Gärung

[359] Gärung (Fermentation), ein chemischer Prozeß, bei dem höher zusammengesetzte stickstofffreie organische Verbindungen unter der Einwirkung eines Ferments in einfachere Körper zerfallen. Man kennt verschiedene Gärungsprozesse und benennt sie nach dem Hauptprodukt, das aus der gärungsfähigen Substanz entsteht, z. B. Essiggärung, Milchsäure-, Buttersäuregärung, alkoholische (geistige, weinige) G. Die letztere ist weitaus die wichtigste, sie entsteht in zuckerhaltigen Flüssigkeiten unter der Einwirkung der Hefe (s.d.), wird in der Technik angewendet (Weinbereitung, Bierbrauerei, Spiritusbrennerei) und liefert ausschließlich den Alkohol. Sie tritt stets ein, wenn zuckerhaltige Flüssigkeiten von nicht zu großer Konzentration, z. B. Obstsäfte, Malzauszug, bei mittlerer Temperatur an freier Luft stehen. Es entwickelt sich reichlich Kohlensäure, der süße Geschmack verschwindet, und es bildet sich Alkohol. Dabei erscheint eine die Flüssigkeit trübende Substanz, die sich teils am Boden ablagert, teils als Schaum an die Oberfläche tritt. Man hielt sie früher für eine durch die G. ausgeschiedene Unreinigkeit des Mostes und nannte sie Hefe. Lavoisier stellte zuerst fest, daß Zucker bei der G. in Alkohol und Kohlensäure zerfällt, und Gay Lussac ermittelte die Mengenverhältnisse bei diesem Prozeß. Zur Erklärung der Gärungserscheinungen hatte Liebig 1839, anknüpfend an ähnliche Ideen Stahls, ausgesprochen, die Fermente seien in Zersetzung begriffene Körper, welche die innere Bewegung auf die gärungsfähigen Stoffe übertragen und deren Zersetzung veranlassen könnten. Unabhängig voneinander hatten aber Cagniard de la Tour und Schwann 1835 nachgewiesen, daß die Hefe ein lebender pflanzlicher Organismus sei, und Schwann zeigte, daß nach dem Appertschen Verfahren konservierte gärungsfähige Stoffe nicht in G. übergehen, wenn man ausgeglühte Luft, in der also vorhandene Keime von Hefe getötet worden sind, zutreten läßt, wohl aber, wenn sie mit gewöhnlicher Luft in Berührung kommen. Der Hefenpilz erschien also als Ursache der G., und Turpin sah in seiner vitalistischen Theorie den Zucker als das Nahrungsmittel, Alkohol und Kohlensäure als die Ausscheidungsprodukte des Pilzes an. Man übersah dabei, daß von 100 g Zucker 95 g glatt in Alkohol und Kohlensäure, 4 g in Glyzerin und Bernsteinsäure gespalten werden, während nur 1 g als Hefengewichtszunahme erscheint. Pasteur machte 1857 darauf aufmerksam, daß alle Pflanzen Sauerstoff aufnehmen und dafür Kohlensäure abgeben, auch Hefepilze gedeihen am kräftigsten bei Zutritt von Sauerstoff, fehle es aber an solchem, dann entziehen sie diesen der gärungsfähigen Substanz, die dabei in einfachere Verbindungen zerfällt. Nägeli machte die G. abhängig von dem Protoplasma der Zelle; nur soweit die gärungsfähige Substanz mit diesem in Berührung kommt, trete G. ein und zwar durch Übertragung von Bewegungszuständen der das Protoplasma bildenden Verbindungen auf die Moleküle der gärungsfähigen Substanz. Die Bestandteile des Protoplasmas bleiben unverändert, während das Gärungsmaterial zersetzt wird. Pasteur stand völlig auf den Schultern seiner Vorgänger, besonders Schwanns, und seine Theorie von der Sauerstoffentziehung ist widerlegt, allein er führte systematisch Jahrzehnte hindurch Forschungen aus, durch die er die besondern Pilzarten für die verschiedenen Gärungen nachwies, und er stellte zuerst maßgebende Stoffwechselversuche mit Hefe an. Schon 1858 hatte Traube gegenüber den vitalistischen Theorien ausgesprochen, in den Hefezellen befinde sich neben andern Stoffen auch ein Körper, der fermentartig die G. bewirkt. Nun kann man aus Hefe durch Wasser ein Enzym, das Invertin, ausziehen, das Rohrzucker in Traubenzucker u. Fruchtzucker spaltet, ähnliche Enzyme hat man aus Bakterien[359] gewonnen, aber erst Buchner gelang es, durch Zerreiben von Hefe mit Kieselgur und Quarzsand und Pressen unter hydraulischem Druck eine gelbe Flüssigkeit (Zymase) zu gewinnen, die ohne Gegenwart von Organismen G. hervorruft. Der Preßsaft enthält auch Invertin und proteolytische Enzyme, er erzeugt Alkohol und Kohlensäure annähernd. in dem Verhältnis wie unverletzte Hefe, er kann eingetrocknet werden, ohne an Gärvermögen beträchtlich einzubüßen, er ist hefefrei, und somit ergibt sich, daß die gärungerregende Wirkung der Hefe lediglich auf ihren Gehalt an Enzymen zurückzuführen ist und mit ihren Lebensvorgängen nichts zu tun hat. Ob die Zymase innerhalb der Zelle wirkt, so daß sämtlicher Zucker in die Zelle diffundieren und der gebildete Alkohol mit der Kohlensäure wieder aus der Zelle austreten muß, oder ob die Zymase unter bestimmten Bedingungen selbst aus der Zelle heraustritt (sie diffundiert durch Pergamentpapier), scheint noch nicht entschieden zu sein.

Seit Anfang der 1870 er Jahre hat die über die Natur der G. gewonnene Erkenntnis auch auf die Praxis eingewirkt und bedeutende Fortschritte angebahnt. Märcker zeigte, daß bis 20 Proz. der bei der G. verschwindenden Kohlehydrate nicht der alkoholischen G. erlagen, sondern der Zersetzung durch fremde Gärungserreger. Abhilfe konnte nur geschaffen werden durch Hefereinzucht, indem man die passendste Hefe auswählte und diese unter Ausschluß von andern Heferassen und Bakterien kultivierte (vgl. Hefe). Dadurch ist die G. ein sicher zu leitender Prozeß geworden, dessen Ergebnisse nicht mehr von Zufälligkeiten abhängig sind. Vgl. Liebig, Über G. etc. (Leipz. 1870); Mayer, Lehrbuch der Agrikulturchemie (5. Aufl., Heidelb. 1901ff., 3 Bde.); Schützenberger, Die Gärungserscheinungen (Leipz. 1876); Pasteur, Die Alkoholgärung (deutsch, Augsb. 1877); Nägeli, Theorie der G. (Münch. 1879); G. Buchner, Fortschritte in der Chemie der G. (Tübing. 1897); E. u. H. Buchner und Hahn, Die Zymasegärung (Münch. 1903) und die Literatur bei Artikel »Gärungsgewerbe und Hefe«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 359-360.
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