Kretinen

[664] Kretinen sind geistig und körperlich von der Natur vernachlässigte Menschen, die sich von gewöhnlichen Blödsinnigen dadurch unterscheiden, daß sie fast immer gewisse Misbildungen des Körpers zeigen, die man an jenen fast nie beobachtet, und daß ihr unvollkommener Zustand das Ergebniß ganz eigenthümlicher, an gewisse Örtlichkeiten gebundener Einflüsse der Außenwelt zu sein scheint. Die Kretinen beurkunden in Allem, was sie thun und lassen, eine auffallende Armuth an Geist und Gemüth, verrathen nur thierische Leidenschaften und Begierden, sind geil, gefräßig, unreinlich, faul und widerlich, oft blind, taub und stumm, und von Gestalt meistens klein, indem sie selten die Größe von 4 Fuß und einigen Zollen überschreiten, haben dabei oft misgestaltete Gliedmaßen, die sie fast immer gebogen halten und gewöhnlich einen unförmlichen Kopf mit einer unten breitern, oben abgeplatteten und nach hinten gedrängten Stirn, dicke, aufgelaufene Augenlider, triefende, rothe Glotzaugen, eine plattgedrückte Nase, einen wegen des Herabhängens des Unterkiefers beständig offenstehenden Mund, aus welchem die dicke, angeschwollene Zunge hervorhängt, einen dicken und kurzen oder auch magern und langen Hals mit einem Kropfe von mehr oder weniger beträchtlichem Umfange, eine welke, bleiche, mit krätz- und flechtenartigen Ausschlägen bedeckte Haut, schlaffes, weiches Fleisch, ein erdfahles, altes Ansehen. Die meisten Kretinen sterben, bevor sie das dreißigste Lebensjahr erreicht haben. Da man Kretinen nur in den tiefen, engen und schmalen Thälern hoher Gebirge antrifft, wie z.B. in der Schweiz, namentlich in Wallis, in Tirol u.s.w., so müssen die Hauptursachen des Übels wol in örtlichen Verhältnissen begründet sein. Erblich scheint das Übel nicht zu sein, wol aber mögen mangelhafte Erziehung, das Aufwachsen in Schmuz, Trägheit, ungesunde Wohnungen, schlechte Nahrung, Völlerei, Trunksucht, überhaupt eine mehr thierische als menschliche Lebensweise zur Erzeugung des Kretinismus wesentlich beitragen. Entwickelt sich übrigens der Kretinismus unter den genannten Umständen nicht bis zum achten oder zehnten Lebensjahre, so geschieht es später nicht mehr. Am auffallendsten beurkundet sich die Macht der endemischen Einwirkungen bei Fremden, die sich in den genannten Gegenden ansiedeln, indem die Kinder derselben häufig von Kretinismus befallen werden. In Familien, in denen der Erstgeborene ein Kretine ist, werden es gewöhnlich auch die nachkommenden Kinder. Dagegen erzeugen zuweilen Kretinen, die in gesunde und wohlgestaltete Familien heirathen, gesunde und geistvolle Kinder, während andererseits wieder ganz gesunde Ältern Kretinen das Leben geben. In Gegenden und Ortschaften, wo man die meisten Kretinen antrifft, haben auch die Einwohner, welche sich vergleichsweise noch am wohlsten befinden, eine schlechte, ungesunde Gesichtsfarbe, etwas Schlaffes und Mattes in der ganzen Körperhaltung und fast alle entzündete, triefende Augen. Ferner gibt es überall, wo es Kretinen gibt, auch Kröpfe. Übrigens scheinen das Gesündermachen der Gegenden, die Fortschritte der Civilisation, die Beförderung der Industrie und eines allgemeinern Wohlstandes den Kretinismus zu vermindern. In den Gegenden, wo sie vorkommen, werden die Kretinen häufig mit einer Art von religiöser Scheu betrachtet und gepflegt. – Eine ähnlich wie die Kretinen verwahrloste Menschengattung sind die Cagots, welche im südl. Frankreich in der Nähe der Pyrenäen leben. Man leitet ihren Ursprung von den Westgothen oder von den Arabern ab. Sie sind mit einem erblichen Aussatz behaftet und wurden im Mittelalter als viehischen Sünden ergebene, von Gott verurtheilte Menschen verabscheut. Noch jetzt findet man sie als elende Bettler in einem an die Viehheit grenzenden Zustande, obschon Versuche gelehrt haben, daß sie nicht ganz bildungsunfähig sind.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 664.
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