Kaste

[727] Kaste (v. portug. casta, »Rasse, Stamm«, Übersetzung des ind. dschâti, »Stand«), von den Portugiesen nach der Erreichung Indiens zuerst gebrauchte Bezeichnung für die dortige gesellschaftliche Gliederung; auf europäische Verhältnisse übertragen dann zur Bezeichnung von Gesellschaftsschichten und Berufen verwendet, die sich streng durch Sitte und Gesetz von jeder andern abschließen, ohne daß eine nähere Berührung, Vermischung oder ein Aufsteigen aus den niedern in die höhern gestattet wäre. Da nach dieser Gesellschaftsordnung die Kinder unabänderlich in der mütterlichen K. verbleiben, so ist der individuellen Entwickelung hierbei schon durch die Geburt eine unübersteigliche Schranke gezogen. Zur Herausbildung von Kasten ist es bei den verschiedensten Völkern und in den verschiedensten Kulturkreisen gekommen; am bekanntesten ist das Kastenwesen in Indien geworden, wo es bei den Hindu wie auch auf Ceylon noch heute im höchsten Maße blüht; auch im alten Ägypten war es sehr streng ausgebildet. Erbliche Kasten gibt es dann bei den Japanern und Chinesen, im Osthorn Afrikas und in Oberguinea, in Polynesien etc. Auch die strenge Sonderung der Berufe in reine und unreine, die bei uns zum Teil bis ins 18. Jahrh. gedauert hat, gemahnt an das Kastenwesen.

Für die Entstehung der Kasten können sehr verschiedenartige Umstände und Sachlagen maßgebend sein. In den meisten Fällen wird man an kriegerische Umwälzungen in den betreffenden Ländern zu denken haben, indem sich dort die siegreiche Partei zur herrschenden K. aufwarf und die bisherigen Bewohner des Landes zu Unterworfenen, Besitzlosen und Leibeignen machte. Einen solchen Verlauf haben wir im alten Indien vor uns, wo nach dem Eindringen der Arier ins Pandschab die alteingesessene Bevölkerung systematisch in die vierte K., die der Sudra, hineingedrängt und gezwängt wurde. Hier besteht also ein wirklicher Rassengegensatz, eine strenge Scheidung der Farbe nach, für die der arische alte[727] Name für K.: Warna, d. h. Farbe, bezeichnend genug ist. Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse im Osthorn Afrikas, wo sich über einer ältern Schicht in gewaltsamem Einbruch eine kräftigere jüngere gelegt hat: die Somal, Galla und Danakil. Jene wird heute durch die Tumalod, Yiber und Midgan vertreten, die heute als Schmiede, Zauberer, Tänzer, Gerber, Sattler, Wasenmeister und Ärzte zwar ein ganz erträgliches Dasein führen, gesellschaftlich aber streng. von der jüngern Bevölkerungsschicht getrennt sind. Ähnliche unterdrückte Reste älterer Bevölkerungen sind die Laobés und die Griots in Senegambien. Aus Kriegsgefangenen hervorgegangen ist die unterste japanische K. der Yeta, die mit den aus obdachlosen Strolchen japanischen Ursprungs bestehenden Hinin zusammen die Hefe der Bevölkerung bilden; sie sollen Nachkommen koreanischer Kriegsgefangener sein, müssen außerhalb der Ortschaften wohnen, dürfen kein Haus eines Höherstehenden betreten und sind Abdecker, Gerber und Lederarbeiter, denen besonders das Wegschaffen des toten Viehes obliegt. Auch sonst entstehen aus verachteten Berufen leicht erbliche Kasten, da die Söhne der anrüchigen Handwerker meist nicht in die höhern Stände eindringen können, sondern wohl oder übel den Beruf des Vaters ergreifen müssen. Am längsten hat sich bei uns diese gewaltsame Absonderung auf die Scharfrichter erstreckt, die bis ins 18. Jahrh. hinein eine streng endogamische K. zu bilden gezwungen gewesen sind, da ein Übertritt zu andern, weniger verrufenen Ständen kaum möglich war. Im alten Indien zerfiel die Bevölkerung in altbrahmanischer Zeit in die vier großen Kasten der Brahmanen, Kshatriya, Waisya und Sudra. Von ihnen haben die ersten den alten arischen Typus besonders im nördlichen Indien ziemlich rein bewahrt, während südlich des Breitenkreises von Orissa auch unter ihnen sich viele dunkelhäutige Elemente finden. Für die Kriegerkaste der Kshatriya und die große Masse des gewöhnlichen Volkes haben, von den ersten blutigen Zeiten nach der Eroberung Indiens abgesehen, so starke Bestrebungen nach Reinhaltung des Blutes und der Rasse nie bestanden; beide Gruppen sind denn auch stark hinduisiert. Diese Blutmischung auf der einen Seite, die berufliche Differenzierung auf der andern sind die beiden Hauptursachen für die Tatsache, daß das heutige Kastenwesen Indiens in viele Hunderte, ja Tausende von Einzelgruppen aufgelöst ist; selbst die Brahmanen zerfallen in eine große Anzahl derart differenzierter Abstufungen, zwischen denen keine Wechselheiraten stattfinden, und die ihrerseits sich noch einmal in Sippen mit exogamischen Ehegesetzen zerlegen. Wie sehr im übrigen auch in Indien die wirtschaftlichen Verhältnisse das Kastenwesen beeinflussen und wie sie selbst das scheinbar Unvereinbare ermöglichen, zeigt die merkwürdige Tatsache, daß einer der zur Sudrakaste gehörigen Wanderstämme, der Pariastamm der Beldar, zur brahmanischen K. gerechnet wird, lediglich aus dem Grunde, weil man seiner bei der Herstellung der heiligen Teiche und Badeplätze nicht entraten kann. Durch das ständige Neuaufkommen vordem nicht bekannter Berufe wächst in Indien die Zahl der Kasten immer mehr. Wo kriegerische Eroberung die gesellschaftliche Neuordnung und Klassifizierung der Bevölkerung diktiert hat, wird naturgemäß die Kriegerkaste, der der Herrscher und der Adel zugehört, den obersten Rang einzunehmen sich bestreben; Gelehrte, Priester, Kaufleute, Handwerker, Gewerbtreibende haben sich jener K. unterzuordnen. In andern Fällen, wie im alten Ägypten mit seiner hierokratischen Verfassung, haben sich die Priester den ersten Rang zu sichern verstanden; hier gehörte der Landesherrscher ihrer K. an.

Infolge der durch Jahrtausende durchgeführten Abschließung sollen in manchen Fällen innerhalb der einzelnen Kasten ethnologische Merkmale, Rasseneigentümlichkeiten u. dgl. bewahrt worden sein, so daß die Angehörigen derselben beinahe an die körperlich verschiedenen Kasten gesellig lebender Insekten (Ameisen, Termiten) erinnern, deren Zahl mitunter auf 5–10 (Königinnen, Krieger, Arbeiter, Aufseher, Männchen etc.) steigt. Bei den Kulturvölkern haben sich die strengen Abschließungsverhältnisse ehemaliger Kasten meist bis zum Verschwinden gemildert, obwohl in Erbständen und Adelsvorrechten noch ein Nachklang jener alten Institutionen gefunden werden kann. Vgl. O. Beneke, Von unehrlichen Leuten (2. Aufl., Berl. 1889); Chr. Meyer, Die Parias der alten Gesellschaft (in den »Kulturgeschichtlichen Studien«, das. 1903); H. Schurtz, Urgeschichte der Kultur (Leipz. 1900); A. Krause, Die Pariavölker der Gegenwart (das. 1903); Fick, Die soziale Gliederung im nordöstlichen Indien zu Buddhas Zeit (Kiel 1897); Nesfield, Brief view on the caste system of the North-Western Provinces and Oudh (Allahabad 1885); Hopkins, The mutual relations of the four castes according to the Mānavad harmaçastram (Leipz. 1881); K. Ritter, Vergleichende Erdkunde, Bd. 5; Crooke, The tribes and castes of the Northwestern Provinces and Oudh; Steele, Law and custom of Hindu caste (Lond. 1868); Sherring, Hindu tribes and castes (das. 1872–81, 3 Bde.); Senart, Les castes dans l'Inde (»Revue des deux Mondes«, Par. 1896); J. Campbell, Ethnology of India (Kalkutta 1866); Hunter, The Indian empire (3. Aufl., Lond. 1896); Gehring, Südindien, Land und Volk der Tamulen (Gütersloh 1899); E. Schmidt, Ceylon (Berl. 1897) und Reise nach Südindien (Leipz. 1894); »Census of India«, zuletzt für 1901 (Kalkutta 1903).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 727-728.
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