Mirabeau

[151] Mirabeau (Honoré Gabriel Victor Riquetti, Graf von), geb. 1749 auf dem Schlosse Bignon bei Nemours, war der Abkömmling eines alten Geschlechts und ältester Sohn des Marquis de M., gest. 1789 zu Paris, der unter andern als scharfsinniger Schriftsteller für das physiokratische System der Staatsverwaltung sich bekannt machte, aber dabei ein gemeines, lasterhaftes Leben führte, den Vornehmern unbedingt schmeichelte und seine Untergebenen sowie seine Familie tyrannisch behandelte. Von diesem Vater hatte denn auch der Graf von M. viel zu leiden, der mit vorzüglichen Geistesanlagen, dem Körperbau eines Athleten, aber ausnehmend häßlichen Zügen begabt, nach dem Besuch einer Militairschule im 18. Jahre Reiteroffizier wurde. Bei der verderbten Gesinnung seines Standes sah M. in dieser Stellung kein Mittel, seinem Drang nach Auszeichnung zu genügen, als es im wüsten Leben seinen Kameraden zuvorzuthun, entzweite sich dabei wegen einer Liebschaft mit seinem Vater, der einen Verhaftsbefehl (lettre de cachet) gegen ihn auswirkte und ihm nur auf dringende Fürsprache der Verwandten erlaubte, 1769 den Feldzug nach Corsica mitzumachen, wo er zum Hauptmann vorrückte. Als aber jetzt sein Vater ihm die Mittel zum Ankauf einer Compagnie verweigerte, verließ M. den Militairstand und vermählte sich 1771 mit dem Fräulein von Marignan zu Aix, deren großes Vermögen aber nicht hinderte, daß er schnell tief in Schulden gerieth, auf seines Vaters Betrieb gerichtlich für einen Verschwender erklärt, unter Vormundschaft gestellt, und da er sich an den ihm ertheilten Stadtarrest nicht kehrte, 1774 im Schlosse If, später auf dem Schlosse Joux, eingesperrt wurde. Hier knüpfte sich ein leidenschaftliches Verhältniß zwischen M. und der schönen Sophie Rufsei, der 19jährigen Gattin des 79jährigen Präsidenten Lamonnier, welches die Flucht Beider nach der Schweiz und von da nach Holland zur Folge hatte, wo M. sich mit schriftstellerischen Arbeiten forthalf. Unterdessen war M. von dem seiner Gattin beraubten Präsidenten als Entführer verklagt, vor Gericht zum Tode verurtheilt und im Bilde gehangen worden, sein Vater aber hatte einen neuen Verhaftsbefehl gegen die Flüchtigen ausgewirkt, mit dem ein Policeibeamter nach Holland ging und Beide ohne Widerstand von Seiten der holl. Regierung im Mai 1777 festnahm und nach Frankreich abführte, wo M. fast drei Jahre im Schlosse Vincennes schmachten mußte, während Sophie, die bald Muttewerden sollte, in einem Kloster untergebracht wurde. Endlich [151] erhielt er jedoch 1780 seine Freiheit, versöhnte sich einigermaßen mit seinem Vater und erwirkte 1782 auch die Aufhebung des gegen ihn ergangenen Todesurtheils, sowie die Freilassung Sophiens, der auch ihr Heirathsgut ausgeliefert ward; eine hierauf versuchte Aussöhnung mit seiner Frau kam nicht zu Stande, und sie setzte die verlangte Scheidung durch. Hatte M. sich schon früher als Schriftsteller hervorgethan und z.B. in der Feste Joux seinen »Versuch über den Despotismus«, im Schlosse Vincennes auch eine Reihe liebebegeisterter, schwärmerisch zärtlicher Briefe an Sophie verfaßt, welche jedoch erst 1792 gedruckt wurden; jetzt aber ließ er nach und nach mehre mit großer Einsicht geschriebene Abhandlungen und Broschüren über Gegenstände der Staatswissenschaft, namentlich über Finanzverwaltung, erscheinen, welche auf die öffentliche Meinung von großem Einflusse waren und deutlich ins Licht setzten, was dem allgemeinen Besten noth that. Um ihn daher von Paris zu entfernen, erhielt er den geheimen Auftrag, das neue Verwaltungssystem Preußens kennen zu lernen, und ging deshalb auf sechs Monate nach Berlin. Seine in dieser Angelegenheit nach Frankreich geschriebenen Briefe wurden 1789 als »Geheime Geschichte des berliner Hofs« gedruckt, allein diesem zu Gefallen bald auf Befehl Ludwig XVI. vom Henker verbrannt; auch sammelte M. mit seinem Freunde Mauvillon die Materialien zu seinem Werke: »Die preuß. Monarchie unter Friedrich dem Großen«, und bewies dabei viel politischen Scharfblick. Nach Frankreich 1787 zurückgekehrt, setzte er seine schriftstellerischen Arbeiten fort, bis die Zusammenberufung der Reichsstände ihm das Feld politischer Wirksamkeit eröffnete, auf dem er am meisten glänzen sollte. M. war bei den Wahlen zuerst in Aix als Bewerber aufgetreten, und als der Adel ihm seine Stimmen nicht gab, machte er sich durch Ankauf eines Tuchladens zum Mitgliede des dritten Standes, ward nun in Marseille und Aix gewählt und erschien als Abgeordneter der letztern Stadt in Versailles, wo er mit seinen umfänglichen Kenntnissen und großem Rednertalente die Verhandlungen bald beherrschte und mit seinen auf Beschränkung der königl. Gewalt und der schädlichen Adelsvorrechte abzielenden Anträgen eine unermeßliche Popularität erwarb. Mehr aber wollte er selbst nicht und strebte wol nach nichts weniger als nach Umsturz des Königthums, daher dieses, immer näher bedroht, auch einen Vertheidiger in ihm gewann, nachdem während der zu Anfange 1790 deshalb mit ihm gepflogenen Unterhandlungen Ludwig XVI. sich mit einer beschränkten Gewalt zufrieden erklärt hatte; der Hof bezahlte seine beträchtlichen Schulden, gab ihm monatlich 6000 Francs Pension und selbst die Königin, die anfangs vor M. zurückschauderte, faßte Vertrauen zu ihm. Im Febr. 1791 wurde M. noch zum Präsidenten der Nationalversammlung gewählt, aber schon am 2. Apr. erlag sein durch fortgesetzte Ausschweifungen und angestrengte Arbeiten erschöpfter Körper einer kurzen entzündlichen Krankheit. Hunderttausend Menschen folgten seinem Leichenbegängnisse, ganz Frankreich trauerte um ihn und der Hof verlor damit vielleicht den einzigen Vermittler zwischen den Ansprüchen der Krone und des Landes, wenn eine Vermittelung überhaupt noch möglich war. Denn auch M. fürchtete schon, daß bald weder der König noch die Gemeinen mehr regieren, sondern eine Herrschaft der Gewalt und Greuel eintreten werde, und von ihm rührt auch das prophetische Wort her: »Die franz. Revolution wird in Europa die Runde machen.« M. wurde im Pantheon (früher die Genovevakirche) beigesetzt, allein 1794 mußten seine Gebeine auf Robespierre's Befehl denen Marat's (s.d.) weichen; dagegen ließ 1800 der erste Consul Bonaparte M.'s Bild unter denen großer Männer aller Nationen in den Tuilerien aufstellen. – M.'s jüngerer Bruder, Boniface Riquetti, Vicomte de M., stand ihm an Fähigkeiten und Kenntnissen weit nach, war übrigens entschiedener Aristokrat und sein Gegner und starb 1792 als Ausgewanderter zu Freiburg. Im wüsten Leben kam er seinem Bruder gleich und erhielt von seiner Trunkliebe und seinem ansehnlichen Leibesumfange den Spottnamen Mirabeau-Tonneau.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 151-152.
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