Kandia

[542] Kandĭa, die im Alterthume unter dem Namen Kreta berühmte, von den Türken Ejalet Kirid genannte Insel, liegt 171/2 Meilen von der Südspitze der Halbinsel Morea und 50 Meilen von der afrik. Küste entfernt und hat einen Flächenraum von ungefähr 188 ! Meilen. Sie trägt mächtige Berge, welche sich in zwei Armen durch ihre ungefähr 33 Meilen betragende Längenrichtung hinziehen und sich im Psiloriti (dem alten Ida) bis zu 7200 F. erheben. Auf den Bergen entspringen zahlreiche Quellen, welche im Winter durch reichlich strömende Bäche ihr Wasser dem Meere zuschicken, während diese Bäche im Sommer zum Theil vertrocknen. Das Gebirge tragt mächtige Waldungen und die Thäler zeigen größtentheils eine üppige Fruchtbarkeit. Das Klima ist mild und während der Winter nur durch Regen sich äußert, steigt im Sommer die Hitze selten zu einem unleidlichen Grade, weil während dieser Zeit kühlenden Nordwinde herrschen. Einst war die Insel der Wohnplatz von 1,200,000 gewerbthätigen und einen blühenden Handel betreibenden Menschen, nämlich zur Zeit des alten Griechenlands; schon zur Zeit der Venetianer sank aber der Wohlstand und die Zahl der Einwohner und jetzt findet man auf Kandia kaum noch 270,000 halb aus Osmanen halb aus Griechen bestehende Bewohner, die ohne alle Gewerbthätigkeit nur von Dem leben, was ihnen die verschwenderische Natur unaufgefodert darbietet. Die Häfen sind bis auf den von Kanea versandet und die einst blühenden Städte bieten ein trauriges Bild der Verwüstung dar. Das Sklavenjoch, welches die türkische Herrschaft den Bewohnern aufgelegt, hat dieselben so heruntergebracht. Die Hauptstadt der Insel heißt gleichfalls Kandia. Sie zählt etwa 17,000 Einw. und liegt in der Nähe des Berges Ida, ungefähr in der Mitte der nördl. Küste, an einem versandeten Hafen. Die Umgegend dieser Stadt ist reich an Erinnerungen und Überbleibseln der Vorzeit. Man sieht noch die Mauern des alten Knossus mit dem berühmten Labyrinthe. Bei dem kleinen Dorfe Hagios Deke lag in den Römerzeiten das blühende Gortyna, und man findet noch Säulenüberreste in Menge, welche zeugen, wie prachtvoll dasselbe gebaut gewesen sein muß. Nicht weit davon findet sich eine Höhle mit einem 1200 F. langen Hauptwege, von dem unendliche Irrgänge abführen. Man hat diese Höhle mit Unrecht für das Labyrinth von Kreta gehalten. Kandia ist auch die Hauptstadt des Sandschaks (Provinz) Kandia und Residenz des Erzbischofs von Gortyna. Im Sandschak Rhetymna oder Retimo liegt die gleichnamige Stadt, in welcher ebenfalls ein Bischof residirt und die 6000 Einw. hat. Kanea, die Hauptstadt des gleichnamigen Sandschaks, ist das alte Kydonia und gegenwärtig die durch ihren Handel bedeutendste Stadt auf der ganzen Insel. Sie liegt gleichfalls an der Nordküste, aber östlicher als Kandia, an einem nach ihr benannten Meerbusen, zählt 9000 Einw., ist auch Sitz eines Bischofs und hat einen wohlerhaltenen Hafen.

An Kreta knüpften sich viele Sagen der alten Griechen. Auf dem Ida soll Jupiter (s.d.) erzogen worden sein, dort soll Saturn (s.d.) geherrscht haben und syäter Minos (s.d.), der weise Gesetzgeber. Der Minotaurus (s.d.), welchen Theseus tödtete, war hier in dem von Dädalus erbauten Labyrinthe eingesperrt. Dorische Stamme bevölkerten in der geschichtlichen Zeit Kreta und bildeten eine Republik, bis sich cilicische Seeräuber auf der Insel niederließen, welche lange ein Schrecken aller Schiffe des Mittelmeeres waren, aber endlich von den Römern gebändigt wurden. Kreta kam an die oström. Kaiser, welchen es 823 n. Chr. die Sarazenen abnahmen, die Kandia auf den Trümmern des alten Heraklea bauten, aber 962 von den Griechen wieder vertrieben wurden. Im J. 1204 kam die Insel durch Kauf an Venedig, welches die Städte befestigen ließ, eine milde Regierung führte, Handel und Gewerbthätigkeit hob und die Anfälle der Türken zurückwies. Lange kämpften diese mit großen Anstrengungen um den Besitz der Insel. [542] Seit 1656 belagerten sie unausgesetzt die Hauptstadt Kandia und 1667 brachten sie 80,000 Mann vor dieselbe, welche wohlbefestigt und gut vertheidigt war. Die ausgezeichnetsten Ingenieure jener Zeit, Freiwillige aus allen Gegenden, waren nach Kandia gegangen, die Malteserritter, der Papst, Frankreich, Deutschland schickten Mannschaft, aber die Türken waren nicht minder tapfer in ihren Angriffen. Endlich mußte, nachdem ein unglücklicher Ausfall die Entscheidung gegeben hatte, 1669 die Stadt durch eine ehrenvolle Capitulation den Türken übergeben werden, nachdem der Krieg 25 Jahre, die Einschließung der Stadt 13 Jahre gewährt hatten und die Tranchéen 21/3 Jahr offen gewesen waren. Die Besatzung, welche von 8–10,000 Mann auf 2500 heruntergekommen war, erhielt freien Abzug und durfte ihr Eigenthum und die Geschütze mitnehmen, und den Venetianern wurde der Besitz der Plätze Suda, Garabusa und Spina longa zugesichert. Während der Belagerung hatten die Christen 96 Ausfälle gemacht, die Türken 56 Mal gestürmt, jene 1173 Minen, diese 472 springen lassen, die Christen 509,692 Stückschüsse aus der Festung gethan, 180,449 Centner Blei zu Musketenkugeln verbraucht. Es waren 30,985 Christen und 118,754 Türken in dieser Zeit getödtet oder verwundet worden. Als die Türken die Stadt in Besitz nahmen, fanden sie dieselbe im Zustande völliger Verwüstung. Die abziehende Besatzung hatte noch Alles, was von einigem Werthe war, mit sich genommen und Niemand war in der Stadt geblieben, als 33 Menschen, größtentheils Greise. Während des 17. Jahrh. verloren die Venetianer theils durch Verrath, theils durch Übergabe auch noch die erwähnten drei festen Plätze, die sie sich ausbedungen hatten, und so kam die ganze Insel in die Hände der Türken. Die drei Paschas von Kandia, Rhetymna und Kanea, welche die Türken einsetzten, waren häufig unter einander uneinig und dieses benutzten die Bewohner des westl. Gebirges, die Sphachioten, sich eine gewisse Selbständigkeit zu geben, obschon sie immer unter türk. Hoheit blieben. Mehrmals versuchten die Paschas vergeblich, sie zu völliger Unterwerfung zu bringen. Als die griech. Unruhen ausgebrochen waren, verlangten die türk. Paschas von jenen Gebirgsbewohnern Geiseln, welches jene empörte und bestimmte, mit den übrigen Griechen gemeinschaftliche Sache zu machen. Nachdem 1830 der Vicekönig von Ägypten mit der Verwaltung Kandias beauftragt worden war, stellte dieser mit grausamer Strenge die Ruhe wieder her und nach dem Vertrage von Kiutahia 1833 blieb die Insel unter ägypt. Hoheit.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 542-543.
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