Lille

[552] Lille (spr. lil', fläm. Ryssel), Hauptstadt des franz. Depart. Nord, liegt 23 m ü. M. in der weiten flandrischen Ebene an der kanalisierten Deûle, ist eine wichtige Industrie- und Handelsstadt, Knotenpunkt von acht Linien der Nordbahn und Festung ersten Ranges. Sie ist von einer bastionierten Enceinte umgeben, die im Laufe der Zeit mit dem Anwachsen der Stadt weiter hinausgerückt werden mußte und gegenwärtig aus den Jahren 1858–66 stammt, bei welcher Gelegenheit vier Gemeinden in den Stadtverband aufgenommen wurden. Von den alten Toren ist das Pariser, ein dorischer Triumphbogen von 1682, zu erwähnen. Von der Stadt durch eine weite Esplanade und durch Promenaden getrennt, ist die von Vauban erbaute Zitadelle, die ein unregelmäßiges Fünfeck bildet. L. ist von 11 Forts (6 ältern und 5 neuen) umgeben und bildet ein befestigtes Lager, das einen Umkreis von 50 km hat. Hervorragende architektonische Werke besitzt L. wenige, darunter einige alte Kirchen (St.-Maurice, St.-Sauveur und Ste.-Catherine aus dem 15. Jahrh. und Ste. – Madeleine aus dem 17. Jahrh., St.-André von 1702), die neue, 1855 im Stile des 13. Jahrh. begonnene, noch unvollendete Kirche Notre-Dame de la Treille und andre moderne Kirchen, eine schöne Synagoge (1892 vollendet), ferner die Börse (begonnen 1652, im Hof ein Standbild Napoleons I.), das Stadthaus (von 1846), das Präfekturgebäude (1868), der Kunstpalast (1893), das Militärkrankenhaus etc. Auf dem großen Platz erhebt sich die zur Erinnerung an die Belagerung von 1792 errichtete Säule. Außerdem besitzt L. Denkmäler der Generale Négrier und Faidherbe und des Senators Testelin. Die Zahl der Einwohner beträgt (1901) 162,920 (als Gemeinde 210,696). Von größter Bedeutung ist L. als Mittelpunkt einer reich entwickelten Industrie, die insbes. folgende Zweige umfaßt: die Leinenspinnerei mit 205,000 Spindeln und 12,000 Arbeitern; die Fabrikation von Leinenzwirn mit 3000 Arbeitern, dann von Leinenwaren (Damast); die Baumwollspinnerei mit 750,000 Feinspindeln und 10,000 Arbeitern; die Schafwollweberei und die Fabrikation von Tüll und Spitzen; die Färberei, Bleicherei, Druckerei und Appretur; den Bau von Maschinen, Lokomotiven, Eisenbahnmaterial und Werkzeugen, die Ölraffinerie, die chemische Produktion, Zuckerfabrikation, Bierbrauerei und Tabakfabrikation. Nicht minder bedeutend ist der Handel mit den Erzeugnissen der Industrie sowie mit Kolonialwaren, Wein, Branntwein, Likör und mit den Produkten der blühenden Landwirtschaft der Umgebung. Die gesamte Einfuhr hatte 1901 einen Wert von 26,5 Mill., die Ausfuhr von 19 Mill. Frank. In der Stadt verkehren Straßenbahnen. An Bildungsanstalten bestehen vier staatliche Fakultäten (1900/01 mit 1110 Studierenden), außerdem eine freie katholische Universität mit fünf Fakultäten, ein Lyzeum, ein Mädchenkollegium, eine höhere Handels-, eine Kunst-, eine Kunstgewerbe- und eine Ackerbauschule, eine Taubstummen- und eine Blindenanstalt, ein Musikkonservatorium, ferner eine Bibliothek (75,000 Bände und 800 Manuskripte), ein botanischer und ein zoologischer Garten, mehrere Museen, darunter eine wertvolle Gemäldegalerie (mit Werken von Rubens, van Dyck, Crayer, Jordaens etc.) und das Wicar-Museum (enthaltend 1500 Handzeichnungen italienischer Meister und die berühmte Wachsbüste eines jungen Mädchens aus dem 16. Jahrh., ein Vermächtnis des in L. gebornen Malers Wiear) etc. Auch befinden sich hier verschiedene gelehrte und gemeinnützige Gesellschaften,[552] eine Anzahl von Wohltätigkeitsanstalten, ein Theater und eine Rennbahn. L. ist Sitz der Präfektur, des Kommandos des 1. Armeekorps, eines Tribunals und Handelsgerichts, einer Handels- und Ackerbaukammer, einer Filiale der Bank von Frankreich, einer Börse und mehrerer auswärtiger Konsulate. – Julius Cäsar soll an der Stelle von L. zwischen der Deûle und Lys ein Schloß gebaut haben, daher der Name Insula, l'Ile. Die eigentliche Gründung der Stadt durch die Grafen von Flandern fällt in das 10. Jahrh. 1213 ward L. von Philipp II. August und 1297 von Philipp IV., dem Schönen, von Frankreich verwüstet und, als dieser den Grafen von Flandern gefangen genommen hatte, 1305 an Frankreich verpfändet. König Karl V. trat L., als er seinen Bruder Philipp von Burgund an Margarete von Flandern verheiratete, 1365 an Burgund ab. Nach Karls des Kühnen Tode fiel es an die Habsburger (1477). Franz I. von Frankreich entsagte im Vertrag zu Madrid seinen Ansprüchen darauf, was Heinrich IV. später bestätigte. 1667 eroberte Ludwig XIV. L. und behielt es im Frieden zu Aachen. Zwar wurde es 1708 vom Prinzen Eugen nach einer hartnäckigen Belagerung erobert, doch mußten es die Österreicher 1713 wieder an Frankreich zurückgeben. 1792 hielt L. erfolgreich die Belagerung durch die Österreicher aus. Vgl. van Hende, Histoire de L., 620–1804 (Lille 1889); Delièvre, L. au XVIII. siècle (das. 1894); Sautal, Le siège de la ville et de la citadelle de L. en 1708 (das. 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 552-553.
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