthig machen, ausbilden will, muß sich nicht nur das dem Arzte im Allgemeinen nöthige Wissen, sondern namentlich die gründlichste Kenntniß in der Anatomie erwerben, und außerdem Geistesgegenwart, Entschlossenheit und Muth, ein scharfes, ungeschwächtes Auge und eine nie zitternde wohlgeübte [416] Hand besitzen, sich der linken Hand mit gleicher Geschicklichkeit bedienen können, wie der rechten und während einer chirurgischen Operation dem Mitleid unzugänglich sein. Krankheiten, mit welchen sich die Chirurgie vorzugsweise beschäftigt, hat man deshalb chirurgische genannt und früher als solche bezeichnet, welche durch die Anwendung mechanischer Mittel geheilt werden, obgleich diese oft durch diätetische Vorschriften und innerlichen Arzneigebrauch unterstützt werden müssen. Es gehören aber die sogenannten chirurgischen Krankheiten zu den organischen, d.h. denjenigen, welche von einer Verletzung der natürlichen Beschaffenheit, Gestalt und Bildung der einzelnen Körpertheile herrühren, und können bedingt werden: durch Störung des natürlichen Zusammenhanges oder widernatürliche Vereinigung solcher Theile; durch völligen Verlust oder Überzahl einzelner; durch die Gegenwart fremder Körper; durch Entartung der Organe oder Erzeugung neuer Gebilde. Sind solche Theile der Sitz derartiger Krankheiten, welche den Gefühlsorganen des Arztes zugängig sind und die Anwendung mechanischer Mittel gestatten, so werden sie Gegenstand chirurgischer Hülfsleistung, die entweder in der Ausführung einer blutigen oder unblutigen Operation, oder in der Anlegung eines Verbandes, einer Maschine u.s.w. bestehen kann. Ihre Entstehung verdankt die Chirurgie zunächst dem menschlichen Bedürfnisse. Chirurgische Operationen vollzogen schon die alten Ägypter, und während der Belagerung von Troja (1184 v. Chr.) zeichneten sich einzelne Helden Griechenlands ebenso sehr durch ihre Geschicklichkeit in der Behandlung von Wunden als durch ihre Tapferkeit aus. Doch war damals Chirurgie im eigentlichen Sinne des Wortes nur Wundarzneikunst und die Ausübung derselben nur Königen, Kriegern oder Priestern erlaubt, die die Wirksamkeit der angewandten örtlichen Mittel durch allerhand Gaukeleien und religiöse Ceremonien zu erhöhen suchten. Daher wurden in den Tempeln die etwa bewerkstelligten Heilungen aufgezeichnet und daselbst die damals noch sehr seltenen chirurgischen Instrumente aufbewahrt. Auch bei den Römern gab es geschickte Wundärzte, indeß mußte bei den Alten die Chirurgie immer sehr unvollkommen bleiben, da ihnen die Grundlage derselben, anatomische Kenntnisse, zu sehr abging. Später theilte sie das Loos der andern Wissenschaften und Künste, und verlor sich fast spurlos in der Nacht der Unwissenheit und Barbarei, welche mit dem Untergange des röm. Reiches hereinbrach. Zwar übten sie noch arab. und jüdische Ärzte, förderten sie aber wenig, indem sie bei gänzlichem Mangel aller anatomischen Kenntnisse sich blos durch meist unzweckmäßige Vermehrung von Instrumenten und grausame Operationsmethoden einen Namen zu machen suchten. Im christlichen Europa befaßte sich während dieses Zeitraums nur noch die Geistlichkeit mit der Ausübung der Heilkunst, von welcher aber die Chirurgie durch päpstliche Decrete ausgeschlossen wurde, welche den Dienern der Kirche bei Strafe der Excommunication verboten, irgend eine blutige Operation zu vollziehen. Diese künstliche Scheidung zwischen Medicin und Chirurgie rief die zünftige Baderei ins Leben, durch welche die Ausübung der Chirurgie bald zum Handwerk herabgebracht, ja mit einem gewissen Schimpfe gebrandmarkt wurde, unter welchem sie noch lange Zeit zu leiden hatte. Erst als man von den das Studium der Anatomie verhindernden Vorurtheilen und den deshalb bestehenden kirchlichen und weltlichen Gesetzen abging, und diese Wissenschaft wie noch nie angebaut wurde, nahm auch die Chirurgie einen neuen Aufschwung. Ambrosius Pare von Laval, Wundarzt der Könige Heinrich II., Franz II. und Heinrich III. von Frankreich, begründete im 16. Jahrh. zunächst die franz. Chirurgie. In seine Fußtapfen traten anfänglich weniger seine Landsleute als vielmehr Italiener, Holländer, Engländer und Deutsche. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. begünstigten die unaufhörlichen Kriege zugleich die Anlegung öffentlicher Hospitäler und das Fortschreiten auf der eingeschlagenen Bahn, bis endlich im 18. Jahrh. mehre vorzüglich für den Unterricht in der Chirurgie berechnete Institute entstanden, z.B. 1724 die noch als medicinisch-chirurgische Akademie bestehende Heilanstalt in Berlin, 1731 die Akademie der Chirurgie in Paris u.s.w. In der neuesten Zeit ist die Chirurgie durch die vereinten Bemühungen der Wundärzte aller gebildeten Völker zu einem Grade von Ausbildung gelangt, der nie gekannte Heilungen möglich macht und bei welchem die Kühnheit, Einfachheit und wissenschaftliche Begründung der Verfahrungsweise gleich sehr zu bewundern sind.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 416-417.
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