Perikopen

[444] Perikōpen, ein griech. Wort, nennt der kirchliche Sprachgebrauch diejenigen Abschnitte der h. Schrift, welche beim Gottesdienste der Sonn- und Festtage eines jeden Jahres der Gemeinde vorgelesen und zugleich als Predigttexte gebraucht werden. Die Auswahl feststehender Bibelabschnitte für die einzelnen Sonn- und Festtage entstand in der Kirche frühzeitig, aber nur nach und nach durch den kirchlichen Gebrauch und nicht ohne Beziehung auf die Sitte, nach welcher bei den religiösen Versammlungen den Juden gewisse Abschnitte aus dem A. T. vorgelesen wurden. Schon im 5. Jahrh. scheint die Wahl der Perikopen abgeschlossen gewesen zu sein, mit Ausnahme der den später entstandenen Festen zugehörigen, und nach näherer Bestimmung derselben durch Papst Gregor den Großen im 6. Jahrh. gelangten sie zum allgemein kirchlichen Gebrauche durch das Homiliarium Karl's des Großen. Dies war eine Sammlung vorhandener Predigten, in denen die Perikopen aller Sonn- und Festtage bearbeitet waren und aus der von den Geistlichen, in Ermangelung der eignen Fähigkeit zu predigen, dem Volke vorgelesen werden sollte. Die Perikopen selbst theilen sich in die Evangelien, weil sie aus den vier Evangelien, und in die Episteln, weil sie aus den Briefen, zu denen man auch die Apostelgeschichte und die Offenbarung Johannis rechnete, genommen sind; zu letztern wurden auch, weil bei ihnen die Auswahl beschränkter war, Stücke aus dem A. T. gewählt. Luther behielt die Perikopen bei, nicht sowol wegen ihrer vortrefflichen Auswahl, die nach ihm von einem unwissenden Manne gemacht war, sondern weil die Geistlichen noch nicht Gewandtheit genug besaßen, um neue Texte zu bearbeiten, und weil in vielen Postillen (s.d.) die Perikopen mit christlichem Sinne in Predigten bearbeitet waren. Dagegen erhielten die reformirten Prediger sogleich die vollste Freiheit in der Auswahl zu Texten für kirchliche Vorträge. Die strenge Verpflichtung des Geistlichen, die alten Perikopen in den gottesdienstlichen Versammlungen zu gebrauchen, heißt der Perikopenzwang, dessen Unzweckmäßigkeit jedoch am Ende des 18. Jahrh. in Dänemark, Lüneburg, Schleswig-Holstein, Würtemberg, Baden die Aufhebung desselben zur Folge hatte, welchem Beispiele 1810 und 1811 durch Reinhard's Veranstaltung auch Sachsen folgte. An die Stelle der alten Perikopen wurden nun auf Verordnung der Consistorien entweder neue Texte gegeben, oder sie wurden zweckmäßiger angeordnet und nur zum Theil durch andere Bibelstellen ersetzt, beides jedoch blos zum Gebrauch für eine bestimmte Zeit. In der katholischen Kirche gelten die alten Perikopen als Bestandtheile der Liturgie unverändert, doch hängt die mehre oder mindere Freiheit in der Wahl der Predigttexte selbst von dem Willen der Bischöfe und ihrer Vicarien ab.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 444.
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