Amnestie

[70] Amnestie oder die Erklärung von Seiten der herrschenden Macht, daß das Vergangene vergeben und vergessen sein solle, wird gewöhnlich nach stürmischen und leidenschaftlichen Zeiten gegeben, um gegenseitigen Haß auszugleichen und die Feinde miteinander zu versöhnen. So ist es seit dem 14. Jahrh. gewöhnlich, daß in den Friedensschlüssen den Unterthanen der Mächte, welche den Krieg führten, für Beleidigungen, die sie während des Kriegs einander angethan, sowie für den Vorschub, den Einzelne dem Feinde geleistet, Amnestie zugesichert wird. Auch wird sehr oft den eines politischen Vergehens wegen Flüchtigen und in andern Ländern Lebenden Amnestie bewilligt, wenn das Vergehen, dessen sie sich schuldig gemacht haben, im Laufe der Zeit minder strafwürdig erscheint. Die meisten Amnestien aber werden nach Aufständen, Bürgerkriegen und Kämpfen gegen die bestehende Gewalt ertheilt, wo es wegen der Menge der Schuldigen nicht klug und in vielen Fällen gar nicht thunlich sein würde, gegen die Überwundenen die ganze Strenge der Gesetze in Anwendung zu bringen; doch sind sie fast immer mit Ausnahmen begleitet, um wenigstens die Schuldigsten bestrafen zu können. So erließ der König von England, Karl II., als er 1660 den Thron seiner Väter wieder bestieg, eine allgemeine Amnestie, von welcher nur die Richter König Karl I., welche ihn zum Tode verurtheilt hatten, ausgeschlossen waren. Mannichfache Amnestien sind in Folge der franz. Revolution erschienen. Nach der Wiedereinsetzung der Bourbons im J. 1814 ward zwar keine eigentliche Amnestie gegeben; allein die Charte sprach den Grundsatz aus, daß Keiner seiner politischen Meinungen wegen verfolgt werden solle. Napoleon erließ, als er 1815 von Elba zurückgekehrt war, eine Amnestie für alle Die, welche zum Umsturz des Kaiserthrons beigetragen hatten, von welcher er nur Einige der Schuldigsten, unter ihnen den Fürsten Talleyrand, ausschloß; die Amnestie Ludwig XVIII. aber im J. 1816 enthielt sehr viele Ausnahmen, unter Andern den Marschall Ney, welcher hingerichtet wurde, und alle Diejenigen, welche für den Tod Ludwig XVI. gestimmt und während der hundert Tage der Regierung Napoleon's im J. 1815 ein öffentliches Amt angenommen hatten. Denen bei der Revolution in Spanien im J. 1820 Betheiligten ward, mit sehr wenigen Ausnahmen, 1832 Amnestie gegeben; sehr viele Ausnahmen aber enthielt die Amnestie, welche der Kaiser Nikolaus in Folge der poln. Revolution im J. 1833 erließ. Nicht immer wurden indeß die Amnestien gewissenhaft gehalten; das entsetzlichste Beispiel dieser Art ist die Ermordung der Protestanten in Frankreich während der sogenannten Bluthochzeit im J. 1572, nachdem mit ihnen vorher scheinbar Friede geschlossen worden war. Oft werden auch Amnestien bekannt gemacht, wenn die Macht, welche sie erläßt, noch gar nicht einmal im Stande ist, die Verbrecher, für welche sie Verzeihung verspricht, zur Untersuchung und Strafe zu ziehen. So gewährte in dem span. Bürgerkriege, welcher noch gegenwärtig [70] wüthet, Don Carlos zu Anfange des I. 1834 allen Denen Amnestie, welche die Sache der Königin Regentin verlassen und die seinige unterstützen würden. Zur Amnestie kann auch der Generalpardon gerechnet werden, der während oder nach Beendigung eines Krieges allen Überläufern und Ausreißern Erlaß der verwirkten Strafe verheißt, unter der Bedingung, daß sie sofort oder binnen einer bestimmten Frist zu ihrer Pflicht zurückkehren.

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Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 70-71.
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