Mirabeau [2]

[306] Mirabeau, Riquetti de M., Familie der französischen Seigneurie, welche aus Italien stammte u. dort Arrighetti (franz. Riquetti) hieß, 1267 als ghibellinisch von Florenz vertrieben wurde u. nach Frankreich einwanderte. Ludwig XIV. erhob die Güter der Familie zu dem Marquisat M. Merkwürdig sind: 1) Victor Riquetti, Marquis v. M., geb. 1715 zu Perthuis in der Provence; genannt der Patriarch der Ökonomisten, weil er ein eifriger Vertheidiger des physiokratischen Systems war. Dabei führte er aber einen zügellosen Lebenswandel, hielt mehre Maitressen, ermüdete die Gerichtshöfe durch scandalöse Processe u. behandelte seinen Sohn (s. Mirabeau 2) wegen derselben Ausschweifungen sehr hart. Wegen seiner Schrift: Théorie de l'impot, Par. 1760, kam er in die Bastille u. st. den 13. Juli 1789 zu Argenteuil. Er schr.: L'ami des hommes, Par. 1755, 5 Bde.; Philosophie rurale, Amsterd. 1764, 3 Bde.; Elémens de la philosophie rurale, Haag 1767 f., Lettres sur le commerce des grains, Par. 1768; Economiques, ebd. 1769, 2 Bde.; Lettres économ., Amsterd. 1770; Les devoirs, Mail. 1770; La science de l'homme, Lauf. 1774; Lettres sur la législation, Bern 1775, 3 Bde.; Entretiens d'un jeune prince avec son gouverneur, Par. 1785, 4 Bde.; Education civile d'un prince, Dnrl. 1788, Revue d'un goutteux (o. O. u. I.). Er redigirte auch das Journal de l'agriculture, du commerce et des finances, Par. 1767–74, 30 Bde.; u. Ephémérides du citoyen von 1765–1768 mit Baudeau. 2) Honoré Gabriel Victor Riquetti, Graf von M., ältester Sohn des Vorigen, geb. 9. März 1749 zu Bignon bei Sens in der Provence; er trat jung in Militärdienste, wurde aber auf den Antrag seines Vaters, mit dem er sich wegen einer Liebschaft entzweit hatte, auf der Insel Rhé eingekerkert. Nach seiner Befreiung ging er als Freiwilliger nach Corsica, wurde Hauptmann, gab jedoch, da sein Vater sich weigerte, ihm eine Compagnie zu kaufen, den Militärstand auf, wurde Ökonom u. heirathete 1772 das reiche Fräulein von Marignane, machte aber dessen ungeachtet durch Verschwendung Schulden, wodurch sein Vater veranlaßt wurde, ihn 1774 im Schlosse If gefangen jedoch Joux zum Aufenthalt angewiesen. Hier lernte er Sophie de Ruffey, die junge Gattin des greisen Le Monnier kennen u. flüchtete mit ihr 1776 nach Holland, deshalb von Le Monnier angeklagt, wurde er zum Tode verurtheilt u. in effigie gehängt. In Holland arbeitete er für den Buchhändler Changuyon unter dem Namen Mathieu, wurde jedoch bald entdeckt u. sammt seiner Geliebten von französischen Polizeiagenten verhaftet u. ins Schloß von Vincennes gesperrt. Dort schrieb er seine Lettres originales à Sophie écrites de Donjon de Vincennes, Par. 1792, 2 Bde., u. Ausg., ebd. 1820 u. (da man ihm Schreibmaterialien versagte, auf die herausgerissenen Blätter der ihm zugestandenen Bücher) Eroticon biblion, ebd. 1792. 1780 versöhnte er sich mit seinem Vater u. lebte bei ihm, ging 1782 nach Pontarlier, wo er die Cassirung des gegen ihn erlassenen Todesurtheils erhielt u. processirte dann mit seiner Frau. 1784 war er in England u. beschäftigte sich mit Schriftstellerei; 1785 erhielt er einen geheimen Auftrag nach Berlin. Hier schrieb er, mit Mauvillons Hülfe, De la monarchie Prussienne sous Frédéric le Grand, Lond. (Par.) 1786, 4 Bde. (deutsch von Mauvillon u. F. von Blankenburg, Lpz. 1793–96, 4 Thle., weshalb er von Friedrich Wilhelm II. gleich nach seiner Thronbesteigung genöthigt wurde, die preußischen Staaten zu verlassen. Nach mehren Liebesabenteuern u. Zufällen kam er 1786 in Paris an. Einige von ihm herausgegebene Schriften zogen ihm einen Verhaftsbefehl zu, welchem er jedoch entging. Die Revolution fand in ihm einen begeisterten Anhänger; er ging nach der Provence, um in der Versammlung der Reichsstände gewählt zu werden; da ihn der Adel zu wählen verschmähte, setzte er seine Wahl durch den dritten Stand durch u. kaufte, um dies zu können, einen Tuchladen. In der Reichsversammlung aufgenommen beherrschte er dieselbe ganz durch seine Beredtsamkeit. Hier gerieth er in einen sonderbaren Conflict: Royalist durch Grundsätze, Neigung u. Erziehung, Aristokrat in seinem Privatleben, trat er, von der Zeit fortgerissen, von dem Hofe beleidigt u. von seinen Standesgenossen verachtet, zur Demokratie über. Als die Revolution immer für den König gefahrdrohender wurde, bezahlte dieser, um M. zu gewinnen, dessen Schulden u. verhieß ihm 6000 Fr. monatlich Pension; der Plan, ihn zum Minister zu ernennen, scheiterte an einem Decret der Nationalversammlung vom 7. Nov. 1789. Im Dec. 1790 wurde er Präsident des Jakobinerclubs, im Febr. 1791 Präsident der Nationalversammlung, u. wandte seinen ganzen Einfluß auf, um Hof u. Volk zu versöhnen. Als er den 2. April 1791 starb, wurde er feierlich im Pantheon beigesetzt, doch schon im Sept. 1794 auf Anstiften der Jakobiner sein Leichnam von da entfernt. 1800 befahl Bonaparte, sein Bild unter die der großen Manner aller Nationen in den Tuilerien aufzustellen. Er schr. noch: Essai sur le despotisme, Par. 1792; Hist. d'Angleterre trad. de l'anglais de Mad. Mavaulary, Amsterd. 1777; Des lettres de cachet et des prisons d'état, Hamb. 1782, 2 Bde.; Considérations sur l'ordre de Cincinnatus, Lond. 1785; De la réforme des Juifs, ebd. 1785; Doutes sur la liberté de l'Escaut, Par. 1785; Lettre à l'Empereur, Joseph II., Lond. 1785; De l'usure, Par. 1785; De la caisse d'escompte de la banque de St. Charles, ebd. 1785; Conseils à un jeune prince, qui veut faire son éducation, Lond. 1788; Denonciation de l'agiotage, ebd. 1788; Lettre sur Cagliostro et Lavater, 1786; Avis aux Bataves, ebd. 1788; L'Histoire secrète de [306] la cour de Berlin, ebd. 1788; Oeuvres, ebd. 1792, 5 Bde., vollständige Ausgabe, von Mérilhou, ebd. 1825–27, 9 Bde., im Auszug: Esprit de M., ebd. 1804. Seine Reden: ebd. 1791; sein Briefwechsel mit dem Hofe, 1790 f., ebd. 1851. Die Verfasserschaft mehrer unzüchtiger, ihm zugeschriebener Romane hat er immer geleugnet. Vgl. Lucas Montigny (natürlicher Sohn M-s), Mémoires biographiques, literaires et politiques de M., Par. 1841; F. E. Pipitz, M. ein Lebensbild, Lpz. 1850, 2 Bde. 3) André Boniface Riquetti, Vicomte de M., Bruder des Vorigen, geb. 1754 in Bignon; war Oberst des französischen Regiments von Touraine, zeichnete sich erst im Amerikanischen Freiheitskriege, dann in der Nationalversammlung als Aristokrat aus, wanderte aus u. zog mit einer von ihm aus Emigranten errichteten Jägerlegion gegen Frankreich. Wegen seiner Ausschweifungen im Trunk hieß er M.-Tonneau, starb zu Freiburg im Breisgau 1792 u. schr.: Facéties, Par. 1790, 2 Thle. 4) Pseudonym für P. F. Freiherr v. Holbach.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 11. Altenburg 1860, S. 306-307.
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