Shakspeare

[199] Shakspeare, häufiger Shakespeare, auch Shakspere (Schäckspihr), William, der ausgezeichnetste dramatische Dichter der neuern Zeit, ist hinsichtlich seiner Lebensverhältnisse wenig bekannt, weil seine eigene Gleichgültigkeit in Bezug auf den Druck, richtigen Text und Verbreitung seiner Werke, politische Wirren, die Opposition des engl. Klerus wider das Theater und dann das Vorherrschen des französ. Geschmackes in England ihn sammt seinen Werken im 17. Jahrh. vergessen werden ließ, ferner weil aus den persönlichen Beziehungen, die namentlich in seinen 152 Sonetten u. zerstreut auch in den übrigen Dichtungen vorkommen, sich kein genügendes Bild seines äußern Lebens zusammensetzen läßt; geb. am 23. April 1564 zu Stratford in der Grafschaft Warwick, der Sohn eines wohlhabenden Mannes, der städtische Aemter begleitete, aber seit 1578 in seinen Vermögensverhältnissen sehr herabkam, erwarb S. sehr vielseitige Kenntnisse durch Bücher wie durch das Leben, mußte jedoch Landschulmeister oder noch wahrscheinlicher Advokatenschreiber werden. Er heirathete schon 1582, führte dabei nichts weniger als einen musterhaften Wandel und ist es richtig, daß er ein Wilderer war und als solcher bestraft wurde, so gehört diese Thatsache vergleichweise noch zu den moralisch unschuldigsten aus seinem frühern Leben. Schon seit 1565 kamen von Zeit zu Zeit wandernde Schauspielerbanden nach Stratford, 1586 sollen 5 dahin gekommen sein; S. schloß sich an eine derselben, deren Beschützer der Graf Leicester war, kam mit dieser nach London u. zeigte höchstwahrscheinlich sofort die Eigenschaften eines trefflichen Schauspielers. Gewiß ist, daß S. schon vor 1592 oft vor dem königl. Hofe spielte, 1592 bereits als Schauspieldichter hochberühmt war, ein eigenes Theater errichtete, viel Geld gewann, mit einer ansehnlichen Leibrente sich um 1612 in seine Vaterstadt zurückzog, 1614 mit dem »hl. Dreikönigsabend« seine Dichterlaufbahn beschloß und 1616 an seinem Geburtstage u. am Todestage des Cervantes (s. d.) starb. Er bekam ein [199] Denkmal in der Stadtkirche zu Stratford, 1741 ein solches in der Westminsterabtei und ist seit 1712, wo John Dennis seine »letters on the writings and genius of S.« schrieb, zu einem Hauptvertreter der Weltliteratur, bei uns namentlich durch den Schauspieler F. L. Schröder, durch G. E. Lessing, Göthe, Wieland und durch die meisterhafte Uebersetzung von Schlegel und Tieck einheimisch geworden. Seine dramatischen Dichtungen sind weder leicht zu erklären (Göthe zeigte zuerst am Hamlet, wie S. verstanden werden müsse) noch leicht zu übersetzen, noch seltener werden sie gut auf der Bühne gespielt; ferner war S. kein ästhetisches Naturgenie, das ohne Wissen und Willen unsterblich wurde, sondern machte eine lange Entwicklung von der Bearbeitung mittelmäßiger Theaterstücke (Perikles, Titus Andronikus) bis zur Schöpfung der 3 Trauerspiele König Lear, Hamlet u. Macbeth durch, die den Stempel vollendeter Genialität an sich tragen (vergl. d. Art. Hamlet, Macbeth) und denen Romeo und Julie und Othello wohl am nächsten stehen. Endlich tragen die Dichtungen S.s den Charakter ihrer Entstehungszeit u. ihres Volkes auch in den Schattenseiten zur Schau. Die frühern Dichtungen zeigen keineswegs den sittlichen Ernst der spätern und auch in letztern ist von positiv christlichem Charakter keine Spur aufzutreiben, der Mensch scheint bei S. überhaupt im Erdenleben ganz aufzugehen; trotz alldem bleibt S. einer der größten Dichter, die je gelebt haben, wegen der Wahrhaftigkeit aller seiner Dichtungen, näher weil seine tief angelegten u. nur scheinbar regellosen Stücke Charaktere aus allen Völkern, Ständen, Lebensaltern u. Geschlechtern, namentlich weibliche Charaktere, mit einer solchen Treue und Lebendigkeit, die Leidenschaften, namentlich die Liebe (Romeo und Julie nennt man mit Recht das hohe Lied der Liebe) und das Böse in allen Entwicklungsstufen und Lebensäußerungen so meisterhaft schildern, wie dies noch keinem Dichter vor und nach ihm gelungen; ob der staunenswerthen psychologischen Tiefe und Wahrheit seiner Gestalten mag man seinen Hang zum Wunderbaren, Phantastischen und Gräßlichen, ob der Wärme u. Zartheit der Empfindung u. einer Fülle des köstlichsten Humors (Falstaff) den sehr häufig derben, ja schmutzigen und mitunter gesuchten Witz vergessen. Der Reichthum, die Kühnheit und Klarheit der Gedanken und Bilder ist so groß, daß manches Stück beim jahrelangen Lesen stets neue Ausbeute gewährt, obwohl dadurch, daß S. viele Anspielungen auf Orts- und Zeitverhältnisse sich erlaubte, für ein bestimmtes Theaterpersonal dichtete, um Druck, richtigen Text und die Verbreitung seiner Stücke sich selber am wenigsten kümmerte, endlich dadurch, daß endlich die Originalhandschrift von manchem Stück verloren ging, einzelne Stellen schwer verständlich od. ganz unverständlich geworden sind. – S.s dichterische Erstlingsversuche »Venus und Adonis« sowie das Gegenstück »Lucretia« waren Formkünsteleien nach italienischen Mustern, noch in den ersten Lustspielen herrschte der italienische Geschmack vor, aber jene Erstlingsversuche hatten außer der Form doch noch einen Inhalt, was bei ähnlichen Dichtungen anderer keineswegs der Fall war, sie verriethen in einzelnen Zügen das Genie ihres Urhebers u. fanden deßhalb enthusiastische Aufnahme; bald emancipirte sich S. von den Italienern, obwohl ihm italienische Novellen den Stoff für dramatische Schöpfungen lieferten, und wandte sich entschieden zum engl. Volkslied, viele Volkslieder kommen zerstreut in seinen Theaterstücken vor. So wenig als die Jugendversuche haben die 1593–98 gedichteten 152 Sonette einen deutschen Uebersetzer gefunden, was übrigens wegen dem Inhalte dieser Dichtungen wenig verschlägt. Gewöhnlich theilt man S.s Stücke ein in historische, Trauer- und Lustspiele; von den 13 historischen Stücken behandeln 3 antike Stoffe (Julius Cäsar) im Geschmacke des 16. Jahrh., 10 dagegen Stoffe aus der engl. Geschichte u. bilden eine lebendige Gallerie der vaterländischen Helden (Richard II. 1593, König Johann 1596, die Heinriche u.s.f.); die Lustspiele (die Irrungen und die Widerspenstige, die beiden Veroneser, der Liehe Müh ist [200] verloren u.s.f.) gehören der 1. u. 2. etwa mit dem J. 1598 abschließenden Entwicklungsperiode des Dichters an. Ueber die Zeitfolge der einzelnen Stücke ist man vielfach im Unklaren, noch mehr über die Zahl der Stücke. Früher nahmen die engl. Erklärer nur 35 ächte an, die deutschen 43; der Streit der Kleingeister hierüber geht vielleicht niemals zu Ende und ist in neuester Zeit dahin gediehen, daß einerseits unbedeutende Machwerke dem Dichter zugeschrieben werden, anderseits bereits in Frage gestellt wurde, ob es jemals einen großen Dichter S. gegeben habe u. ob die vorhandenen Meisterwerke nicht Dichtungen verschiedener Herren vom Hofe der Königin Elisabeth und unter dem Namen S. blos gesammelt worden seien. – Seit dem 18. Jahrh. und besonders seit den letzten Jahrzehnten des selben hat sich eine umfangsreiche S.literatur gebildet, an der sich neben den Engländern am meisten die Deutschen betheiligten; 1841 wurde in London eine eigene Gesellschaft für Erforschung und Erklärung S.s gestiftet, die bereits weit mehr Bände mit Untersuchungen als S. selber mit allen ihm zugeschriebenen Dichtungen gefüllt hat. Von deutschen Schriften nennen wir nur die von Heinr. Heine (S.s Mädchen u. Frauen, Par. u. Leipz. 1839), Gervinus (S., Leipz. 1849–50) u. E. Vehse (S. als Protestant, Politiker, Psycholog und Dichter, Hamb. 1852); neueste engl. Gesammtausgaben von Collier, Knight, Halliwell, dazu die kritische, auch die pseudoshakspearschen Dramen umfassende von Delius (Elberfeld 1854 ff.), deutsche Uebersetzungen außer der von Schlegel u. Tieck durch Wieland, Eschenburg, Simrock, Ortlepp, Keller u. Rapp.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1857, Band 5, S. 199-201.
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199 | 200 | 201
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