Deïsmus

[593] Deïsmus (lat.), das System, das einen von der Welt nicht bloß geschiedenen (im Gegensatze zum Pantheismus), sondern auch verschiedenen, ihr äußerlich gegenüberstehenden Gott als letzte Ursache aller Dinge lehrt, aber (im Gegensatze zum Theismus) annimmt, daß dieser ohne lebendige fortdauernde Beziehung zur Welt sei und sich auch nicht in außerordentlicher Weise offenbare. Während schon im 16. Jahrh. »Deist« im Gegensatze zum Atheisten für jemand gebraucht wurde, der überhaupt an eine Gottheit glaubte, war Charles Blount (gest. 1693), der besonders als witziger und ironischer Gegner der biblischen Geschichte auftrat, einer der ersten, der sich in dem später üblichen Sinn Deist nannte; ihm folgten vornehmlich Tindal und Morgan. Die Denk- und Sinnesweise dieser Männer ging aus den kirchlich-politischen Wirren Englands im 17. Jahrh. und aus dem Widerspruch der zurückgebliebenen Theologie gegen die fortgeschrittene Wissenschaft hervor. Als faktischer Urheber dieses D. ist Edward Herbert (s.d.), Lord von Cherbury, anzusehen, der zuerst den Begriff und die Zulänglichkeit der natürlichen Religion entwickelte. Ihm nahe steht Thomas Browne (s.d. 3), der Verfasser der »Religio medici« und andrer deistischer Schriften. Bestimmter, umfassender und feindseliger wurden diese Angriffe, seitdem 1694 die Preßfreiheit eingeführt worden war und John Locke die »Vernünftigkeit des Christentums« (»The reasonableness of Christianity«, 1695) als Losung ausgegeben hatte. Seitdem wurde das Christentum oft geradezu als Priesterbetrug bekämpft, immer seiner historischen Bedeutung und Grundlage beraubt. Graf Anthony Shaftesbury (s.d.) strebte eine reine diesseitige Religion der Schönheit und Tugend an und führte eine schalkhafte Polemik gegen das Christentum als gegen eine durch den Gedanken ewiger Vergeltung getrübte Sittlichkeit. Gleichzeitig suchte John Toland (gest. 1722), auf den zuerst die Bezeichnung Freidenker angewendet wurde, in einem Hauptwerk der ganzen RichtungChristianity not mysterious«, 1696) den Wunderbegriff aus der christlichen Religion zu entfernen und beanspruchte Anton Collins (gest. 1729) das Recht des freien Denkens als allgemeines Menschenrecht. Thom. Woolston, der einzige Märtyrer unter seinen Genossen (gest. 1733 im Gefängnis), gebrauchte die alte Methode, die Wundergeschichten zu allegorisieren, als Hülle für seine Angriffe auf die evangelische Geschichte. Matth. Tindal (gest. 1733) leugnete die Idee und Möglichkeit der Offenbarung und nannte die Heilige Schrift eine Urkunde der natürlichen Religion, das Christentum so alt wie die SchöpfungChristianity soold as the creation«, 1730, das Hauptmanifest des D.), die Kirche in Hobbes' Sinn eine Institution des Staates. Lediglich als Mittel für Staatszwecke erscheint die Religion bei Lord H. Bolingbroke (s.d.), der die Freiheit des Denkens nur für die höhern Klassen gelten[593] lassen wollte. Eine Satire auf die Ideale der Kirche stellt die »Fabel von den Bienen« von Bernhard Mandeville (s.d.) dar. Bei David Hume (s.d.) schlug der D. in Skeptizismus um. In der Geschichte der Kirche machte der englische (eigentliche) D. große Epoche. Derselbe entwickelte in sich viel Scharfsinn und geistige Bildung, gab sich aber gewöhnlich nur als Gleichgültigkeit gegen die Kirche kund. In Frankreich ergriff und steigerte der Enzyklopädismus (Diderot) die negative Richtung des englischen D. In Deutschland entwickelte sich der D. teils als Evangelienkritik (Reimarus), teils als Aufklärungsphilosophie und theologischer Rationalismus. In der katholischen Kirche tragen einen deistischen Charakter die Theophilanthropen (s.d.) und die französische katholische Kirche des Abbé Chatel seit 1831, mit starkpolitischer Färbung. Dem Judentum gab vornehmlich Mendelssohn einen Anstoß zu einer innerlichen Entwickelung, die, fast natürlich zum D. fortschreitend, als jüdische Reform besonders in Deutschland und Frankreich Vertreter fand. Vgl. Lechler, Geschichte des englischen D. (Stuttg. 1841); Pünjer, Geschichte der christlichen Religionsphilosophie seit der Reformation (Braunschw. 1880).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1906, S. 593-594.
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