Straßenbahnen

[99] Straßenbahnen (hierzu Tafel »Straßenbahnbau« mit Text), in die Oberfläche der Straßen eingefügte Schienenwege, die mit tierischen oder mechanischen Kräften befahren werden, ohne den Straßenfuhrwerken ein Hindernis darzubieten. Die S. dienen in erster Linie dem Personenverkehr innerhalb der Städte wie zwischen diesen und den naheliegenden Vororten. Längere Bahnen auf ländlichen Straßen für Personen- und Güterverkehr tragen mehr den Charakter von Nebenbahnen, denen zur Ersparnis eines eignen Bahnkörpers die Mitbenutzung der Landstraße gestattet ist, und die dann eine wesentliche Entlastung des Straßenverkehrs, daher eine Herabminderung der Straßenunterhaltungskosten herbeizuführen pflegen. Solche ländliche S. werden in der Regel an die eine Seite der Landstraße gerückt und bisweilen von dem übrigen, zur regelmäßigen Befahrung dienenden Teil abgetrennt; in diesem Falle sind sie kaum noch als S. zu bezeichnen (vgl. Fuhrwerksbahnen).

Die Anfänge der S., soweit sie als Spurwege (noch jetzt bestehende Bezeichnung für Eisenbahnen im Holländischen) anzusehen sind, lassen sich bis in das klassische Altertum zurückverfolgen. Doch haben die heutigen S., ebenso wie die Eisenbahnen überhaupt, ihren eigentlichen Ausgang von den Geradführungen und Spurbahnen in deutschen Bergwerken genommen, die nachweislich schon im 16. Jahrh. vorkamen und in dessen zweiter Hälfte durch deutsche Bergleute nach England übertragen wurden. Die ersten S. im heutigen Sinn entstanden 1825–30 im westfälischen Kohlenrevier, demnächst in England, zur Kohlenbeförderung. Im nächsten halben Jahrhundert entwickelte sich der Bahnbetrieb vorwiegend als Fernverkehr für Personen und Massenverkehr für Güter. Erst das als Folge hiervon zu betrachtende riesige Wachstum der Verkehrszentren nach Ausdehnung und Einwohnerzahl zeitigte das Bedürfnis nach Beschleunigung des Personenverkehrs innerhalb der Großstädte und nach den Vororten. Die erste Straßenbahn im engern Sinne finden wir schon 1852 in New York, erbaut von Loubet. Ihr folgten rasch gleichartige Anlagen in allen großen Städten des Ostens und später des Westens, so daß es jetzt in den Vereinigten Staaten eine sehr große Anzahl S. (in Städten und auf dem Lande) gibt, die fast sämtlich elektrisch betrieben werden. Gegenwärtig finden wir in allen großen Städten der Welt, mit fast einziger Ausnahme von London und Paris, wo neben nicht allzu vielen Straßenbahnlinien Omnibusse und Untergrundbahnen den Massenverkehr bewältigen, ein mehr oder weniger gut gefügtes Netz von S. In Deutschland entstand die erste Straßenbahn 1865 zwischen Berlin und Charlottenburg (Pferdebetrieb). Gegenwärtig erstreckt sich in Berlin und den Vororten das Straßenbahnnetz auf ca. 378 km mit elektrischem Betrieb. Von den deutschen S. (zusammen gegen 3500 km) dient der größere Teil ausschließlich dem Personenverkehr. Die S. bewirken, daß der Straßenverkehr sich festen Normen fügt und sich rascher und regelmäßiger abwickelt, die Straßenoberfläche weniger abgenutzt wird und die gesundheitlichen Verhältnisse infolge der Näherrückung der Vororte an die Großstädte verbessert werden, nicht zu vergessen die moralischen und sozialpolitischen Wirkungen, die aus der Verbesserung der Wohnungsverhältnisse besonders der Arbeiter naturgemäß hervorgehen.

Bei alledem sind die S. sämtlich Erwerbsunternehmungen und im Besitz von Gemeinden, Aktiengesellschaften oder einzelnen Personen; in den meisten Fällen sichert sich die Verwaltung, welche die Konzession zur Anlage und zum Betrieb erteilt, außer einer Abgabe, die z. B. bei der Großen Berliner Straßenbahn 1905 über 2,4 Mill. Mk. betrug, das Ankaufsrecht oder den unentgeltlichen Heimfall nach gewisser Zeit. Mehr und mehr trachten die Kommunalverwaltungen danach, die S. selbst in Eigentum und Betrieb zu übernehmen. Für die Rentabilität einer Straßenbahn sind außer den überall gültigen Punkten folgende besonders zu beachten: richtige Wahl der Linien entsprechend dem Zuge des Verkehrs, der Lage der Bahnhöfe und Kraftstationen im Sinne tunlichster Ersparnis von Betriebskraft und -Material, der Betriebszeiten bezüglich ihres täglichen Beginnes und Schlusses, richtige Abmessung der Zahl und Laufzeit der Züge nach dem Verkehrsbedürfnis und unter Hinblick auf etwa vorhandenen oder zu erwartenden Wettbewerb, und vor allem vorsichtige Wahl der Betriebsweise. In allen diesen Fragen hat sich das Interesse des Unternehmers mit dem des Konzessionserteilers und des Publikums auszugleichen. Naturgemäß will der Unternehmer außer den Selbstkosten auch Gewinn haben, der Fahrgast für möglichst geringes Entgelt eine möglichst lange Strecke befördert sein. Der Ausgleich wird gefunden, indem der Fahrpreis entweder nach Teilstrecken festgesetzt wird mit oder ohne Befugnis zum Übergang aus einem Wagen in den andern, von einer Strecke auf die andre, oder ein Einheitspreis für die jedesmalige Benutzung der Bahn ohne Rücksicht auf die Länge der Beförderungsstrecke zugestanden wird. Im erstern Falle wird die ganze Linie in eine Anzahl gleichlanger Strecken zerlegt, von denen für den Grundpreis (in Deutschland gewöhnlich 10 Pf.) eine gewisse Zahl durchfahren werden kann; für die Fortsetzung der Fahrt ist ein Zuschlag (gewöhnlich von 5 zu 5 Pf. steigend) zu zahlen,[99] dergestalt, daß zumeist je länger die Fahrt, sie um so billiger wird, d. h. für jede 5 Pf. Zuschlag wird eine größere Fahrstrecke bewilligt, eine Art Rabatt, wie im Geschäftsleben gegenüber dem Abnehmer einer größern Menge von Ware allgemein üblich. Außerdem nähert man sich dadurch mehr und mehr dem Einheitspreis, der schließlich überall erstrebt wird, zum Teil auch schon, wie in Berlin, eingeführt ist. Ist der Einheitspreis wegen der Einfachheit und der Erleichterung der Kontrolle vorzuziehen, so kommt dabei doch wesentlich seine Höhe in Betracht. Im allgemeinen wird verlangt, daß er den Grundpreis für die jetzige einfache Fahrt nicht übersteige, während es doch billig wäre, den jeweiligen Durchschnittspreis zugrunde zu legen. Letzterer bewegt sich in Deutschland unter normalen Verhältnissen meist zwischen 10 und 15 Pf. Bei dem Teilstreckenbetrieb wird dem regelmäßigen Benutzer fast überall ein Rabatt in der Form des Abonnements gewährt. Die Befugnis zum Wagen- und Streckenwechsel wird wegen der schwierigen Kontrolle nur an wenigen Orten bewilligt. Wo keine Fahrkarten ausgegeben werden, sondern die Bezahlung des Fahrgeldes durch Einwurf in Sammelbüchsen erfolgt, ist dies meist ganz ausgeschlossen. Welche Bedeutung die S. im engern Sinne für die Kapitalwirtschaft besitzen, geht daraus hervor, daß für sie in Deutschland allein über 819 Mill. Mk. Grundkapital im Wege der Aktienausgabe oder Darlehnsgewährung aufgebracht worden sind. Die Rolle der S. in der Volkswirtschaft ergibt sich aus dem Umfang der Dienste, die sie der Bevölkerung durch Ersparnis an Zeit und Ermöglichung gesündern Wohnens leisten. Beispielsweise hat 1905 die Große Berliner Straßenbahn 350,500,000 Personen befördert und hierfür 33,260,538 Mk. eingenommen. Dies ergibt auf die Person eine Durchschnittseinnahme von rund 9,5 Pf. Nimmt man an, daß jede Person bei jeder Fahrt nur fünf Minuten Zeit gespart habe, so hat sie jede Minute mit rund 2 Pf. bezahlt, gewiß ein sehr niedriger Preis, wenn man bedenkt, daß der Körper während der Fahrt ruht. Die Zeitersparnis ist aber sicher zu niedrig gegriffen, obgleich schon bei dieser Annahme die Fahrgäste insgesamt 2,920,833 Arbeitstage zu 10 Stunden gespart haben, die der Gesamtheit zugute gekommen sind. Man kann hiernach den Totalnutzen ermessen, der sich für das Nationalvermögen an Arbeitskraft aus dem Vorhandensein der S. ergibt. Im J. 1905 haben in Preußen von 138 S. 18 keinen Reingewinn abgeworfen, bei 30 betrug der Reingewinn 1–3 Proz., bei 7 bis zu 4 Proz., bei 31 bis zu 5 Proz., bei 46 mehr als 5–10 Proz. und bei 6 Bahnen über 10 Proz. des Anlagekapitals. In Deutschland haben von den 221 S. nur 26 keinen Reingewinn abgeworfen.

Nach der Statistik der »Kleinbahnen« im Deutschen Reich für das Jahr 1905, die eingehende Angaben über S. enthält, befanden sich im Betrieb in Preußen 154 S. mit 2404 km, in den andern Bundesstaaten 67 S. mit 1036 km, insgesamt also 221 mit 3410 km Länge. Die Spurweite betrug bei den meisten Bahnen 1,435 m oder 1,0 m; kleinere oder größere Spurweiten waren nur in einzelnen Fällen vorhanden. Als Betriebsmittel wurden bei der Mehrzahl der Bahnen elektrische Motoren, bei einzelnen Dampflokomotiven, Pferde oder Drahtseile verwandt. Es wurden unter anderm als Betriebsmittel verwandt 94 Dampflokomotiven, bez. Dampfmotorwagen gegenüber 9206 elektrischen Lokomotiven und elektrischen Motorwagen. Den größten Wagenpark in Deutschland besitzt die Große Berliner Straßenbahn mit 2493 Wagen und 82,842 Sitz- und Stehplätzen. Im Betrieb der deutschen S. wurden über 44,000 Beamte und Arbeiter beschäftigt. Die Anzahl der beförderten Personen betrug über 1634 Mill.; davon beförderte die Große Berliner Straßenbahn, wie erwähnt, 350 Mill., die Hamburger 130 Mill., Münchener 55 Mill., Leipziger 22 Mill. Die Gesamteinnahmen betrugen 169 Mill. Mk., die durchschnittliche Einnahme auf jeden Fahrgast 9,9 Pf. An Unfällen sind vorgekommen: 152 Tötungen und 768 schwere Verletzungen.

Verwandt mit den S. im engern Sinne sind die Bahnen auf Landstraßen, die man vielfach auch als Lokalbahnen oder Vizinalbahnen bezeichnet. Sie sollen vorwiegend ländlichen Bezirken mit geringer Gewerbtätigkeit und schwacher Bevölkerung Anschluß an die Hauptadern des Verkehrs, die Bahnen höherer Ordnung, gewähren und damit die Beteiligung dieser Bezirke am Gewerbebetrieb der Großstädte ermöglichen. Die Entwickelung dieser S. im weitern Sinne datiert aus den 1870er Jahren und wird neuerdings fast überall von den staatlichen und kommunalen Organen lebhaft gefördert. Vgl. hierüber den Artikel »Kleinbahnen«. Über Fuhrwerksbahnen s. d. Weiteres über die Bauart der S. s. auf beifolgender Tafel. Vgl. Clark, Tramways (2. Aufl., Lond. 1894; deutsch, Dresd. 1886); Laißle, Straßenbau, einschließlich der S. (4. Aufl., Leipz. 1907, im »Handbuch der Ingenieurwissenschaften«); »Der Gasbetrieb (System Lührig) für S.« (hrsg. von der Deutschen Gasbahngesellschaft in Dessau, 1895); Köstler, Über nordamerikanische S. (Wien 1896); »Die elektrischen S. mit oberirdischer Stromzuführung nach dem System der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft in Berlin« (2. Aufl., Berl. 1897); Weil, Die Entstehung und Entwickelung unsrer elektrischen S. (Leipz. 1899); Fr oft, Elektrische Tertiärbahnen (Halle 1901); »Die deutschen elektrischen S., Sekundär-, Klein- und Pferdebahnen« (7. Aufl., Leipz. 1903); Weicht, Bau von Straßen und S. (Steglitz 1902); Herzog, Elektrisch betriebene S. (Münch. 1903); Maréchal, Les Tramways électriques (2. Aufl., Par. 1902); Müller und Mattersdorff, Die Bahnmotoren für Gleichstrom (Berl. 1903); Schimpff, Die S. in den Vereinigten Staaten von Amerika (das. 1903); Buchwald, Der Oberbau der Straßen- und Kleinbahnen (Wiesbad. 1903); Weiß, Die Tarife der deutschen S. (Karlsr. 1904); »Zeitschrift für das gesamte Lokal- und Straßenbahnwesen« (Wiesbad., seit 1882); »Illustrierte Zeitschrift für Klein- und Straßenbahnen« (Berl., seit 1895); »Die Elektrizität. Zeitschrift für elektrische Bahnen und Kraftanlagen« (Leipz., seit 1892); »Zeitschrift für Transportwesen und Straßenbau« (Berl., seit 1884); »Elektrische Kraftbetriebe und Bahnen« (Münch.) und Literatur bei »Kleinbahnen« und »Elektrische Eisenbahn«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 99-100.
Lizenz:
Faksimiles:
99 | 100
Kategorien:

Buchempfehlung

Hume, David

Dialoge über die natürliche Religion

Dialoge über die natürliche Religion

Demea, ein orthodox Gläubiger, der Skeptiker Philo und der Deist Cleanthes diskutieren den physiko-teleologischen Gottesbeweis, also die Frage, ob aus der Existenz von Ordnung und Zweck in der Welt auf einen intelligenten Schöpfer oder Baumeister zu schließen ist.

88 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon