Jungtürken

[375] Jungtürken, Name für türkische Reformer, der auf dem Gebiete der Literatur aufgekommen und allmählich auf die Politik angewendet worden ist. Ihr Schöpfer ist Schinassi Efendi (s. d.), dessen reformatorisches Wirken dahin zielte, das Türkische vom Persischen und Arabischen unabhängig zu machen und als selbständige Sprache in die Literatur einzuführen. Schon in den von ihm begründeten Zeitschriften »Terdschüman-i-ahwal« (»Der Staat«, 1859) und »Tasswir Efkhiar« (1861) hat Schinassi außer poetischkritischen und literargeschichtlichen Abhandlungen auch staatswissenschaftliche und politische Aufsätze veröffentlicht; dies enge Band zwischen Literatur und Politik haben seine Schüler Kemâl Bey, Zia Pascha, Prinz Fazil Mustafa Pascha (s. diese Artikel) u. a. nur noch fester geknüpft, zumal da seit 1876 die politischen Verhältnisse dazu angetan schienen, die jungtürkischen Hoffnungen zu erfüllen. Kurz nach der Entthronung des Sultans Abdul Asis durch den Großwesir Mehemed Rüschdi Pascha Müterdschim, den Justizminister Midhat Pascha und den Exkriegsminister Husseïn Avni [375] Pascha (s. diese Artikel) veröffentlichte Midhat Pascha als Präsident des Staatsrats 1. Juni 1876 den Entwurf einer konstitutionellen Verfassung. Beim Zusammentritte der nach dem Abschluß des serbisch-türkischen Waffenstillstandes vom 31. Okt. 1876 durch England vorgeschlagenen Konstantinopeler Konferenz, die unter Wahrung der Integrität des Osmanenreichs für die slawischen Balkanprovinzen eine administrative Autonomie festsetzen sollte (s. Türkisches Reich, Geschichte), veranlaßte der am 22. Dez. 1876 an Stelle des unentschiedenern Mehemed Rüschdi zum Großwesir ernannte Midhat Pascha den Sultan Ab d ul Hamid II., seinem Reiche jene Verfassung zu oktroyieren, die (23. Dez. 1876 verkündet) die völlige Rechtsgleichheit aller Untertanen der Pforte ausrief und von der türkischen Regierung als Trumpf gegen die Ansprüche der Mächte zugunsten der Slawen geschickt ausgespielt wurde. Midhat Pascha erregte jedoch durch sein Selbstbewußtsein die Eifersucht des Sultans; und als er sich überdies zu unvorsichtigen Äußerungen über Günstlinge Abd ul Hamids fortreißen ließ, ward er 5. Febr. 1877 zur Verbannung verurteilt; sein Sekretär Wassif Efendi, sein im Februar 1902 in contumaciam zu lebenslänglicher Hast verurteilter Sohn Haidar und sein im September 1901 in contumaciam zum Tode verurteilter Enkel vertreten noch die politischen Anschauungen des reformeifrigen Großwesirs. An Midhats Stelle trat Edhem Pascha (s. d. 1). Die während des russisch-türkischen Krieges (s. Russisches Reich, Geschichte) einberufenen Kammern wurden durch den von wechselnden Günstlingen abhängigen Sultan 14. Febr. 1878 aufgelöst. Damit war der Traum einer osmanischen Verfassung zerstört; denn auch der ehrliche Versuch des vormaligen tunesischen Premierministers und 4. Dez. 1878 zum türkischen Großwesir ernannten Chaireddin Pascha (s. d.), den türkischen Staat im allgemeinen und sein Finanzwesen im besondern von Grund aus zu reformieren, war nur von kurzer Dauer: im Juli 1879 lehnte Abd ul Hamid den Reformplan Chaireddin Paschas ab, und dieser nahm seine Entlassung.

Trotzdem hat sich die jungtürkische Partei nicht entmutigen lassen. Vor allem ist das Comité Ottoman d'Union et de Progrès bestrebt, durch Publizistik die Bewegung wach zu halten. Eine Zeitlang hat Murad Bey zu Kairo die Zeitschriften »Zemân« (»Die Zeit«) und »Mizân« (»Die Wage«) herausgegeben und leitet jetzt als Präsident des Comité Ottoman mit Ahmed Riza Bey, dem Herausgeber der in Paris erscheinenden revolutionären Zeitung »Meschweret« (»Die Beratung«), die halbmonatlich zu Genf in türkischer Sprache erscheinende Zeitung »Osmanli«; Ende Oktober wurde Abd-ullah Dschervet Bey, der Herausgeber des »Osmanli«, aus der Schweiz verwiesen. Daneben gibt das Comité Turco-Syrien in Paris die Zeitung »La jeune Turquie« heraus; sein Präsident ist der im September 1901 in contumaciam zum Tode verurteilte Mitarbeiter des »Journal des Débats«, Halil Ganem, ein syrischer Christ aus Beirut und einst Abgeordneter für Syrien im türkischen Parlament. Ferner verdienen genannt zu werden: Mahmud Dschelal eddin (genannt Damad) Pascha (gest. 18. Jan. 1903 in Brüssel), der 1899 mit seinen Söhnen Lutfulla (im November 1903 begnadigt) und Sabah eddîn geflüchtete Exjustizminister und Gemahl Senîhas, einer am 21. Nov. 1851 gebornen Schwester des Sultans Abd ul Hamid II., Ismail Kemâl Bey (Albaner, bis 1900 Mitglied des Staatsrats, im Februar 1902 in contumaciam zu lebenslänglicher Galeere verurteilt), Tewfik Ebusia, Kemâl Beys Freund und Verleger, der zu Konia in Verbannung lebt, und der im Februar 1902 ebenfalls verbannte Mehemed Fuad Pascha, vormals Generaladjutant des Sultans (s. Fuad Pascha 2). Mehr auf literarischem Gebiete tätig sind die J.: Ahmed Midhat, der sich in Romanen und Novellen besonders gegen die mohammedanische Eheschließung wendet, Muallim Nadschi, Sami Bey, Sezâjî, Mahmud Kemâl, Mustafa Reschid, Hussâm eddin und Mehmed Rifat; durch seine Kriegslieder hat der Stambuliner Schemsi Bey Aufsehen erregt.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 375-376.
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