Warschau

[384] Warschau. Erst im Jahre 1224 erwähnt eine alte Urkunde diesen Namen, und erst seit König Sigismund III., der Krakau verlassend, die Stadt zur Residenz erhob, schmückte sie sich mit den zahlreichen Palästen, umgab sich mit wahrhaft sybaritischem Luxus und trat in die Reihe der europäischen Hauptstädte, wetteifernd[384] mit diesen an Glanz, Schönheit, Reichthum und Verschwendung. Sonst die wahrhaft königliche Residenz der polnischen Könige, ist sie jetzt nur noch der Sitz des russ. Statthalters, und noch sind die Wunden der letzten verhängnißvollen Revolution nicht ganz geheilt, denn noch mancher Palast entbehrt seines frühern Besitzers, und die meist schönen, breiten, geraden Straßen sind lange noch nicht wieder so belebt, wie vor dem Jahre 1830. W. liegt auf dem linken Weichselufer, ihm gegenüber Praga und mit diesem verbunden seit 1832 durch eine stehende Brücke. Man zählt 8 öffentliche Plätze, 214 Straßen, 112 Paläste, 61 große Regierungsgebäude und gegen 140,000 Ew. Noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts gab es theils schlechte, theils nicht gepflasterte Straßen, namentlich in den entlegenen Stadttheilen, und eine große Anzahl Häuser waren mit Schindeln oder Lehm gedeckt, allein vorzugsweise in der Zeit vor dem Jahre 1830 verschwanden die hölzernen Häuser, sorgte man für gute Beleuchtung und Straßenpflaster. Unter den Straßen verdienen Erwähnung: Die neue Welt, die lange Straße, die krakauer Vorstadt, die Meth- oder Honigstraße, die Königs-, Kurfürsten-, Marschalls-, Senator-, Niederwallstraße und Lesezno; unter den öffentlichen Plätzen: der sächsische, der Altstädter-, der Marieviller-, der Krasinski-, der Sigismundplatz mit einer 1643 errichteten kolossalen Statue, König Sigismund III., der Börsenplatz, das Marsfeld und Zlumakie. Besucht man die krakauer Vorstadt, so übersehe man dort die Reiterstatue des Fürsten Poniatowsky nicht, ein Meisterstück Thorwaldsen's; unter den vielen öffentlichen Gebäuden aber zeichnen sich aus: das von Sigismund III. angelegte königl. Schloß auf einer Anhöhe, Praga gegenüber, vergrößert durch August II., vollendet durch Stanislaus August Poniatowsky. Das Innere desselben enthält eine Menge großer, schöner Säle, geschmückt mit Gemälden von Bacciarelli, die Bildnisse der Könige von Polen, die Büsten der Helden der Nation, große Archive und in der Umgebung nach der Weichsel zu, [385] sehr schöne Gärten. Man übersehe ferner nicht den sächsischen Palast mitten in der Stadt, wo einst die sächsischen Auguste ihren verschwenderischen Hofstaat hielten; den ehemals Brühlschen Palast, den Krasinski'schen Palast im italienischen Styl, jetzt Gouvernementspalast mit einem öffentlichen Garten, den Radzivilschen Palast, wo jetzt der Statthalter residirt, das Stadt- oder Rathhaus, das warschauer Palais-Royal, Marrieyille, mit der Börse, dem Zollamte und mehreren hundert Magazinen und Böden, und endlich das Münzgebäude, das Universitäts- und Akademiegebäude etc. Da früher der vornehme polnische Adel sich meist längere oder kürzere Zeit in der Hauptstadt aufhielt, da er dort nur allein Luxus und Lebensgenuß finden konnte, so enthält fast keine Hauptstadt Europa's so viele herrliche Paläste von Privatpersonen erbaut. Wir erwähnen nur einige: der Palast des Grafen Zamoyski, ehemals der blaue genannt, welchen August II. für seine Geliebte, die Frau von Orzletska, erbaute, der des Grafen Potocki mit schätzbaren Sammlungen, die Paläste Tarnowski, Krasinski, Radzivil, Raezinski, Karoli, Sapieha, Kossowski, Branicki etc. Nicht weniger zahlreich an Schlössern und schönen Landhäusern sind die nächsten Umgebungen Warschau's, worunter die beiden königl. Lustschlôsser Belvedere und Lazienki den ersten Rang einnehmen. Ersteres war der Sommeraufenthalt des Großfürsten Constantin und besitzt einen sehr hübschen englischen Garten Letzteres, im italienischen Styl, mitten in einem kleinen künstlichen See, nahe der Weichsel erbaut, ist im Innern reich mit Gemälden und Statuen verziert, hat eine sehr sehenswerthe Kapelle, war der Sommeraufenthalt des letzten Königs von Polen und wurde 1816 vom Kaiser Alexander gekauft. Bemerkenswerth unter den Landhäusern ist Monestow, ¼ M. von der Stadt, Królikarnia, auf einer Anhöhe mit englischem Garten, Willanew, ein großes, in französischem Geschmack von Johann III. Sobieski erbautes Schloß an der Weichsel, das jetzt der Familie Potocki gehört und ein kostbares Museum besitzt; ferner das Dorf Powonzki, mit vielen Landhäusern und[386] Fabrikgebäuden; das Dorf Mariemont, mit einer Thierarzneischule, einem landwirthschaftlichen Institute und Fabriken; nördl. von der Stadt an der Weichsel Bielany, mit einem Kloster, Schloß und Park, das Longchamp der vornehmen Welt Warschau's, die besonders zu Pfingsten dorthin wallfahrtet, und Jablonna mit dem Schlosse des bei Leipzig gefallenen Fürsten Poniatowsky. – Von den 26 Kirchen Warschau's darf man die dem heil. Johann geweihte und 1260 erbaute Cathedrale, mit einem werthvollen Altargemälde und vielen Grabmälern berühmter Männer, die heilige Kreuzkirche mit einer herrlichen Façade, die lutherische Kirche und die Kirche der Kapuziner, mit einem Monument des Königs Johann III. Sobieski, nicht übersehen. Die Institute für Kunst, Wissenschaft und Literatur können allen andern europäischer Hauptstädte an die Seite gestellt werden. Man findet eine Bibliothek mit 150,000 Bänden, eine Sternwarte, botanischen Garten etc., ein Institut für Lehrerinnen von Pensionaten, ein Blinden- und Taubstummeninstitut, eine Kunstschule, ein Conservatorium für Musik, eine Gesellschaft der Wissenschaften, eine Bibelgesellschaft, zwei Findelhäuser, die aber dem petersburger und moskauer weit nachstehen, mehrere Klöster der barmherzigen Brüder und Schwestern, 3 Theater etc – Die warschauer Kasse- und Wirthshäuser sind eben so elegant als zweckmäßig eingerichtet, die vielen öffentlichen Bader zum Theil prachtvoll decorirt; unter den Promenaden erinnern die Alleen von Ujazdow an den wiener Prater, und die Lustörter Bagatelle und Schuchsche befriedigen alle Ansprüche des verfeinertsten Luxus. In Bezug auf Handel, Industrie und Gewerbe ist Warschau der Centralpunkt des ganzen Königreichs. Zahlreich sind die Fabriken in Hüten, Strümpfen, Handschuhen, Gold- und Silberwaaren. Die warschauer Damenschuhe haben einen europäischen Ruf und vielleicht findet man nirgends so schönes Brod als hier. Den Absatz der Produkte unterstützt die Schifffahrt auf der Weichsel, den Handel überhaupt die hiesige Nationalbank. – In der Conversation der[387] vornehmen Welt herrscht französische Sitte vor; nächst Paris dürfte man vielleicht keinen Salon finden, wo die Frau von Hause mit so viel Geist, Grazie und Anmuth zu repräsentiren weiß, und da man in den höhern Cirkeln viel französisch spricht, kommt man oft genug in Versuchung, sich nach Paris versetzt zu glauben. Die schöne weibliche Nationaltracht: ein weiß atlassenes Unterkleid, mit einem kürzern bis an die Knie reichenden, oft mit Pelz besetzten Oberkleide, schien 1830, wo auch die Mode dem Patriotismus huldigen wollte, wieder allgemein zu werden, verschwand aber nach der Einnahme Warschau's durch die Russen plötzlich, und Paris wurde wieder als Modell genommen.

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Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 10. [o.O.] 1838, S. 384-388.
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