Totensagen

[637] Totensagen, Sagen und Gebräuche, die sich an die Vorstellungen vom Fortleben nach dem Tode knüpfen, sich zum Teil aus dem grauesten Altertum bis auf unsre Tage erhalten haben und jetzt durch den Spiritismus von neuem belebt werden. Man meint, daß die Seele, nachdem sie in Gestalt eines Wölkchens, Schmetterlings, einer Schlange etc. dem Mund entflohen, in ihrem neuen Zustand doch nicht ohne alle irdischen Bedürfnisse sei, auf deren Befriedigung verschiedene Bestattungszeremonien (s. Manendienst, Menschenopfer und Totenbestattung) abzielen. So werden die Fenster des Sterbezimmers geöffnet, um der Seele freie Bahn zu gewähren, und bei der Totenwaschung,-Einkleidung und -Einbettung bestimmte Rücksichten und wohl auch Vorsichtsmaßregeln gegen das Wiederkommen angewendet. Die Römer opferten den Verstorbenen von jeder Mahlzeit, indem sie von Speise und Trank etwas auf den Boden schütteten; die Katholiken lassen Messen für die Seelenruhe lesen, und auch durch zu vieles Weinen darf der Tote, der die Tränen im Krüglein sammeln muß, nicht gestört werden. Waren derartige Pflichten und Abfindungen versäumt worden, so glaubte man, daß der Tote keine Ruhe habe und die Nachgebliebenen beunruhige. Auch Menschen, die nicht aus gelebt haben und ermordet oder hingerichtet wurden, finden keine Ruhe, bis der Mörder entdeckt ist, bei dessen Annäherung ihre Wunden von neuem aufbrechen (s. Bahrrecht), oder bis ihre Verbrechen gesühnt sind. Aber auch unerfüllte kirchliche und bürgerliche Verpflichtungen rauben die Grabesruhe; die vor der Hochzeit gestorbene Braut besucht den Bräutigam, die Wöchnerin das nachgelassene Kind, und die im Grabe weiterlebenden [637] Vampire saugen ihren Angehörigen das Blut aus. Sind die Toten befriedigt und geläutert, so ziehen sie in ein besseres Land (Elysium), das in der Unterwelt oder da, wo die Sonne zur Ruhe geht, gedacht wird. Manche Völker erzählten von einer Toteninsel oder einem Totenlande jenseit des Meeres (Avallon der Engländer, Brittia der Gallier und Deutschen), zu dem ein Fährmann (Charon) die Verstorbenen hinüberfährt, wo sie dann unter dem milden Zepter eines Totenkönigs ein schattenhaftes Dasein führen; anderwärts müssen sie einen Berg der Seligen (s. Glasberg) ersteigen. Aus dem Jenseits können sie nur durch Totenbeschwörer (s. Nekromantie) oder durch spiritistische Veranstaltungen zurückgerufen werden, um den Lebenden Auskünfte, Orakel, Ratschläge etc. zu erteilen. Nur am Allerseelentag, der in den meisten Ländern aus Ende des Kirchenjahres, jetzt in den Herbst gelegt ist, kommen sie freiwillig als langer »Zug des Todes«, die Kinder in weißen Hemdchen unter Führung und Obhut der Totenmutter (Frau Holle), zur Erde, besuchen eine einsam gelegene, um Mitternacht erleuchtet erscheinende Kirche, worin der verstorbene Pfarrer Gottesdienst abhält, und die Gräber, auf die dann vielfach brennende Lichter gestellt werden. Im heidnischen Rom wurde ein Laren- und Lemurenfest gefeiert, bei dem man Totenspeisen auftrug, weil dann die Unterwelt offen stand und die Toten scharenweise die Wohnungen besuchten. In Rußland trägt man noch heute am Allerseelentag Speise und Trank auf die Gräber. Man spricht auch von Vorzeichen, die einer bestimmten Person den baldigen Tod verkünden sollen, von einem Anpochen des Todes an der Tür, von dem Rufe des Uhu als Totenvogel, von einer Totenuhr, von einem freiwilligen Anschlagen der Glocken, wenn ein hoher Geistlicher sterben soll, von dem mahnenden Erscheinen einer weißen Frau in verschiedenen Fürstenhäusern, von einem Voraussehen des künftigen Leichenzugs (s. Zweites Gesicht). Überhaupt wurde der Tod früh personifiziert und als Dämon gedacht, der mit dem Erkrankten ringt und ihn endlich niederwirft. In Seuchezeiten wollte man ihn als von Ort zu Ort ziehenden oder auf lahmem Klepper durch das Stadttor einziehenden Pestmann erblickt haben, der die zum Tode Erwählten bloß mit seinem starren Blick ansah oder sie anblies, um sie sofort auf das Sterbebett zu werfen. Sehr eigentümlich sind die über ganz Deutschland verbreiteten Sagen von der Wiederkehr einer scheintot begrabenen Frau in ein Haus, bei dem ein Schimmel aus dem Dachfenster sieht. Solche Häuser zeigt man in Köln, Lübeck, Danzig, Nürnberg und an vielen andern Orten; die Sage bezieht sich auf die alte Sitte, daß Totgeglaubte durch das Dachfenster einsteigen mußten. Das Mittelalter war besonders reich an bildlichen Darstellungen vom »Triumph des Todes«, zu denen Allegorie und Sage den Stoff lieferten (s. Totentanz). Vgl. Rochholz, Deutscher Glaube und Brauch im Spiegel der heidnischen Vorzeit (Berl. 1867, 2 Bde.); Henne am Rhyn, Die deutsche Volkssage (2. Aufl., Wien 1879); Kleinpaul, Die Lebendigen und die Toten in Volksglaube, Religion und Sage (Leipz. 1898).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 637-638.
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