Volkshymnen

[233] Volkshymnen (Nationalhymnen) nennt man die bei patriotischen Feierlichkeiten und besonders auch im internationalen Verkehr als musikalische Repräsentation der Nationen und Natiönchen zur Geltung kommenden Gesänge, die somit eine Art offiziellen Charakter erhalten haben, der dieselben trotz sehr verschiedener Entstehungsgeschichte in gewissem Sinn auf eine Stufe stellt. Das höchste Alter hat von allen V. die niederländische Volkshymne »Wilhelmus van Nassouwe«, ein kurz nach 1568 entstandenes, seit 1576 bestimmt nachweisbares Geusenlied, das von Marnix van St. Aldegonde gedichtet ist, dessen Melodie aber ein noch älteres französisches Jagdlied sein soll. Die beiden englischen V. sind bereits erheblich jüngern Ursprungs; das »Rule Britannia« ist die Schlußnummer eines Maskenspiels »Alfred« von Thom. Augustine Arne (1. Aug. 1740, Text von Thompson und Mallet), das »God save the king« wurde nach Chrysanders Nachweisen 1743 von Henry Carey gedichtet und komponiert (vgl. auch W. Cummings, »God save the king«, Lond. 1902). Mit Unterlegung neuer Texte wurde die Melodie des »God save« auch zur dänischen Volkshymne (1750, Text von Harries), zur deutschen Volkshymne »Heil dir im Siegerkranz« (1793, Text von B. G. Schumacher; auch als »Gott schütze Sachsenland« und in andern Versionen bekannt) und zur schweizerischen Volkshymne (1830, Text von Wyß). Als eine Art Repräsentation der französischen Nation hat vorübergehend das Soldatenlied »Malbrouc s'en va-t-en guerre« gegolten (z. B. in Beethovens »Schlacht von Vittoria«), das aber nichts mit Marlborough, dem Sieger von Malplaquet (1709), zu tun hat, sondern bereits im 16. Jahrh. bekannt war. Dagegen ist die MarseillaiseAllons, enfants! De la patrie etc.«), gedichtet und komponiert 1792 von Rouget de Lisle, zunächst zum Revolutionslied, allmählich aber auch zur wirklichen Volkshymne Frankreichs geworden. Die österreichische Volkshymne »Gott erhalte Franz den Kaiser« ist 1797 von Joseph Haydn komponiert (Text von L. L. Hauschka), mit einem neuen Text (1841) von Hoffmann von Fallersleben: »Deutschland, Deutschland über alles«, zu einer der beliebtesten deutschen V. geworden, die das einst so populäre, aber zur offiziellen internationalen Repräsentation nicht mehr geeigneten »Was ist des Deutschen Vaterland?« von E. M. Arndt, Musik von Gustav Reichardt (1825), ganz verdrängt hat. Eine preußische Volkshymne: »Ich bin ein Preuße, kennst du meine Farben?«, schufen 1830 zum Geburtstage Friedrich Wilhelms III. Bernhard Thiersch (Text) und A. H. Neithardt (Musik). Die Bedeutung einer echten Volkshymne erlangte seit dem Krieg 1870/71 die »Wacht am Rhein« (»Es braust ein Ruf wie Donnerhall«), gedichtet von Max Schneckenburger, komponiert schon 1854 von Karl Wilhelm; doch ist dieselbe wegen ihrer antifranzösischen Spitze nicht bedingungslos für die internationale Repräsentation geeignet. Die belgische Nationalhymne, die »Brabançonne«, ist 1830 von dem Schauspieler Dechet (genannt Jenneval) gedichtet und von Fr. van Campenhout komponiert, die russische »Bojé tsare krani« 1833 von Shukowskij gedichtet und von Alexis v. Lwow komponiert. Ins 18. Jahrh. zurück reichen die V. der Vereinigten Staaten von Nordamerika, das »Yankee doodle« ist seit etwa 1755 nachweisbar, wenn auch anfänglich mit schwankendem Text; der Dichter, vielleicht auch Komponist, war ein Dr. Schuckburgh (nach Groves »Dictionary«). Das »Hail Columbia« ist 1798 von Joseph Hopkins komponiert, das heute offiziellste »Star-spangled banner«, auf die Melodie eines alten Trinkliedes von Samuel Arnold gesungen, ist 1814 von Francis S. Key gedichtet. Zur Ergänzung seien noch genannt die dänische Volkshymne »Kong Christian stod ved höjen mast« (aus einem Singspiel von Joh. Hartmann, 1780, Text von Joh. Ewald), das schwedische »Königslied« von Lindblad, die japanische Volkshymne »Ki mi gajowa«, deren Text 1000 Jahre alt sein soll, die Melodie 1880 von Hayassi komponiert, die transvaalische Burenhymne von Félicie van Rees (1875), die venezolanische Volkshymne »Gloria al bravo pueblo« von Juan Landanta (1814), die argentinische »Sean eternas los laureles« von Parera (1814), die mexikanische von Jaime Nunó (1855). Vgl. H. Abert, Eine Nationalhymnen-Sammlung (»Zeitschrift der Internationalen Musikgesellschaft«, Dezember 1900); O. Böhm, Die V. aller Staaten des Deutschen Reichs (Wismar 1901); Samuel Rousseau und Montorgueil, Les chants nationaux de tous les pays (Par. 1901).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 233.
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