Russisches Reich

[289] Russisches Reich (hierzu die Übersichtskarte »Europäisches Rußland« und Spezialkarte »Mittleres Rußland«), ein Kaisertum, das den ganzen Osten Europas, dazu den Norden und einen Teil der Mitte Asiens einnimmt, d.h. ein Sechstel alles festen Bodens auf der Erde, reicht von 17°38´ östl. L. (Ruda Komarowska im Gouv. Kalisch) bis zu 169°44´ westl. L. (Beringstraße) und von 35°38´ (Grenzpfosten Nr. 23 gegen Afghanistan am rechten Ufer des Kuschka) bis zu 77°37´ nördl. Br. (Kap Tscheljuskin im Eismeer). Gegen N. wird das russische Reich vom Nördlichen Eismeer begrenzt, im W. von Norwegen, Schweden, der Ostsee, Deutschland, Österreich und Rumänien, im S. vom Schwarzen Meer, dem türkischen Armenien, von Persien, dem Kaspischen Meer, Afghanistan und den nördlichen Teilen des chinesischen Reiches, im O. vom Großen Ozean.

Das europäische Rußland nebst Polen und Finnland nimmt den ganzen Osten Europas ein und dehnt sich als zusammenhängende Masse des osteuropäischen Tieflandes von 44°28´ nördl. Br. bis 69°56´ oder mit Einschluß der Insel Nowaja Semlja bis 76° nördl. Br. aus, d.h. von der Südspitze der Krim bis zum Karischen Meer etwa 3153 km; die Ausdehnung vom Westende Polens unter 17°38´ bis zu 66° östl. L., dem Ural (im Gouv. Archangelsk), beträgt 3059 km. Vgl. beifolgende Karten, dazu die Karte der »Ostseeprovinzen« beim Artikel »Livland« und Karte »Westrußland« beim Artikel »Polen«. Im folgenden ist ausschließlich von dem europäischen Rußland und Polen die Rede; vgl. daneben noch den Artikel »Finnland«.

Tabelle

Gren Jeu, Meere und Inseln.

Im N. grenzt Rußland an das Nördliche Eismeer, dessen einzelne Hauptteile das Karische Meer, die Tscheskajabai und das Weiße Meer sind. Das letztere schneidet im W. mit der Bai Kandalakskaja und im O. mit den großen Mündungsbusen der Flüsse Onega, Dwina und Mesen am tiefsten in die Nordküste Rußlands ein. Im W. bilden zunächst der Tana-Elf und Torneå-Elf die Grenze gegen Norwegen und Schweden. Dann folgt die Ostsee mit dem Bottnischen, Finnischen und Rigaer Meerbusen. Der Finnische Meerbusen beginnt unter dem Meridian von Kap Hangöudd. Der Rigaer Meerbusen ist durch den Mohnsund zwischen dem Festland und der Insel Mohn und den Harrisund zwischen der Insel Dagö und dem Festland, bez. der Insel Worms mit dem Finnischen Meerbusen verbunden. Der Kleine Sund trennt die Inseln Mohn und Ösel. Der Sölasund zwischen Ösel und Dagö führt in die Ostsee. Bei Polangen, nördlich vom Kurischen Haff, verläßt Rußlands Westgrenze die Ostsee, und es treten gegen Ost- und Westpreußen, Posen und Schlesien keine bemerkenswerten Naturgrenzen auf. Von Galizien wird Rußland streckenweise durch die Weichsel, den Zbrucz und Dnjestr, von Rumänien durch den Pruth und die Donau (Kiliaarm) geschieden. Die Südgrenze bildet das fast insellose Schwarze Meer. Seine Küsten sind einförmig gestaltet, nur im N. bringt die Halbinsel Krim einige Gliederung hervor. Östlich von ihr liegt das Asowsche Meer und westlich der Busen von Odessa mit dem Dnjepr- und Bug-Liman. Weiterhin bilden die Flüsse Jeja und Manytsch die Grenze gegen Ziskaukasien, die bei der Mündung der Kuma das Kaspische Meer erreicht. Die Ostgrenze des europäischen Rußland geht vom Kaspischen Meer im W. des Uralflusses zum Obschtschij Syrt und greift über das Uralgebirge bis zum Tobol hinüber; erst nördlich vom 60.° nördl. Br. folgt sie jenem Gebirge bis zum Karischen Meer.

Bodengestaltung.

Zwischen der Ostsee und dem Ural, zwischen dem Schwarzen und dem Nördlichen Eismeere liegt das große russische oder osteuropäische Tiefland, das vorzeiten unzweifelhaft Meeresboden gewesen, und erst durch allmähliche Hebung trocken gelegt worden ist. Nur an den äußersten Ost- und Südgrenzen dieses Flachlandes erheben sich Gebirge, der Ural und das Taurische Gebirge. Der Ural (s. d.) ist ein wenig gegliedertes, einförmiges Kettengebirge, auf dessen Rücken die Gipfel sich verhältnismäßig nur selten über das allgemeine Niveau erheben. Der südliche oder waldreiche Ural erreicht bei einer Kammhöhe von 530 bis 640 m im Jaman-Tau 1642 m, im Irémel 1617 m, der mittlere oder erzreiche bei einer Kammhöhe von 400–500 m im Konshakow 1563 m und im Deneshkin 1528 m, der nördliche oder wüste Ural im Telpos (unter 64° nördl. Br.) 1683 m, im Sablja 1644 m Höhe. Der Obschtschij Syrt (s. d.), westlich vom Ural bis zur Wolga hinstreichend, ist kein Zweig des Urals, sondern ein im W. nur 100 m, im O. höchstens 500 m über die benachbarten Steppen sich erhebender Landrücken, dessen Hauptspitze, der Kujan-Tau, 619 m hoch ist. Das Taurische Gebirge (s. d.) erhebt sich am Südostrand der Halbinsel Krim und erreicht im Roman-Chosch 1540, im Tschatyr dagh 1523 m. In dem ungeheuern Flachland Rußlands, das eine mittlere Erhebung von 100–160 m hat, wird die Einförmigkeit nur durch niedrige Plateaus und dammartige Bodenanschwellungen unterbrochen: 1) Das Timangebirge, zieht sich vom Ural nach NW. zwischen Petschora und Mesen hin und steigt im Pot-Tschurk bis zu 326 m an. 2) Eine Hügelreihe, Uwaly genannt, durchzieht, wenig über 200 m hoch, den Süden des Gouv. Wologda und bildet die Wasserscheide zwischen Dwina und Wolga. 3) Die finnische Seenplatte (s. Finnland, S. 586) mit den Ausläufern des Maanselkägebirges (s. d.) im Gouv. Olonez. 4) Das große russische Flachland wird (nach Tillo) in meridionaler Richtung durch zwei Höhenzüge, den mittelrussischen und den Wolgaschen, durchzogen. Ersterer beginnt beim Waldaigebirge (s. d.) und zieht sich bei einer durchschnittlichen Höhe von etwa 250m durch die Gouvernements Twer, Smolensk, Moskau, Kaluga, Tula, Orel, Kursk nach S., wo er im Donezkij Krjash, im Gipfel Tolstaja Mogila, 369 m Höhe erreicht. Letzterer zieht sich von [289] Nishnij Nowgorod in breitem Streifen längs dem rechten Ufer der Wolga, erreicht in der Schlinge von Samara 343 m und bei Chwalynsk 409 m und läßt sich weiter in den Ergenihügeln bis an den Manytsch (Ponto-Kaspische Niederung) verfolgen. 5) Vom nördlichen Teile des mittelrussischen Höhenzuges zieht sich in westlicher Richtung der westrussische (oder litauische) Landrücken, der sich bis in den Norden von Polen ausdehnt, das Plateau von Oschmjany bildet und eine Höhe von 347 m (Dubowo, nordwestlich von Minsk) erreicht. Er scheidet die Baltische Niederung von der des Pripet und Dnjepr (Polesje). 6) Die Plateaus von Bessarabien, Wolynien, Podolien (sogen Awratynski-Erhebungen) und dem südlichen Polen führen zu den. Karpathen über und erheben sich bei Chotin zu 470 m, bei Kremenez zu 405 m, in der Lyssa Gora bei Kjelzy sogar zu 617 m Höhe. 7) Die Baltischen Höhen ziehen sich zwischen Niemen und Peipussee um den Rigaer Meerbusen herum und steigen im Munna-Mâggi zu 324 m an. – Im ganzen sind etwa 991,000 qkm (18,000 QM.) des europäischen Rußland unfruchtbare Ebenen, im N. Tundren, im SO. Sand- und Salzsteppen. An der Petschora und überhaupt in den nordöstlichen Teilen ist das Gouv. Archangel mit Tundren bedeckt, d.h. sumpfigen Moorflächen, die, mit einem dichten Filz von Moosen und Flechten überzogen, den größten Teil des Jahres aber zugefroren sind. Der Süden Rußlands von Bessarabien bis in die südliche Ukraine, bis in die Gouvernements Tambow, Woronesh und Saratow und über die Wolga hinaus bis zum Uralfluß und dem Manytsch ist ein weites Steppenland.

Geologische Beschaffenheit.

Für das europäische Rußland ist die fast vollständig horizontale Lage der sedimentären Bildungen und der Mangel an Dislokationen charakteristisch (s. Europa, S. 177). Nur die südrussischen Gebirge, wie Krim und Kaukasus, und der Ural stellen Kettengebirge mit vielfach gefalteten Schichten dar. Die archäische Formation erscheint in Form von Gneisen und Glimmerschiefern in Verbindung mit Granit, Syenit, Diorit und Gabbro in Finnland und im Gouv. Olonez und erstreckt sich von da bis in das Timangebirge, in dem devonische und karbonische Schichten herrschen; auch ist ein Zug altkristallinischer Gesteine von Wolynien bis an das Asowsche Meer bekannt. Kambrische und silurische Schichten sind in den baltischen Provinzen und in einem Streifen am Südrande des Finnischen Meerbusens bis zum Ladogasee hin verbreitet. Devon findet sich in Livland, Kurland, Kowno, Witebsk und St. Petersburg, in geringerer Ausdehnung und in Verbindung mit Silur auch am Dnjestr und Pruth. Die Kohlenformation tritt außer in dem an Oberschlesien angrenzenden Russisch-Polen noch in der Umgebung von Moskau, am Fuße des Urals und ferner im südrussischen Donezbecken zutage. Das letztere und Russisch-Polen sind reich an Steinkohle. An die karbonischen Bildungen schließen sich die der permischen Formation an, bunte Mergel und Sandsteine mit Kalken, die den weiten Raum zwischen den Moskauer Kohlenbildungen im W. und dem Ural im O. einnehmen und zumal in dem Gouv. Perm sehr entwickelt sind. Die nächstjüngern Meeresablagerungen sind oberjurassische Tone, Mergel und lockere Sandsteine, zuweilen von glaukonitischer Beschaffenheit; sie finden sich in der Gegend von Moskau, längs der Wolga bis Saratow (hier mit den durch ihre Fauna bekannten sogen. Wolgaschichten), am Dnjepr und am Donez, in der Krim und im Kaukasus, auch im N. an der Petschora. Ferner besitzen die Schichten der obern Kreide im südlichen Rußland, von Polen bis zu den südlichen Ausläufern des Urals, eine größere Verbreitung. Unter den tertiären Sedimenten sind die neogenen Ablagerungen Wolyniens und Podoliens bemerkenswert. Fast das ganze nördliche Rußland wird von diluvialen Schuttablagerungen bedeckt, die an die erratischen Bildungen der Norddeutschen Tiefebene erinnern. Im mittlern und südlichen Rußland erlangt die unserm Löß entsprechende Schwarzerde, Tschernosem (s. d.), eine ganz kolossale Verbreitung und bedingt dessen Fruchtbarkeit.

Bewässerung.

Das ausgedehnte Wassernetz Rußlands gehört zwei Gebieten an und hat eine nordwestliche Abdachung, in der die Flüsse vorwiegend zur Ostsee und zum Eismeer strömen, und eine südöstliche zum Schwarzen und zum Kaspischen Meere. Die Wasserscheide bilden die Uwaly, die Waldaihöhe und der Westrussische Landrücken. Bei der Beurteilung der Bedeutung der russischen Wasserstraßen sind als günstige Momente zu betrachten: die Konzentrierung der Quellgebiete, die radiale Richtung der Flüsse und ihr sehr geringes Gefälle, resp. die unbedeutende Geschwindigkeit ihrer Strömung. Anderseits erscheinen als beeinträchtigende Momente: die lange Dauer der Eisbedeckung, die Intensität der Frühlingsüberschwemmungen sowie das Seichtwerden (Wassermangel) im Sommer; ferner die große Anzahl von Stromschnellen und flachen Durchquerungen (Perekaty) der Flüsse, endlich der Umstand, daß 55 Proz. der Wasserstraßen sich in Meere ergießen, deren kulturelle Bedeutung sehr geringfügig ist (Weißes und Kaspisches Meer). Nach den Meeren, in die sich die Flüsse ergießen, kann das Reich in vier Wassersysteme geteilt werden. Zum System des Nördlichen Eismeeres und Weißen Meeres gehören die Petschora, der Mesen, die Dwina, die Onega, Wyg, Kem, Ponoi und Tuloma, zum System der Ostsee (außer den Flüssen Finnlands) die Newa, die Luga, die Narowa, die Pernau, die liv- und die kurländische Aa, die Düna, die Windau, der Niemen und die Weichsel. Das System des Schwarzen und Asowschen Meeres umfaßt den Dnjestr, den Bug, den Dnjepr, den Kalmius, den Mius und Don; zum Kaspischen System endlich gehören die Wolga und der Ural. Die Landseen, deren es in Rußland über 5200 gibt, zerfallen in zwei Gruppen: die abflußlosen, salzhaltigen Seen des Südostens, als deren größter Vertreter der Kaspisee gilt, und die Süßwasserseen mit Abfluß, die im NW., im sogen. Seengebiet, vorherrschen. Die größten Seen dieses letztern Typus sind der Ladogasee (18,129 qkm), der Onegasee (9752 qkm), der Peipussee (3513 qkm) und der Ilmen (918 qkm). Unter den Salzseen verdienen der Elton (161 qkm) und der Baskuntschaksee (124 qkm) Erwähnung. Als Wasserstraßen kommen im ganzen 862 Flüsse und 39 Seen in Betracht, deren Verteilung auf die obigen vier Wassersysteme die folgende Tabelle veranschaulicht:

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[290] Unter den 85,213,7 km der letzten Kolumne befinden sich 1968,7 km künstliche Wasserstraßen, d.h. gegrabene Kanäle und durch Schleusen und andre Bauten regulierte Wasserläufe, über deren Länge und Verteilung die folgende Tabelle Auskunft gibt:

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Vgl. Stuckenberg, Hydrographie des russischen Reiches (Petersb. 1842–49, 6 Bde.); Lewakowski, Die Gewässer Rußlands (russ., das. 1890); A. A. Tillo, Atlas der Niederschläge des europäischen Rußlands (russ., das. 1897) und Erklärender Text zur Karte der Binnenwassersysteme des europäischen Rußlands (russ., das. 1897).

Klima.

Das europäische Rußland hat nur an den Küsten Seeklima, sonst aber scharf ausgesprochenes Kontinentalklima. Im Winter lagert über Asien sehr hoher Luftdruck, über dem Nordmeer aber niedriger, so daß West- und Südwestwinde im N., Ostwinde im S. vorherrschen; im Innern Rußlands tritt klares Wetter und damit enorme Abkühlung ein. Im Sommer führen die der Depression über Südasien zuströmenden West- und Südwestwinde warme Luft herbei. Die jährlichen Temperaturschwankungen sind daher sehr groß, wie die folgenden Zahlen zeigen:

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Nördlich der Linie St. Petersburg-Lugan (Don)-Orenburg sinkt gelegentlich das Thermometer bis auf -40° (Gefrierpunkt des Quecksilbers). Die Kälte an sich ist erträglich, wird aber furchtbar bei Stürmen, wie sie in den Steppen Rußlands (Buran) auftreten. In Nordrußland sind weite Strecken ständig gefroren (Eisboden). Rußland hat vorwiegend Sommerregen, nur ganz im S. und an der Ostsee auch Herbstregen. Im Ostseegebiet fallen jährlich 50–60, im mittlern Rußland 40–50 und im O. und SO. unter 40 cm (s. Karte bei Artikel »Europa«, S. 178); es hat: Archangel 39, St. Petersburg 48, Ust-Syssolsk 42, Perm 52, Kasan 39, Moskau 53, Warschau 57, Kiew 53, Nikolajew 36, Sebastopol 39, Astrachan 15, Tiflis 49 cm. Das regenreichste Gebiet ist das Ostufer des Schwarzen Meeres (Batum 237 cm).

Pflanzen- und Tierwelt.

Nach dem vorherrschenden Charakter der Pflanzenwelt hat Rußland an vier Vegetationszonen Europas Anteil. Zum Tundrengebiet mit nordischen Weidenarten und Strauchbirken gehört der nördlichste, von der Halbinsel Kanin über den untern Lauf der Petschora bis zum polaren Ural reichende Küstenstrich. Das übrige Nord- und ganz Mittelrußland liegen im europäischen Waldgebiet, dessen nördlicher Abschnitt als Gürtel der frostharten Nadelhölzer von der südlichern Laubholzzone mit Eichen, Linden u.a. geschieden werden kann. In Südrußland fällt die Steppenzone ungefähr mit der Verbreitung des Tschernosems oder der Schwarzerde zusammen; die Nordgrenze dieses Gebietes zieht sich vom Pripet in Wolynien über die Desna bei Brjansk durch den südöstlichen Teil des Gouvernements Tula nach dem Okaausfluß und von da längs der Wolga bis zur Mündung der Wetluga. Weiter östlich gehen an der untern Wolga die durch Stipaformationen gekennzeichneten Steppen unter allmählicher Änderung ihres Vegetationscharakters in die an asiatischen Halophyten reiche Salzsteppenregion der aralo-kaspischen Niederung über. Auch die Grenze der Steppe gegen die nördliche Waldzone ist keineswegs scharf abgeschnitten, vielmehr schaltet sich hier ein breiter Gürtel von Waldsteppen mit oasenartig zerstreuten Bauminseln ein; auch treten zahlreiche Steppenpflanzen über die Grenze des Tschernosems nordwärts und siedeln sich auf andrer Bodenunterlage, wie besonders Kalk, und auf sandigen, nach S. gelegenen Abhängen an. In den äußersten Süden des russischen Gebietes endlich dringen immergrüne Sträucher der Mediterranflora ein, deren Vertreter sich besonders an. den südlichen Gebirgsabhängen der Krim und den Tiefregionen des Kaukasus entwickelt zeigen. Bei der Abgrenzung der Vertikalregionen kommt außer den obengenannten Gebirgen auch noch der Ural in Betracht. Über die nähere Charakteristik der pflanzengeographischen Einzelgebiete Rußlands vgl. den Artikel »Europa«, S. 179 f.

Bei der ungeheuern Ausdehnung des Reiches und den großen Verschiedenheiten in Klima, Bodengestalt und Pflanzendecke ist die Tierwelt sehr mannigfach. Rußland gehört tiergeographisch zu der sibirischen Subregion der paläarktischen Region. Der nördlichste Teil des Reiches, dessen südliche Grenze die Nordgrenze des Baumwuchses bildet, ist ein Teil der arktischen Zirkumpolarregion. Eisbär, Eisfuchs, Renntier, Vielfraß, Schneehase, Lemming sind dessen Charaktertiere und der dazugehörigen, im Nördlichen Eismeer liegenden Inseln. An diesen Teil Rußlands, der eine dürre, nur mit arktischen Pflanzen bedeckte Fläche darstellt, schließt sich ein breiter Waldgürtel mit vielen Pelztieren, deren Felle einen wichtigen Handelsartikel Rußlands bilden, z. B. Fuchs, Zobel, Hermelin, gemeines Eichhörnchen, gemeines Flughörnchen. Im ganzen nördlichen Rußland findet man den Fuchs, Luchs, Bär, Wolf; sie gehen bis in die Ostseeprovinzen herab, sind auch in dichtbevölkerten Gegenden häufig und fügen dem Wild und Haustierbestand einen sich jährlich auf Millionen beziffernden Schaden zu. Von den Fledermäusen gehen am nördlichsten die kleine Hufeisennase und die nordische Fledermaus (Vesperugo Nilssonii). Die Insektenfresser sind recht verbreitet, so Igel, Waldspitzmaus, Zwergspitzmaus, Maulwurf. Im südöstlichen Rußland, zwischen Don und Wolga, meist an Seen, lebt der Wuchuchol (Desman, Myogale moschata), dessen Verwandte, die Bisamspitzmaus (M. pyrenaica), am Fuße der Pyrerenäen[291] vorkommt. Von den Nagern sind charakteristisch der fahle Ziesel im Ural, die Blindmaus und der dem Murmeltier verwandte Bobak in den Steppen, der Reishamster in Südrußland, die Jerboaspringmaus zwischen Don und Wolga, der kleine Alakdaga in der Kirgisensteppe, die beiden letzten Arten zu den Springmäusen gehörig, und die Streifenmaus. Im Norden finden sich Ziesel, Biber, Brandmaus, Zwergmaus, nordische Wühlratte, Erdmaus. Das Wildschwein geht ungefähr bis zum 55.° nördl. Br., östlich bildet der Lenafluß die Grenze seiner Verbreitung. Von Wiederkäuern lebt der Wisent (europäischer Auerochs) in halbwildem Zustand in der Bialowjesher Heide in Litauen und im Kaukasus; die Gebirge von Sibirien bewohnt das Argalischaf und der sibirische Steinbock; eine andre Art letzterer Gattung findet sich im Kaukasus zusammen mit der Bezoarziege; ein charakteristisches Tier der großen Steppen von der polnischen Grenze bis zum Altai ist die Saigaantilope. In den morastigen Wäldern des nördlichen Rußland lebt das immer mehr zurückgedrängte Elch, und weiter nördlich geht das Renntier; der Edelhirsch geht bis zum 65.° nördl. Br. Bemerkenswert ist das Vorkommen eines Seehundes im Schwarzen Meer, Kaspisee, Aralsee und Baikalsee. Von den Vögeln ist ein ständiger Bewohner jenseit des 70.° nördl. Br. der Schneeammer; charakteristische Sommerbewohner des Nordens sind der Geierfalk, Wanderfalk, Rauchfußbussard, Schneeeule, Raben, einige Ammern u. Schneehühner; für die kahlen Tundren des asiatischen Rußland sind Charaktervögel das Moorschneehuhn, der Lapplandammer, die Uferlerche, die Sandschwalbe und der Seeadler, für die asiatischen Steppen das Steppenhuhn; die nordischen Wälder bewohnen der Hänfling, Kreuzschnabel, Fichtengimpel, Seidenschwanz, Zwergammer, Waldammer, Hakengimpel, Karmingimpel, Berghänfling, Bergfink, Tannenhäher u.a., von denen viele regelmäßig oder als Irrgäste im Winter nach Deutschland gelangen. Weniger weit nördlich gehen Auerwild, Birkhuhn, Haselhuhn. Von Reptilien finden sich eine Agame, ein Krötenkopf, eine zu den Eidechsen gehörige Art der Gattung Eremias, von den Schlangen eine Art der Gattung Elaphis und die giftige Halysschlange; von Amphibien die gewöhnlichen Arten Wasserfrosch, Grasfrosch, Laubfrosch, Kröte, Wechselkröte, Kreuzkröte, Knoblauchkröte, Unke, gefleckter Salamander, großer Wassermolch und Streifenmolch. Unter den Fischen Rußlands spielt die Familie der Störe eine große Rolle, von denen mehrere Arten, Stör, Sterlet, Glattstör, Woxdig, Haufen, das Schwarze und Kaspische Meer sowie die russischen Ströme bewohnen und wegen ihres Fleisches, der Eier (Kaviar) und Schwimmblase (Hausenblase) eine große Bedeutung besitzen. Weichtiere finden sich im Norden relativ wenige, aber weitverbreitete Arten, die sich dem Polarkreis nähern, mehr dagegen im Süden; das Wolgagebiet zeigt ungefähr die Bewohner der germanischen Provinz, aber in Südrußland bereits Vertreter der levantischen Fauna; in der Krim geben kalkreiche Buliminus und Xeraphilen der Fauna einen eigenartigen Charakter. Die russische Insektenwelt besitzt einen ausgesprochen paläarktischen Charakter. Vgl. die tiergeographischen Karten bei den Artikeln »Säugetiere«, »Vögel«, »Reptilien« und »Haustiere«.

Areal und Bevölkerung.

In historischer Hinsicht zerfällt das europäische Rußland in drei Reiche: das eigentliche Kaiserreich Rußland, das Königreich Polen und das Großfürstentum Finnland. In wirtschaftlicher und ethnographischer Hinsicht pflegt man verschiedene Einteilungen zu machen; eine der gebräuchlichsten ist die Einteilung in folgende 14 Gebiete: das zentrale ackerbauende Gebiet, das mittlere und das untere Wolgagebiet, Neurußland, das südwestliche Gebiet, Kleinrußland, das industrielle Wolgagebiet, Weißrußland, das Uralgebiet, das nördliche und das Seengebiet, Litauen, die Ostseeprovinzen und Polen. Hiervon bilden die ersten sechs Gebiete die sogen. Schwarzerdezone. Für die höhere Verwaltung ist das Reich, abgesehen von Finnland (s. d.), in 60 Gouvernements eingeteilt, die meistens nach den Hauptstädten, in geringer Zahl nur mit alten Volks- oder politischen Namen benannt werden. Eine statistische Übersicht dieser Gouvernements enthalten die Tabellen A. und B. auf S. 293.

Rußlands Gebiet hat sich seit Iwan III. (gest. 1505) verzehnfacht; um die Mitte des 16. Jahrh. umfaßte es schon 12,4Mill. qkm, beim Tode Katharinas II. (1796) 19,4 Mill. und beim Tode Alexanders I. (1825) 20,2 Mill. qkm. Eine Übersicht des gesamten russischen Reiches in Europa und Asien s. auf der Geschichtskarte (S. 310); über das Vordringen Rußlands in Zentralasien s. Russisch-Zentralasien (mit Karte).

Rußland führt keine eigne Statistik über die Aus und Einwanderung. Nach ausländischen Quellen gibt die russische Handelsstatistik nur eine Übersicht über die Auswanderung von Russen über Hamburg, Bremen und Stettin. Danach wanderten aus:

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Von letztern gingen 68,105 in die Vereinigten Staaten, 1262 nach Kanada, 1048 nach Argentinien, 1641 nach Afrika, 15,272 nach England (hauptsächlich wohl auch in die Vereinigten Staaten). Der auf Grund von Reisepässen vor sich gehende Verkehr über die Grenze ergibt ebenfalls einen geringen Abgang. Im Durchschnitt der Jahre 1899–1903 gingen jährlich 223,340 Russen hinaus und kamen 179,671 herein. Dagegen passierten 284,088 Ausländer die Grenze nach Rußland und 235,802 aus Rußland. Bei weitem bedeutsamer ist die innere Kolonisation. Ihre Hauptströmungen münden in Sibirien und Zentralasien. In den Jahren 1885–1901 wanderten aus den 60 russischen Gouvernements 1,293,987 Bauern nach Sibirien aus, von denen aber in den Jahren 1895–1901: 153,361 Bauern wieder zurückwanderten. Das Hauptkontingent an Auswanderern stellten die Gouvernements Poltawa, Kursk, Tschernigow, Tambow, Woronesh, Orel, Samara. Nach dem Geschlecht kommen im europäischen Rußland auf 1000 Männer 1042 Frauen; in den polnischen Gouvernements entfallen auf 1000 Männer 995 Frauen, in Finnland 1021, im Kaukasus 901, in Sibirien 943 und in Zentralasien nur 860 Frauen.

Im europäischen Rußland, außer Polen und Finnland, betrug die Zahl

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Der natürliche jährliche Zuwachs stellt sich für 1893 bis 1897 auf 1,44 Proz., für 1900 auf 1,8 Proz. Die durchschnittliche Geburtsziffer berechnet sich für das ganze Land auf 49,0 pro Mille. Sie ist am höchsten in Jekaterinoslaw (60 pro Mille), Woronesh (59,8), Orenburg (57,3), am niedrigsten in den Ostseeprovinzen (Kurland 27,2). Die Sterblichkeitsziffer beträgt[292]

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B. Von dem Areal und der Bevölkerung des gesamten russischen Reiches ergibt sich folgendes Bild:

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durchschnittlich 31,0 pro Mille; unter 20 pro Mille haben Kurland u. Esthland (18,9) und Livland (19,8), über 30 pro Mille die Mehrzahl der zentralen und östlichen Gouvernements, während Tula 40,2 pro Mille aufweist. Die Gesamtzahl aller bewohnten Orte im europäischen Rußland und Polen beträgt 535,872, davon sind 736 Städte, 51 Flecken (Possady), der Rest Dörfer, Stanizen etc.

Städte mit mehr als 100,000 Einw. hat Rußland 16: St. Petersburg, Moskau, Warschau, Odessa, Lodz, Riga, Kiew, Charkow, Wilna, Saratow, Kasan, Jekaterinoslaw, Rostow a. D., Astrachan, Tula und Kischinew. Ferner zählte man 29 Städte mit 50–100,000 Einw. und 55 Städte mit 20–50,000 Einw. Von der gesamten Bevölkerung lebten 12,06 Mill. oder nahezu 13 Proz. in Städten, in Polen 2,16 Mill. oder 23 Proz.

Nationalitäten.

Über die Zusammensetzung der Bevölkerung nach Nationalitäten hat erst die erste allgemeine Volkszählung von 1897 einigermaßen zuverlässige Aufschlüsse gebracht. Die Ergebnisse für das ganze Reich, mit Ausschluß Finnlands, sind in der am Schluß des Abschnittes (S. 295) folgenden Tabelle enthalten.

Im europäischen Rußland bilden die Russen (s. d.) den festen Kern, um den sich die übrigen Nationalitäten gruppieren. Sie machen mit 74,796,970 Köpfen 81,5 Proz. der Bevölkerung aus und bewohnen in kompakten Massen den größten Teil des Landes, reichen jedoch im NW. nur bei St. Petersburg bis aus Meer und sind im NO. und teilweise im O. durch finnische Völker in breitem Saum von den Grenzen des europäischen Rußland abgetrennt. Nur in sieben Gouvernements sinkt ihre Anzahl unter 50 Proz. der Bevölkerung (in den drei Ostseegouvernements und Kowno, Bessarabien, Kasan und Ufa). In Polen sind sie mit 631,844 Köpfen oder 6,7 Proz. vertreten. Das zweitwichtigste slawische Volk in Rußland bilden die Polen, von denen 6,755,503 in den zehn Weichselgouvernements und 1,109,934 in Rußland wohnen, wo sie namentlich den höhern Berufen, dem Militär, der Beamtenschaft und der Gelehrtenwelt, angehören.[293] Die übrigen slawischen Völker sind nur in geringer Zahl vertreten. Bulgaren wanderten in der Mitte des 18. Jahrh. schon in Rußland ein, doch wurden die großen bulgarischen Kolonien in Bessarabien, Taurien und Cherson erst nach dem Frieden von Adrianopel (1829) gegründet. Tschechen leben namentlich in Wolynien und in geringerer Zahl in Taurien und Podolien als Ackerbauer und Handwerker. Am nächsten den Slawen verwandt sind die litauischen Völker, deren Gesamtzahl 3,094,469 erreicht. Die eigentlichen Litauer (s. d.) sind zum größten Teil katholisch; ihre Hauptbeschäftigung ist der Ackerbau. In einer Zahl von 1,2 Mill. wohnen sie in den Gouvernements Kowno, Wilna und Suwalki, in geringerer Anzahl auch in Grodno und Kurland. Nur wenig von ihnen unterschieden, aber der kräftigere und tüchtigere Teil sind die Shmuden oder Samogitier im westlichen Teil von Kowno und nördlich von Suwalki. Das dritte Volk dieser Gruppe sind die überwiegend protestantischen Letten (s. d.) in Kurland, dem südlichen Livland und Witebsk, in geringer Zahl in St. Petersburg, Pskow und Kowno. Die Griechen sind insbes. in den südrussischen Hafenstädten als Kaufleute und Handwerker zahlreich vertreten. Von den Rumänen leben 920,919 als Ackerbauer in Bessarabien, 147,218 in Cherson, kleinere Mengen in Podolien, Jekaterinoslaw, Taurien. Von den Deutschen entfallen auf das europäische Rußland 1,312,188, auf Polen 407,274 Köpfe. Teils wohnen sie als Nachkommen der ehemaligen Eroberer in den Ostseeprovinzen, teils als Kolonisten (namentlich herbeigerufen durch Katharina II.) in den Gouvernements Saratow, Samara und Taurien, Jekaterinoslaw, Cherson, Wolynien, St. Petersburg, teils endlich als Kaufleute, Handwerker, Gelehrte, Ärzte und Apotheker in den Städten des ganzen Reiches. In Kurland, Livland und Esthland machen sie den wesentlichen Teil der Stadtbevölkerung aus. Am zahlreichsten sind sie nach der Zählung von 1897 vertreten in Samara (224,336), Wolynien (171,331), Saratow (166,528), Petrokow (148,765), Livland (98,573), Jekaterinoslaw (80,979), Taurien (78,305), Warschau (77,160). Vgl. Stach, Die deutschen Kolonien in Südrußland (Leipz. 1904) und die Schrift von Keller unter gleichem Titel (Odessa 1905); Weiteres s. Artikel »Deutsches Volk«, S. 751. Der iranische Stamm ist vertreten durch die Armenier, von denen jedoch nur 55,000 Köpfe im europäischen Rußland leben, am zahlreichsten als Kaufleute und Gewerbtreibende in Rostow a. D., Nachitschewan, Astrachan und in der Krim, und die vagabondierenden Zigeuner, die, auf etwa 100,000 Seelen geschätzt, hauptsächlich in Bessarabien leben. Von den in Rußland wohnenden Semiten sind nur die Juden hervorzuheben. Von ihnen wohnen 3,714,995 im europäischen Rußland, 1,267,194 in Polen. Sie unterliegen mannigfachen Beschränkungen in ihrem Bürgerrecht und besonders in der freien Wahl des Wohnortes. Das Gebiet der Ansässigkeit erstreckt sich auf die polnischen, weiß-, klein- und neurussischen Gouvernements; sie machen in Polen 14 Proz., in Grodno 17,3, in Minsk 15,8, in Kowno 13,6, in Wolynien 13,4 Proz. der Bevölkerung aus. Der Religion nach gehören zu den Juden die Karäer (auch Karaïten), die, etwa 4500 an der Zahl, die Krim als Hauptsitz haben und nach Sprache und Sitte den Tataren gleichen.

Außerordentlich mannigfach sind die uralischaltaischen Völker in Rußland vertreten, die in zwei große Gruppen, die uralische und altaische, zerfallen. Zur erstern gehören die Finnen, die Ugrosinnen und die Samojeden, zur letztern die Turkstämme, die Mongolen und Tungusen. Die Finnen sind von den nordwärts drängenden Russen in zwei oder eigentlich drei Gruppen, die baltischen Finnen im W. und die Wolga- und Kamafinnen im O., zersprengt worden. Zu der baltischen Gruppe gehören 1) die Lappen, die in einer Anzahl von etwa 3500 Köpfen im nördlichen Finnland und im Kreis Kola des Gouvernements Archangel nomadisieren; 2) die eigentlichen Finnen (s. d.), die wieder in die Tawasten im südwestlichen Finnland und in die Karelier (s. d.) zerfallen, die den Norden und Osten Finnlands bewohnen, aber auch in einer Anzahl von etwa 200,000 Köpfen über die Gouvernements Olonez, Archangel, Nowgorod, Petersburg, Twer, Jaroslaw zerstreut und hier stark russifiziert sind, auch zum griechisch-orthodoxen Bekenntnis gehören. Zu den Kareliern sind auch die Agrämoiset und die Sawakot zu rechnen, die in einer Anzahl von 60,000, bez. 40,000 Köpfen im Gouv. St. Petersburg wohnen und lutherisch sind, sowie die Wepsen im Gouv. Olonez (über die Bevölkerungsverhältnisse Finnlands vgl. auch die Artikel »Finnland«, S. 587, und »Finnen«); 3) die Esthen (s. d.) in Esthland, im nördlichen Livland sowie in den Gouvernements Petersburg und Pskow und 4) die Liven (s. d.). Zu der einst zahlreichen Gruppe der Wolgafinnen, die in den alten russischen Chroniken als Wessj, Merja und Muroma auftreten, gehören heute nur noch die Tscheremissen (s. d.) in den Gouvernements Wjatka, Kasan, Ufa, Perm, Nishnij Nowgorod und Kostroma und die Mordwinen (s. d.) in den Gouvernements Nishnij Nowgorod, Pensa, Simbirsk, Saratow. Als Kamasinnen faßt man die Wotjaken (s. d.) in Wjatka und Perm, die Permjaken und Syrjanen (s. d.) zusammen, von denen letztere schon nach Sibirien hinüberreichen. Zu der ugrofinnischen Gruppe gehören die Wogulen, die in einer Anzahl von etwa 7000 Köpfen am Oberlauf der Petschora und im Ural leben, sowie die Ostjaken in Sibirien. Die Kopfzahl der nomadischen Samojeden, die den äußersten Nordrand des europäischen Rußland bewohnen, schätzt man auf etwa 2000. – Die Völker der altaischen Gruppe haben ihren Wohnsitz zum größten Teil in Asien. Im europäischen Rußland kommen folgende Völkerschaften in Betracht: 1) die Tataren, die mit 1,953,155 Köpfen nach den Russen und Juden die stärkste Bevölkerungsgruppe bilden. Sie haben ihren Hauptsitz im Gouv. Kasan (675,419 Köpfe), ferner in Taurien (196,854), Ufa (184,817), Samara und Simbirsk, Wjatka, Orenburg, Pensa, Saratow, Astrachan und bekennen sich durch weg zum Islam; 2) die Baschkiren (s. d.) und die eng mit ihnen vermischten Teptjaren und Meschtscherjaken, von denen 939,865 im Gouv. Ufa sowie größere Mengen in Orenburg, Samara und Perm wohnen; 3) die Tschuwaschen (s. d.) in den Gouvernements Kasan, Simbirsk, Samara, Orenburg und 4) die Kirgisen, die in zahlreiche Nomadenstämme zerfallen, von denen einer, die sogen. Bukejewsche Horde (s. d.), etwa 250,000 Köpfe stark, im Gouv. Astrachan wohnt. Die einzigen Vertreter der Mongolen in Europa sind die Kalmücken, die in einer Anzahl von ca. 120,000 Seelen auf der rechten Wolgaseite in Astrachan und dem Dongebiet nomadisieren und sich zum Lamaismus bekennen. Vgl. Buschen, Die Bevölkerung des russischen Kaiserreichs (statistisch, Gotha 1862); Pauly, Description ethnographique des peuples de la Russie (Petersb. 1862, mit 62 Tafeln); [294] Sograph, Die Völker Rußlands (russ., Moskau 1894); Schönrock, Die Bevölkerung des russischen Reichs (Petersb. 1895); die im Artikel »Russen« angeführten Werke von Rittich, Pypin u.a.

Tabelle

Religionsbekenntnisse. Stände.

Über die Stärke der Religionsbekenntnisse lieferte die Zählung von 1897 für das ganze Reich, ausschließlich Finnland, folgende Zahlen:

Tabelle

Für das europäische Rußland insbes. läßt sich folgende Ausstellung machen:

Tabelle

In Polen sind die Katholiken mit 74,3 Proz., die Juden mit 14,0, die Orthodoxen mit 7,1, die Evangelischen mit 4,5 Proz. vertreten. In Finnland und den Ostseeprovinzen ist die evangelisch-lutherische Kirche vorherrschend. Die Zentralbehörde der griechisch-orthodoxen Konfession ist der heilige Synod, zusammengesetzt aus den höchsten geistlichen Würdenträgern des Landes, Ihm beigeordnet ist ein (weltlicher) Oberprokureur, durch den der Synod mit dem Kaiser und den weltlichen Behörden verkehrt. Für die kirchliche Verwaltung und Jurisdiktion ist das ganze Reich in 66 Eparchien eingeteilt (außerdem gibt es zwei auswärtige Eparchien in Nordamerika und Japan), an deren Spitze Metropoliten (3), Erzbischöfe (14) und Bischöfe stehen. In jeder Eparchie befindet sich ein geistliches Konsistorium und ein Eparchialschulrat. Die Eparchien zerfallen in Diözesen (Propsteien), diese in je 15–35 Kirchengemeinden. Außerhalb der Eparchien stehen die Geistlichkeit des kaiserlichen Hofes und die Militärgeistlichkeit, die 4 Hüttenklöster und die 6 Stauropygialklöster. Abgesehen von diesen gab es 1900: 503 Mönchsklöster mit 16,668 Insassen und 325 Nonnenklöster mit 41,615 Insassinnen, ferner 48,385 Kirchen mit 45,409 Priestern. (Weiteres vgl. Russische Kirche.) Die andern Konfessionen stehen unter dem Departement der »ausländischen Konfessionen« des Ministeriums des Innern, haben aber eigne Verwaltung, die aus Weltlichen und Geistlichen zusammengesetzt ist. Für die evangelische Kirche, mit Ausnahme Finnlands, ist das Generalkonsistorium in St. Petersburg die Oberbehörde, die über 6 evangelisch-lutherischen und 2 reformierten Konsistorien steht. An der Spitze der katholischen Kirche steht ein Erzbischof, dem 10 Bistümer untergeordnet sind. Für die jüdische Bevölkerung bestehen 6319 Synagogen, Betschulen etc. (mit 5673 Rabbinern und Gehilfen), für die karaïtische 35 Synagogen, für die mohammedanische 9254 Moscheen (16,914 Geistliche). Durch das Gesetz vom 17./30. April 1905 ist die bisherige bevorzugte Stellung des griechisch-orthodoxen Bekenntnisses eingeschränkt worden, indem volljährige Angehörige der griechisch-orthodoxen Kirche fortan zu andern christlichen Bekenntnissen übertreten dürfen. Das Gesetz bringt namentlich auch für die Sektierer Erleichterungen und merzt die Bezeichnung »Raskolniki« (Abtrünnige) aus dem amtlichen Sprachgebrauch aus.

Man scheidet die Bewohner in folgende Stände: Adel (erblichen und persönlichen), Geistlichkeit, städtische Stände, Bauernstand, Fremdvölker (wozu die nomadisierenden Stämme und die Juden gehören) und Ausländer. Was zunächst den Adel betrifft, so ist der alte russische Bojarenadel seit der Krëierung des Verdienstadels durch Peter d. Gr. (1722) dem letztern ganz gleichgestellt. Gegenwärtig erhält man den Erbadel durch Erlangung des Ranges eines Wirklichen Staatsrats oder eines Obersten, durch Verleihung eines Ordens erster Klasse oder durch Verleihung irgendeiner Klasse des Wladimir-Ordens und des Georgskreuzes. Der russische Adel unterscheidet sich besonders dadurch von dem deutschen in den russischen Ostseeprovinzen, daß von Lehnsverhältnissen bei ihm nie die Rede war und Fideikommisse und Majorate bei ihm nur selten vorkommen. Adlige Titel, wie Graf und Baron, haben von den Ostseeprovinzen her Eingang gefunden, dagegen ist der Fürstentitel uralt und bezeichnet meist die Abstammung von russischen, litauischen, tatarischen und andern ehemals regierenden Geschlechtern. Den persönlichen Adel erhält man durch Erlangung der neunten Rangklasse im Zivildienst oder des Leutnantsranges. Die Geistlichkeit zerfällt in die schwarze oder Klostergeistlichkeit, die im Zölibat lebt, und zu der die höhern kirchlichen Würdenträger gehören, und die weiße oder Weltgeistlichkeit. Zu den städtischen Ständen gehören die erblichen[295] und persönlichen Ehrenbürger, die Kaufleute, die Kleinbürger und Handwerker. Eine ganz besondere Stellung nehmen die Kosaken ein.

Bildung und Unterricht.

Obgleich ein besonderes Ministerium für Volksaufklärung besteht, ist das Schulwesen doch keineswegs einheitlich eingerichtet. Fast alle andern Verwaltungszweige, insbes. der heilige Synod und die Verwaltung der Wohltätigkeitsanstalten der Kaiserin Maria, unterhalten ebenfalls Lehranstalten. Ein Schulzwang besteht mit Ausnahme Finnlands nicht. Die Zahl der Analphabeten ist zum Teil noch sehr groß, besonders auf dem flachen Lande. Die nachfolgenden Angaben, die zum größten Teil dem amtlichen Jahresbericht (für 1902) des Ministeriums der Volksaufklärung entnommen sind, beziehen sich auf das Russische Reich, mit Ausschluß Finnlands (für dessen Schulwesen s. Finnland, S. 587). Den untersten Typus der niedern Lehranstalten bilden die Elementarschulen, mit überwiegend einer Klasse und dreijährigem Kursus, deren es 38,889 mit im ganzen 2,829,931 Schülern, wovon 778,717 Mädchen, und 87,050 Lehrern gab. 4208 Schulen waren davon in Städten, der Rest auf dem flachen Lande. Ein weiteres Programm haben die Stadtschulen (nach dem Statut von 1872), von denen man 687 mit 107,931 Schülern und 4952 Lehrern zählte. Sie haben meist vier Klassen, bez. sechsjährigen Kursus. Die alten Kreisschulen sind bis auf zwei in Stadtschulen umgewandelt. Zur Heranbildung von Lehrkräften für die Stadtschulen bestehen 10 Lehrinstitute mit 1600 Schülern und solcher für die Elementarschulen 66 Lehrerseminare mit 6453 Schülern. Eine größere Verbreitung als die Elementarschulen haben neuerdings die von der Regierung aus politischen Gründen lebhaft geförderten Volksschulen des heiligen Synods erlangt. Es gibt davon zwei Typen: die ein- und zweiklassigen Kirchengemeindeschulen und die Leseschulen. Von erstern zählte man 1901: 29,893 mit 1,037,606 Schülern (wovon 284,718 Mädchen), von letztern 21,711 mit 596,855 Schülern (141,191 Mädchen). Die mittlern Lehranstalten für Knaben sind durch die klassischen Gymnasien (207 mit 85,625 Schülern), die einen achtjährigen Kursus haben, die Progymnasien (35 mit 6665 Schülern) mit vier- oder sechsjährigem Kursus und die Realschulen (124 mit 44,376 Schülern) mit sechs allgemeinen und einer Spezialklasse vertreten. Zu den höhern Lehranstalten des Ministeriums der Volksaufklärung gehören in erster Reihe die 9 Universitäten in St. Petersburg (gegründet 1819), Moskau (1755), Kasan und Charkow (1804), Kiew (1834), Odessa (1864), Dorpat oder Jurjew (gegründet 1632, bez. 1802) und für Sibirien in Tomsk (1888). Die russischen Universitäten haben im allgemeinen vier Fakultäten: für Jurisprudenz, Medizin, physiko-mathematische und historisch-philologische Disziplinen. In St. Petersburg fehlt die medizinische Fakultät, an deren Stelle eine für orientalische Sprachen tritt; Dorpat hat eine fünfte Fakultät für protestantische Theologie, Tomsk bisher nur eine juristische und eine medizinische. Die Gesamtzahl der Lehrkräfte belief sich auf 448 ordentliche und 126 außerordentliche Professoren, 4 Dozenten und 500 Privatdozenten, die der Lernenden auf 17,808 Studenten und 958 freie Zuhörer. Die erstern verteilen sich folgendermaßen auf die Fakultäten: Jurisprudenz 7280, Medizin 4172, physikomathematische Wissenschaften 4797, historisch-philologische 1190, orientalische Sprachen 244, Theologie 125. Den Universitäten reihen sich noch einige Spezialhochschulen an, so insbes. die dem Kriegsministerium unterstellte militär-medizinische Akademie in St. Petersburg (786 Studenten), die 4 Veterinärinstitute in Warschau, Kasan, Charkow, Dorpat mit zusammen 1409 Studenten, die historisch-philologischen Institute in St. Petersburg und Njeshin, das Demidowsche juridische Lyzeum in Jaroslaw, das Lazarewsche Institut für orientalische Sprachen in Moskau und das Orientalische Institut in Wladiwostok. Erwähnung verdienen noch zwei nur den privilegierten Ständen zugängliche Schulen in St. Petersburg, das Lyzeum und die Rechtsschule, die für den höhern Verwaltungsdienst vorbereiten. Für das weibliche Geschlecht bestehen zurzeit 5 Hochschulen, das weibliche medizinische Institut in St. Petersburg, das die Rechte einer Universität genießt und 1264 Zuhörerinnen hat, das 1906 ebenfalls in St. Petersburg eröffnete weibliche polytechnische Institut, das pädagogische Institut in St. Petersburg und die sogen. höhern Frauenkurse in St. Petersburg und Moskau (mit 1154, bez. 777 Zuhörerinnen), die je eine historisch-philologische und eine physiko-mathematische Abteilung haben. An mittlern Lehranstalten bestehen für das weibliche Geschlecht 31 geschlossene, nur dem Adel zugängliche Fräuleinstifte, 264 Gymnasien mit 102,688,171 Progymnasien mit 31,886 und 12 sogen. Marienschulen (den Progymnasien gleichend) mit 2151 Schülerinnen. Auf dem wichtigen Gebiet der technischen Bildung sind an Hochschulen zu nennen (Schülerzahl soweit möglich in Klammern beigefügt): 3 technologische Institute in Petersburg (1180), Charkow (1025) und Tomsk (391), die Moskauer Technische Schule (1028), 4 Polytechnika in Riga (1527), Kiew, Warschau und St. Petersburg, 2 Berginstitute in St. Petersburg (585) und Jekaterinoslaw (210), die Institute der Zivil- und der Wegebauingenieure in St. Petersburg, die Moskauer Ingenieurschule, das Elektrotechnische Institut in St. Petersburg, das Forstinstitut (522) daselbst und die landwirtschaftlichen Akademien in Moskau und Nowo-Alexandria (224) sowie das Feldmesserinstitut in Moskau. An mittlern und niedern Lehranstalten gibt es auf diesem Gebiet 21 mittlere Gewerbeschulen mit 4304,20 niedere Gewerbeschulen mit 2349 und 107 Handwerkerschulen mit 6975 Schülern; ferner 5 Steigerschulen, 11 mittlere und 105 niedere Ackerbauschulen, 23 Forstschulen, 5 Feldmesser- und 32 Eisenbahnschulen. An Handelsschulen, die mit wenigen Ausnahmen dem Finanzministerium unterstehen, gab es 1903: 148 mit 32,251 Schülern, darunter 47 sogen. Kommerzschulen mit 16,505 Schülern, die dem Range nach den mittlern Lehranstalten gleichstehen. Völlig abgesondert sind die dem heiligen Synod unterstellten geistlichen Schulen der griechisch-orthodoxen Kirche. An erster Stelle stehen hier die 4 geistlichen Akademien in St. Petersburg, Kiew, Moskau und Kasan mit insgesamt (1901) 706 Studenten. Als mittlere Lehranstalten gelten die geistlichen Seminare (58 mit 19,112 Schülern); ein etwas engeres Programm haben die geistlichen Schulen (185 mit 30,431 Schülern). Für die eignen Töchter der Geistlichen, aber auch für andre Mädchen unterhält der Synod 53 sogen. Eparchialschulen mit 16,021 Schülerinnen. Dem Kriegsministerium unterstehen die Nikolai-Akademie des Generalstabes, die Artillerie- und die Ingenieurakademie sowie die militär-juridische Akademie, sämtlich[296] in St. Petersburg, ferner das Pagenkorps und 8 Militärschulen, die ebenfalls als höhere Lehranstalten gelten, eine Schule für Kriegstopographen, 23 Kadettenkorps und 11 Junkerschulen. Der Heranbildung von Seeoffizieren dienen die Marineakademie und das Marinekadettenkorps in St. Petersburg und die Marine-Ingenieurschule in Kronstadt. Zur Heranbildung von Kapitänen und Steuerleuten der Handelsflotte gibt es 41 Seemannsschulen verschiedener Kategorien und Spezialschulen in St. Petersburg, Rostow a. D., Archangel und Odessa. An Kunstschulen sind zu nennen: die Akademie der Künste in St. Petersburg (für Skulptur, Malerei und Architektur), 2 Zeichenschulen und 2 Konservatorien in St. Petersburg und Moskau, das Warschauer musikalische Institut, die Hofsängerkapelle sowie 2 Theaterschulen. Über das Volksschulwesen vgl. Th. Oldenburg, Die Volksschulen im europäischen Rußland (St. Petersb. 1896) und Fahlbork und Tscharnoluzki, Die Volksbildung in Rußland (das. o. J., doch nach 1900), beide russisch.

Der Zentralpunkt aller wissenschaftlichen Tätigkeit ist die Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg, zu der nach Leibniz' Plan Peter d. Gr. den ersten Grund (1724) legte, die aber erst nach ihm (1726) eröffnet wurde. Die Akademie hat drei Abteilungen: für physiko-mathematische Wissenschaften, für russische Sprache und Literatur, mit einer Unterabteilung für schöne Literatur (seit 1899), und für Geschichte und Philologie. Zu ihr gehören die Sternwarte in Pulkowo, das physikalische Hauptobservatorium in St. Petersburg, ein ebensolches Observatorium in Tiflis, 3 erdmagnetische Observatorien in Pawlowsk, Jekaterinburg und Irkutsk, ein zoologisches, ein botanisches, ein geologisches, ein asiatisches und ein Museum für Ethnographie und Anthropologie, das russische Münzkabinett und mehrere Laboratorien. Von sonstigen gelehrten Instituten nennen wir das Institut für Experimentalmedizin, den Botanischen Garten und die Archäologische Kommission in St. Petersburg; unter den etwa 240 Gesellschaften für Wissenschaft und Kunst (außer Finnland) genießen das größte Ansehen: die Freie Ökonomische Gesellschaft (gegründet 1765), die Gesellschaft zur Förderung von Handel und Gewerbe, die Technische Gesellschaft, die russische Gesellschaft für Schiffahrt, die russische Geographische Gesellschaft, die Gesellschaften für Fischzucht, für Gartenbau, für Obstzucht sowie die Gesellschaft für Preßwesen, sämtlich in St. Petersburg. An Gemäldegalerien sind zu nennen: die kaiserliche Eremitage, das Museum Alexanders III., die Gemäldegalerie der Akademie der Künste, das Museum der Gesellschaft zur Förderung der Kunst in St. Petersburg, die Tretjakowsche Galerie und das Rumjanzowsche Museum in Moskau. Hervorragende Bibliotheken sind: die kaiserliche öffentliche Bibliothek und die Bibliothek der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg; die bei dem Rumjanzowschen Museum und bei dem Archiv des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten in Moskau, die Bibliotheken an den Universitäten, die Rigasche Stadtbibliothek.

Die periodische Presse war (im August 1905) durch 1630 Zeitungen, Wochen- und Monatsschriften vertreten (Finnland wiederum ausgenommen); davon erschienen 1312 in russischer und 318 in fremden Sprachen, und zwar 152 in polnischer, 63 in deutscher, 29 in lettischer, 20 in esthnischer, 12 in armenischer, 10 in französischer, 9 in grusinischer, je 5 in litauischer und tatarischer Sprache und in jüdischem Jargon, je 3 in hebräischer Sprache und in Esperanto, je eine in englischer und finnischer Sprache. In St. Petersburg erschienen 534, in Moskau 185. Die Zahl der täglich erscheinenden Blätter betrug 286, davon 50 in St. Petersburg, 25 in Moskau. An Buchdruckereien und lithographischen Anstalten gab es 1900: 618 mit 26,416 Arbeitern. Nachdem durch das Manifest vom 17. (30.) Okt. 1905 »Freiheit des Wortes« verliehen worden war, wurde durch das zeitweilige Gesetz über die periodische Presse vom 7. Dez. 1905 eine Reihe von Erleichterungen gewährt, insbes. die Präventivzensur für alle in Städten erscheinenden Zeitungen und Zeitschriften aufgehoben und die gerichtliche Bestrafung von Preßvergehen, statt der bisher geübten administrativen, zum Prinzip gemacht. Durch Gesetz vom 9. Mai 1906 wurde die Präventivzensur auch für Bücher aufgehoben; ausländische Preßerzeugnisse werden dagegen noch zensiert. Über das Zeitschriftenwesen vgl. auch Artikel »Russische Literatur« (S. 279).

Agrarverfassung, Landwirtschaft.

Über die Bodenbesitzverteilung im europäischen Rußland (außer Polen und Finnland) liegt nur mangelhaftes und ungleichartiges statistisches Material vor. In den Jahren 1877–78 wurde eine besondere Enquete veranstaltet, die in den 49 europäischen Gouvernements (das Dongebiet ist ausgeschlossen) den gesamten Grundbesitz auf 426,3 Mill. Hektar ermittelte. Davon gehörten dem Fiskus 38,5 Proz. (163,9 Mill. Hektar, zum weitaus größten Teil in den nördlichen Gouvernements belegen und mit 69,3 Proz. aus Wald, mit 28,1 Proz. aus Unland bestehend), Kirchen, Klöstern etc. 2,2 Proz., den kaiserlichen Apanagen 1,9 Proz., privaten Grundbesitzern 23,8 Proz. Die restlichen 33,6 Proz. oder 143,0 Mill. Hektar bildeten das sogen. Anteilland der Bauern. Hiervon waren 127,3 Mill. Hektar landwirtschaftlich nutzbar. Die neuern Erhebungen erstrecken sich nur auf den steuerbaren Grund und Boden, also mit Ausschluß von Unland, Schutzwaldungen, Kirchen- und Klosterland etc. Dieser betrug 1900 in den 60 Gouvernements des europäischen Rußland 346,5 Mill. Hektar, und es waren davon 122,4 Mill. Hektar oder etwas über ein Drittel bäuerliches Anteilland; von den restlichen 224,1 Mill. Hektar waren 102,8 Mill. Hektar Domänen- und Apanagenland und 111,2 Mill. Hektar privater Grundbesitz. Von letzterm Areal gehörten 21,7 Mill. Hektar Bauern zu »eigen«, sind also von ihnen seit 1861 allmählich gekauft worden, davon etwa 7,16 Mill. Hektar durch Vermittelung der 1883 zu diesem Zweck errichteten Bauernagrarbank. Die bäuerliche Bevölkerung betrug 1897: 82,4 Mill. Personen, die sich auf 10,626,028 Bauernhöfe oder Wirtschaften verteilten. Wenn so der allgemeine Durchschnitt der auf den Bauernhof entfallenden Landanteile keinen Landmangel anzuzeigen scheint, so ist zu berücksichtigen, daß die Verteilung im einzelnen sehr ungleich ist, daß namentlich in Zentralrußland der durchschnittliche Anteil des Hofes sehr viel kleiner ist (bis 3 und 2 Hektar), und daß bei der primitiven Technik des Ackerbaues ein wesentlich größeres Areal als in Westeuropa erforderlich ist (vgl. Loganow, Statistik des Bodenbesitzes im europäischen Rußland, russ., St. Petersb. 1906) Einer der Hauptgründe dieser rückständigen Technik ist in der Einrichtung der Feldgemeinschaft oder des Gemeindebesitzes zu suchen, die eine Eigentümlichkeit der russischen bäuerlichen Agrarverfassung ist.

Der Gemeindebesitz ist nach Joh. v. Keußler als die Grundbesitzform aufzufassen, nach der das Land[297] durch Gemeindebeschluß unter die Bauern nach Seelen, Arbeitskräften oder nach einem andern Modus umgeteilt oder verteilt, den für die Nutzung des Landes auferlegten Verpflichtungen aber unter solidarischer Hast nachgekommen wird. Diese Besitzform herrscht in 30 großrussischen Gouvernements, nämlich in St. Petersburg, Olonez, Nowgorod, Wologda, Pskow, Twer, Jaroslaw, Kostroma, Wjatka, Perm, Smolensk, Moskau, Wladimir, Nishnij Nowgorod, Kasan, Kaluga, Tula, Rjasan, Tambow, Pensa, Simbirsk, Orel, Kursk, Woronesh, Saratow, Samara, Orenburg, Ufa, Astrachan und Charkow. 84,6 Proz. des Bauernlandes sind im Gemeinde-, nur 15,4 Proz. im persönlichen Besitz. In den andern Gouvernements herrscht der persönliche Grundbesitz, der jedoch »im Interesse der Erhaltung eines kräftigen Bauernstandes« vielfachen Beschränkungen unterliegt.

Beim Gemeindebesitz hat die Gemeinde die Verfügung über das ganze Land, dessen wirtschaftliche Verwendung sie bestimmt, wobei ein Teil (derjenige, der wirtschaftlichen Nutzen gewährt, ohne Arbeit zu beanspruchen) in gemeinsamer Nutzung bleibt, ein zweiter Teil vielleicht brach liegt und ein dritter zur Bebauung unter die Gemeindegenossen verteilt wird. Seit 1893 dürfen die Umteilungen höchstens alle zwölf Jahre vorgenommen werden. Als Maßstab bei Umteilungen wird bald die Arbeitskraft angenommen (»Tjaglo«, ursprünglich ein arbeitsfähiges Ehepaar), bald die »Seele«, die Zahl der Arbeiter etc. Die Technik der Umteilungen und Neuverlosungen läßt an Genauigkeit in der Ausgleichung der Parzellen nichts zu wünschen übrig. Bei den Ländereien selbst werden unterschieden: 1) das Gehöftareal, 2) Ackerland und Wiese, 3) die gemeine Mark, wie Weiden, Wald, Flüsse etc. Das Gehöftareal ist dasjenige Land, das in der Umkreislinie einer bewohnten Ortschaft liegt, und auf dem sich die bäuerlichen Wohnhäuser, Wirtschaftsgebäude u. dgl. befinden. Auch die Gemüse- und Obstgärten, Dreschtennen u. dgl. im Umkreis der Ansiedelung gehören hierher. Acker und Wiese bekommen die Bauern von der Gemeinde zur zeitweiligen Nutzung zugeteilt. Ungeteilt bleibt endlich die gemeine Mark, die allen Bauern gemeinsam zur Nutzung zugewiesen wird, wie Weiden, Wald, Schluchten, Teiche, Flüsse u.a.m.

Wo persönlicher Grundbesitz existiert, da werden, wie in Kiew, Podolien, Wolynien, drei Kategorien von Bauern unterschieden: die Vollbauern, Kleinbauern und Gärtner. Letztere besitzen kein Ackerland, sondern nur ein Gehöft. Das Land wird hier den bäuerlichen Familien zur bleibenden Nutzung überwiesen, wobei jedoch der Inhaber an gewisse Bestimmungen gebunden ist, z. B. darf er nur mit Zustimmung der Gemeinde seinen Anteil einem Gemeindegenossen oder einer andern Person abtreten, die Teilung des Landanteils unter die Erben ist nur bis zu einer gewissen Grenze gestattet, im Falle des Todes eines Wirtes ohne Erben fällt das Land an die Gemeinde zurück u. dgl. m. Ähnliche Gesetze gelten in den kleinrussischen Gouvernements Tschernigow, Poltawa und in einem Teile von Charkow. In den nordwestlichen Gouvernements, in Wilna, Grodno, Kowno, Minsk und einigen Kreisen von Witebsk, nähert sich der bäuerliche individuelle Grundbesitz mehr den westeuropäischen Zuständen. Über den Gemeindebesitz vgl. Keußler, Zur Geschichte und Kritik des bäuerlichen Gemeindebesitzes in Rußland (Petersb. 1876–86, 3 Bde.), und W. G. Simkhowitsch, Die Feldgemeinschaft in Rußland (Jena 1898).

Bis zum Jahre 1861 waren die russischen Bauern unfrei, d.h. an die Scholle gefesselt. Nach der Zugehörigkeit des Landes unterschied man Staats-, Apanage- und gutsherrliche Bauern. Durch das Emanzipationsgesetz vom 19. Febr. 1861 (s. Leibeigenschaft) wurde die Leibeigenschaft für die letztern aufgehoben. Die Bauern erhielten das beständige Nutznießungsrecht auf das von der Gesetzgebung der Größe nach bestimmte Bauernland und konnten das Gehöftland zu einem ebenfalls gesetzlich normierten Preis erwerben. Die Ablösung des Ackerlandes erfolgte in der Weise, daß die Regierung dem Gutsherrn die Ablösungssumme in Wertpapieren auszahlte und sie den Bauern als Schuld anrechnete, zu deren Verzinsung und allmählicher Tilgung (in 49 Jahren) die Bauern eine Annuität von 6 Proz. zu entrichten haben (die sogen. Loskaufszahlungen). Durch Gesetz vom 28. Jan. 1881 wurde die Ablösung des Ackerlandes vom 1. Jan. 1883 ab obligatorisch gemacht. In ähnlicher Weise wurde durch Gesetz vom 26. Juni 1863 die Emanzipation der Apanagebauern geregelt. Die Staatsbauern blieben zunächst in der Lage von Erbpächtern. Durch Gesetz vom 28. Mai 1885 wurde die bisher von ihnen gezahlte Pachtsteuer unter entsprechender Erhöhung vom 1. Jan. 1887 an in Ablösungszahlungen auf 44 Jahre verwandelt so daß das Land nach Ablauf dieser Frist ihnen zu eigen gehört. Hatte das Gesetz vom 19. Febr. 1861 schon mancherlei Zugeständnisse zugunsten der Gutsbesitzer gegen den ursprünglichen Emanzipationsplan gebracht, so kamen bei seiner Durchführung und der Ablösung des Bauernlandes erst recht mannigfache Benachteiligungen der Bauern vor. Diese erhielten nicht nur weniger Land, als sie zur Zeit der Leibeigenschaft besaßen, sondern dies wurde ihnen auch zu einem den Wert sehr übersteigenden Preis angerechnet. Das Ergebnis war Landmangel und übermäßige Belastung durch die Loskaufszahlungen, die vollständig den Charakter einer Steuer angenommen haben. Diese Erscheinungen wurden durch die künstliche Aufrechterhaltung der Feldgemeinschaft und die nachfolgende reaktionäre Gesetzgebung auf innerpolitischem Gebiet, insbes. durch das Gesetz vom 14. (26.) Dez. 1893 über die Unveräußerlichkeit des Bauernlandes, das es dem einzelnen Bauer nahezu unmöglich machte, seinen Landanteil loszukaufen und aus der Feldgemeinschaft auszuscheiden, wesentlich verschärft. Der Landmangel insbes. hat die Bauern zu Landpachtungen veranlaßt, die vom Standpunkt rationeller Bodenbenutzung ebenso unerwünscht wie charakteristisch für die hochgradige Notlage der Bauern sind. Bauern mit eignem, aber unzureichendem Land besitz müssen nämlich von den umliegenden Gütern Land in Pacht nehmen, nur um ihre Wirtschaft aufrecht erhalten zu können. Dadurch sind die Bauern beim Abschluß des Pachtvertrags von vornherein im Nachteil; die Pachtpreise sind enorm hoch, so daß der Pächter oft nicht einmal den Arbeitslohn herauswirtschaftet; die Pachtverträge werden auf sehr kurze Zeit, meist nur auf eine Ernte, abgeschlossen, und das hat zur Folge, daß die Pächter das Land schonungslos aussaugen. Schließlich ergibt sich daraus eine Verschärfung der sozialen Gegensätze, eine Erbitterung der Bauern gegen die ihre Notlage ausnutzenden privaten Grundbesitzer, die zu den agrarischen Unruhen wesentlich beigetragen hat. Nach Tugan-Baranowski sind etwa 42 Proz. aller Bauernhöfe genötigt, in dieser Weise Land zu pachten, und das gepachtete Land macht etwa 30 Proz. des gesamten[298] eignen Landes der Bauern aus. Vgl. auch N. Karyschas, Die bäuerlichen Landpachtungen (russ., Dorpat 1892).

Die wachsende Verarmung der Bauern, namentlich im zentralen Teil, und der Rückgang der Landwirtschaft, die einerseits in den Mißernten, anderseits in enormen Steuerrückständen (1. Jan. 1904: 127,3 Mill. Rubel 1) zum Ausdruck kamen, zwangen die Regierung zu allerlei Abhilfsmaßregeln. Nachdem schon 1881 eine Ermäßigung und 1897 und 1899 eine Aufschiebung der Loskaufszahlungen durchgeführt worden war, wurden sie durch das Gesetz vom 3. (15.) Nov. 1905 von 1906 ab auf die Hälfte herabgesetzt und von 1907 an gänzlich aufgehoben. Die Steuerrückstände sind 1904 bis auf geringe Beträge erlassen worden, ebenso wie 1906 die sogen. Verpflegungsschulden, d.h. die Schulden der Bauern aus den in Mißerntejahren empfangenen Darlehen. Von größerer Bedeutung war die durch Gesetz vom 12. (25.) März 1903 erfolgte Aufhebung der Solidarhaft für die staatlichen, landschaftlichen und Gemeindeabgaben.

Seit 1906 hat die Regierung sich unter dem Eindruck der agrarischen Unruhen genötigt gesehen, den Landerwerb der Bauern etwas zu erleichtern. Dies geschieht durch freiwillige Mobilisierung und Parzellierung des Großgrundbesitzes und von Apanagen- und Domänenland unter Vermittelung der Bauernagrarbank und durch Öffnung der Ländereien des kaiserlichen Kabinetts im Altaibezirk für die innere Kolonisation. Zur Vermittelung des Verkaufs der Ländereien an die Bauern sowie zu deren Unterstützung bei landeskulturellen Maßnahmen, als Beseitigung der Gemengelage, Arrondierungen, Aussiedelung in Einzelhöfe etc. sind in den Gouvernements und Kreisen besondere Bodenreformkommissionen geschaffen worden. Wichtiger erscheint die durch die Gesetze vom 18. Okt. und 22. Nov. 1906 angebahnte Aufhebung der rechtlichen und agrarischen Sonderstellung der Bauern. Das letztere stellt den wichtigen Grundsatz fest, daß mit dem Wegfall der Loskaufszahlungen vom 1. Jan. 1907 ab die Bauern das volle Eigentum am Anteilland erwerben, die Überweisung ihres Anteils zu vollem Eigen fordern und mit ihm aus der Feldgemeinschaft ausscheiden können. Vgl. Tugan-Baranowski, Die Agrarreform (Petersb. 1905); Kaufmann, Übersiedlung und Kolonisation (das. 1905); Pestrshezki, Versuch eines agraren Programms (das. 1906); Sokownin, Das kulturelle Niveau der bäuerlichen Feldwirtschaft auf dem Anteilland und die Agrarfrage (2. Aufl., das. 1906), sämtlich russisch; ferner Yermolow, La Russie agricole devant la crise agraire (Par. 1907).

Die Tätigkeit der Regierung zur Hebung der Landwirtschaft äußert sich im übrigen in der Trockenlegung von Sümpfen, wie z. B. im Polessjegebiet (s. d.), in Pskow und Nowgorod, in der Erteilung von Meliorationsdarlehen, in der Unterstützung landwirtschaftlicher Ausstellungen, in der Förderung wertvoller Kulturen (Weinbau, Seidenraupenzucht etc.). Erfolgreicher ist in dieser Hinsicht die Tätigkeit der Landschaften (Semstwo), die sich namentlich in der Anlage von Versuchsfeldern und Musterwirtschaften, in der Verbreitung. landwirtschaftlicher Maschinen, von Saatgut etc. äußert. 1904 bestanden 119 landwirtschaftliche Vereine und 47 Genossenschaften.

Trotz seiner niedrigen Technik nimmt der Ackerbau unter den Erwerbszweigen der Bewohner Rußlands die bedeutendste Stelle ein. Das gesamte Areal des europäischen Rußland, einschließlich Polens, wird auf 445,3 Mill. Hektar angegeben. Davon entfallen 26,2 Proz. auf Ackerland, 15,9 Proz. auf Wiesen und Weiden, 38,8 Proz. auf Wald und 19,1 Proz. auf Unland. Der geringe durchschnittliche Anteil des Ackerlandes erklärt sich durch die Einbeziehung solcher Gebiete wie Archangel, Wologda, Olonez, wo das Ackerland nur 0,1–5 Proz. des Gesamtareals ausmacht. In den Gouvernements der Schwarzerdezone schwankt der Anteil des Ackerlandes zwischen 32 Proz. (Ufa) und 78 Proz. (Cherson), in den übrigen (außer den obigen drei) zwischen 12 und 43 Proz. Der Ertrag der Getreideernte wird durch folgende Zahlen charakterisiert, die sich auf das europäische Rußland mit Polen, aber ohne Finnland, beziehen.

Tabelle

In hohem Grade bemerkenswert ist Rußlands Produktion an Flachs und Hans. Lein wird zur Deckung des Hausbedarfs wohl ihm ganzen Reiche gesät; als Handelspflanze dagegen wird er nur in ganz bestimmten Bezirken gebaut, und zwar im N. und NW. zur Fasergewinnung, im S. und SO. zur Samengewinnung. Im nördlichen Bezirk stehen in erster Reihe die Gouvernements Livland, Pskow, Kowno, Smolensk, Twer und Wjatka; im südlichen: das Donische Gebiet, Jekaterinoslaw, Cherson, Taurien, Samara, Saratow, Woronesh. 1903 waren im europäischen Rußland 1,409,969 Hektar mit Flachs bestellt, deren Ertrag auf 4,4 Mill. dz Leinsaat und 4,3 Mill. dz Flachsfaser angegeben wird, doch erscheinen diese Zahlen nicht ganz zuverlässig. Dasselbe gilt für die Hausproduktion, die auf 3,9 Mill. dz Saat und 2,9 Mill. dz Faser berechnet wird. Die Anbaufläche betrug 733,493 Hektar und entfällt hauptsächlich auf die Gouvernements Orel und Kursk. An sonstigen Ölpflanzen werden Raps, Sonnenblumen, Senf und Mohn angebaut, hauptsächlich in den südlichen und südöstlichen Gebieten. Hopfen wird in Polen, Wolynien, Kostroma und im Gouv. Moskau (Umgegend von Gußlizy) kultiviert. Die jährliche Ernte beträgt etwa 6,5 Mill. kg und deckt mit ungefähr zwei Drittel den Bedarf der russischen Bierbrauerei. Der Kultur von Baumwolle begegnet man nur in den südlichen Grenzgebieten des Reiches, in Transkaukasien und Turkistan. Das Produkt steht dem amerikanischen im allgemeinen nach. Eine große Bedeutung hat für Rußland die Kultur der Zuckerrübe gewonnen. Gegenwärtig wird sie in 23 Gouvernements gebaut, außer Polen besonders in Kiew, Podolien, Charkow, Kursk, Tschernigow und Wolynien, in welchen sechs Gouvernements sich 88 Proz. der gesamten Zuckerproduktion konzentrieren. Der Gesamtertrag an Rüben belief sich 1901 auf 81,7,1902 auf 89,2,1903 auf 76,4 Mill. dz.

Mit Tabak waren 1903: 47,332 Hektar bestellt, die[299] einen Ertrag von 716,541 dz lieferten. Die Hauptanbaugebiete sind die Gouvernements Tschernigow und Poltawa, die über die Hälfte des gesamten Ertrages liefern, ferner Tambow, Taurien, Astrachan, Samara, Woronesh. Produziert werden hauptsächlich niedere Sorten (die sogen. Machorka).

Der Weinbau wird im europäischen Rußland in den Gouvernements Bessarabien, Cherson, Taurien, Astrachan und im Donischen Gebiet, namentlich aber im Kaukasus betrieben. Das von den Weinbergen eingenommene Areal wird 1900 auf 238,300 Hektar, das Quantum des gewonnenen Rebensafts auf 2,955,800 hl angegeben, wovon 1,5 Mill. auf Bessarabien entfallen. Der Gemüsebau, der in einzelnen Teilen Rußlands sehr entwickelt ist, erzeugt hauptsächlich Kohl, Zwiebeln, Knoblauch, Gurken, Melonen, Arbusen, Dill, Anis, Kümmel, Kürbisse, Rettiche, gelbe und rote Rüben. Vorzügliche Wiesen und Heuschläge sind im äußersten Süden, in Kleinrußland und in den Ostseeprovinzen, wo der Anbau der Futterkräuter große Verbreitung hat. Die Heuernte betrug 1904: 352,6 Mill. metr. Ztr. An amtlichen statistischen Veröffentlichungen sind die von dem statistischen Zentralkomitee jährlich publizierten »Ernteergebnisse« (2 Bde.) und die fortlaufenden Publikationen des Landwirtschaftsministeriums (jährlich 6–7 Lieferungen) zu nennen; ferner die von derselben Stelle herausgegebene »Sammlung statistischer Daten über die russische Landwirtschaft zu Ende des 19. Jahrhunderts« (2 Bde. und Atlas, 1902–03, russ.). An nicht amtlichen Werken vgl. P. Lochtin, Der Stand der Landwirtschaft in Rußland im Vergleich mit andern Staaten (St. Petersb. 1901); Spezialwerke sind: Ballas, Der Weinbau in Rußland (das. 1895–1903, 6 Bde.) und Übersicht über den Stand des Obst-, Gemüse- und Weinbaues in Rußland (amtlich, das. 1899), alles russisch.

Viehzucht.

Nach offiziellen Quellen betrug der Viehstand im europäischen Rußland, einschließlich Polens, in Tausenden:

Tabelle

Renntiere gibt es namentlich in den Kreisen Mesen und Kem des Gouv. Archangel. Kamele werden in den Gouvernements Astrachan, Orenburg und Samara gehalten. Die Pferdezucht erfreut sich besonderer Förderung der Regierung; in der Hauptverwaltung des Reichsgestütswesens besteht für sie eine besondere oberste Behörde, die zurzeit 7 Gestüte mit 2501 Zuchttieren unterhält. Gezüchtet werden hier namentlich Last- und Arbeitspferde und Militärreitpferde. Bei dem heimischen russischen Pferd sind zwei Rassen, das Steppen- und das sogen. Bauernpferd, zu unterscheiden. Zu ersterm gehört das durch seine vorzüglichen Eigenschaften bekannte Donische Kosakenpferd. Das Bauernpferd ist wegen schlechter Ernährung meist klein und schwach, doch wird neuerdings viel für seine Ausbesserung getan. Zu erwähnen sind noch die am Bitjug im Gouv. Woronesh gezogenen schweren Lastpferde und vorzügliche Traber (insbes. die sog. Orlowschen) aus verschiedenen Privatgestüten, deren es im ganzen 1820 gibt. Vgl. Fürst Urussow, Die russischen, einheimischen Pferderassen (russ., St. Petersb. 1899). Die Rindviehzucht zur Fleischgewinnung wird insbes. im S. betrieben. Man unterscheidet hier die ukrainische Rasse, die namentlich auch Arbeitsvieh liefert, sowie das vorzügliche kalmückische und das kirgisische Vieh. Im übrigen Rußland herrscht die schlechtweg als russische bezeichnete Rasse vor, die hauptsächlich der Milchgewinnung dient und schlechteres Fleisch liefert. Im Kreis Cholmogory, Gouv. Archangel, wird eine vorzügliche Milchviehrasse gezüchtet. Neben Fleisch liefert die russische Rindviehzucht neuerdings in steigendem Maße Butter für die Ausfuhr. Der Hauptsitz dieser Industrie ist die Stadt Kurgan am Ostabhang des Urals. Von der Gesamtzahl der Schafe waren nur 7,2 Mill. Stück feinwollige. Die Schafzucht hatte ihren Hauptsitz bisher in Taurien, Cherson, Jekaterinoslaw und im Dongebiet. Mit der durch die steigende Getreideproduktion bedingten Abnahme der natürlichen Weiden gerät sie hier immer mehr in Verfall und wird nach Ziskaukasien und Sibirien verdrängt. Jedoch haben die Wolljahrmärkte in Rostow a. D. und Charkow noch immer große Bedeutung. Gut entwickelt ist die Zucht von feinwolligen Schafen auch in Polen. Neben der Pferde- und Viehzucht hat die Geflügelzucht eine große Bedeutung, die namentlich Eier in immer wachsendem Maße für die Ausfuhr liefert. In Polen und den litauischen Gouvernements werden Gänse gezüchtet und in großen Mengen ausgeführt. Für die Bienenzucht, die seit Einführung des Zuckers stark in Verfall geraten war, wird neuerdings seitens der Regierung, der Landschaften und landwirtschaftlichen Vereine durch Schulen, Musterbienenstände und Fachzeitschriften viel getan. Auch ist seit 1890 die Herstellung der Kirchenlichte nur aus natürlichem Bienenwachs vorgeschrieben. Der Bedarf an Wachs muß jedoch zum großen Teil durch ausländische Einfuhr befriedigt werden. Die Seidenraupenzucht hat im europäischen Rußland fast völlig aufgehört und beschränkt sich auf Transkaukasien und Turkistan.

Fischerei. Forstwirtschaft.

Die Fischerei beschäftigt in Rußland als selbständiges Gewerbe etwa 11/2 Mill. Personen und bildet in vielen Gebieten einen wichtigen Nebenerwerb der Bauern. Sie ist bisher ausschließlich Binnen- und Küstenfischerei, während die Hochseefischerei noch völlig fehlt. Besonders entwickelt ist der Fischfang in den zahlreichen Binnenseen und Flüssen, während der Fang von Seefischen den heimischen Bedarf nicht befriedigt, so daß noch eine ansehnliche Einfuhr, namentlich von Heringen, stattfindet. Der gesamte Ertrag der Fischerei wurde 1900 auf 1,315,000 Ton. geschätzt; davon entfallen 625,000 T. auf das Kaspische Meer mit seinen Zuflüssen, 420,000 T. auf die Murmanische Küste (s. d.), das Weiße Meer, die Ostsee, die großen Binnenseen im NW. und die zu diesem System gehörigen Flüsse. 200,000 T. auf das System des Schwarzen und Asowschen Meeres und 70,000 T. auf die Flüsse des Nordostens. Von besonderer Bedeutung sind die großartigen Fischereien im Unterlauf der Wolga und im Kaspischen Meer. Die Fische werden gefroren, getrocknet, gedörrt, gesalzen über das ganze Reich verbreitet, und die Herstellung von Fischkonserven aller Art nimmt einen raschen Aufschwung, namentlich in den Küstenplätzen der Ostsee und des Schwarzen Meeres. An Nebenprodukten, die zum Teil auch Ausfuhrartikel bilden, liefert die Fischerei vor allem Kaviar, Hausenblase, Fischdarm, Tran. Die Hauptanstalt für künstliche Fischzucht ist die von W. P. Wrasski 1856 in Nikolskoje im Kreis Demjansk des Gouvernements Nowgorod errichtete, die 1869 vom Fiskus übernommen wurde und die zahlreichen privaten Fischzüchtereien[300] mit befruchtetem Rogen und jungen Fischchen (namentlich lachsartigen) versorgt. Andre staatliche Fischzüchtereien gibt es seit 1881 in St. Petersburg und seit 1897 in Luga, Dorpat und an der Kura (Boshji Promyssel). Zu erwähnen ist noch der Krebs sang, der namentlich in Finnland blüht, aber auch in der Wolga und Kama immer größere Bedeutung gewinnt. Krebse gelangen bereits in ansehnlichen Mengen zur Ausfuhr. Die Austernzucht an den Küsten des Schwarzen Meeres liefert bisher ein minderwertiges Produkt. Vgl. Kusnezow, Fischerei und Tiererbeutung in den Gewässern Rußlands (St. Petersb. 1898) und Die russische Fischerei (das. 1902); Knipowitsch, Fischerei und Seetierfang im Gouvernement Archangelsk (das. 1897); Borodin, Die Fischereien der Wolga und des Kaspisees und ihre wirtschaftliche Bedeutung (das. 1903, alle russisch).

Eine ungewöhnlich hohe Bedeutung im Wirtschaftsleben Rußlands beansprucht der Wald. 1902 waren im europäischen Rußland (einschließlich Polens, aber außer Finnland) 188,3 Mill. Hektar Wald vorhanden, d.h. wie oben angegeben, 38,8 Proz. des Gesamtareals. Verteilt ist diese Waldfläche sehr ungleich. Die waldreichsten Gouvernements sind Wologda (86 Proz. der Bodenfläche), Perm (70 Proz.), Olonez (63 Proz.), Kostroma (60 Proz.), Wjatka (54 Proz.), Pskow (52 Proz.). Dagegen ist der ganze Süden waldarm, besonders die Gouvernements Astrachan (0,5 Proz.), Cherson (1,4 Proz.), Poltawa (5 Proz.), Bessarabien (6 Proz.), Samara (7 Proz.). Von dem gesamten Waldbestand gehören 117,3 Mill. Hektar dem Fiskus, der somit der bedeutendste Forstwirt in Rußland ist und sich neuerdings nach Kräften bemüht, eine reguläre Forstwirtschaft einzuführen. Dementsprechend sind auch die Einnahmen aus den Staatsforsten beträchtlich gestiegen. 1902 betrug der gesamte Absatz 63 Mill. cbm Holz, mit einem Erlös von 55,2 Mill. Rubel. Nach Abzug der Betriebskosten ergab sich eine Reineinnahme von 47,8 Mill. Rubel. Der bisher vielfach herrschenden Waldverwüstung sucht man durch das Waldschutzgesetz vom 4. April 1888 und durch künstliche Bewaldungsversuche sowie durch Prämien für Aufforstungen zu begegnen. Als Schutzwaldungen waren 19021,2 Mill. Hektar der privaten Verfügung entzogen. Hauptbestandteil sind Nadelhölzer, namentlich Kiefern, Tannen und Fichten. Unter den Laubhölzern wiegen Birken, Erlen, Eichen und Espen vor. Für die Ausfuhr liefert die Forstwirtschaft Bau- und Nutzholz aller Art, Pech, Birkenteer, Holzkohlen, Holzfabrikate und Matten. Sehr bedeutend ist der Binnenhandel mit Holz. Die bedeutendsten Absatzplätze sind: Cherson, Jekaterinoslaw und Krementschug (am Dnjepr), Kosmodemjansk, Dubowka, Zarizyn und Astrachan (an der Wolga). Gegenstand der Jagd sind: Bären, Wölfe, Dachse, Luchse, Füchse, Hafen, Elentiere, Rehe, Eichhörnchen, von Vögeln hauptsächlich Enten, Schnepfen, Birk-, Hasel- und Rebhühner. Vgl. Rudsky und Schafranow in »Land- und Forstwirtschaft« (offiziell, russ.u. engl., 1893); v. Arnold, Rußlands Wald (deutsche Ausg., Berl. 1893); Martenson, Übersicht über das jagdbare und nutzbare Haarwild Rußlands (Riga 1905).

Bergbau und Hüttenwesen.

Unter den Edelmetallen steht das Gold an erster Stelle. Die Produktion betrug im Durchschnitt der Jahre 1892–1901: 40,381,7 kg jährlich und wird für 1902 auf 34,909 kg angegeben. Davon waren 30,738,5 kg Waschgold und nur 4170,5 kg aus Erzen gewonnen. Den Hauptteil der Ausbeute, 25,715,2 kg, lieferte Sibirien, und zwar hauptsächlich Ostsibirien, bez. die Flußsysteme der Olekma, des Witim (zur Lena) und des Amur. Der Ural lieferte 1902: 8774 kg. Der Rest entfiel auf Mittelasien. Platin wird nur im Ural gewonnen, wo 1902 in 122 Minen 6141,8 kg (1903: 5995 und 1904: 5012,3 kg) gefördert wurden. Die durchschnittliche Produktion 1892–1901 betrug 5325,1 kg. Der größte Teil davon geht in rohem Zustand ins Ausland. Rußlands Produktion an Silber und Blei ist zur Zeit ganz unbedeutend. 1902 wurden 28,868 Ton. Silberbleierze gefördert, zumeist im Terekgebiet und in Westsibirien, die 1201,3 kg Silber und 225,6 T. Blei ergaben. Die Gewinnung von Kupfer geht hauptsächlich im Ural und im Kaukasus vor sich; kleinere Mengen liefern Westsibirien, bez. Zentralasien, Finnland und Olonez. Die Gesamtproduktion betrug 1902: 8828,1 T., wovon 4257,4 T. auf den Ural und 3498,1 T. auf den Kaukasus entfallen. An Zink wurden 1902: 8273,8 T., und zwar fast ausschließlich in Polen, in den Gouvernements Kjelzy und Petrokow, an Quecksilber 417 T. gewonnen. Letzteres stammt ausschließlich aus den vier Gruben des Kreises Bachmut im Gouvernement Jekaterinoslaw. Außerordentlich reich ist Rußland an Eisenerzen. Die wichtigsten Fundorte lassen sich in vier oder fünf Gruppen einteilen. An erster Stelle steht der Süden Rußlands: Kriwoi Rog (namentlich Hämatit), Korssak Mogila und bei Kertsch (Brauneisenstein). Der Ural enthält viel (noch wenig ausgebeuteten) Magnet- und Brauneisenstein. Das polnische Erzgebiet hat reiche Lager von Brauneisenstein und Sphärosideriten bei Kjelzy und im Dombrowabassin. Ein viertes Erzgebiet zieht sich in weitem Gürtel südlich von Moskau durch die Gouvernements Kaluga, Tula, Rjasan, Tambow, Wladimir, Nishnij Nowgorod und Wologda, während die Gouvernements Nowgorod, Olonez und der Südosten Finnlands sehr reich an Sumpf- und Rasenerzen sind. 1902 wurden im ganzen 842 Erzgruben und 165 Seen ausgebeutet, die 4,15 Mill. T. Erze förderten. Die Zahl der Hochöfen betrug 1904: 295, doch waren davon nur 167 in Betrieb. Die Produktion von Roheisen betrug in 1000 Tonnen:

Tabelle

Von der Erzeugung des Jahres 1904 dienten 2,366,520 T. Roheisen zur Herstellung von Stahl und Eisen, die zusammen mit dem zur Verwendung gelangten Altmaterial 2,991,360 T. Halbprodukte ergaben. Von dem 1904 erzeugten Halbprodukt entfielen (in 1000 T.) 2076,24 auf Martinstahl, 496,92 auf Bessemerstahl, 167,28 auf Thomasstahl, 244,36 auf Puddeleisen und 6,56 auf Tiegelstahl. Die Produktion von fertigem Eisen und Stahl stellte sich 1902–04 wie folgt (in 1000 Tonnen):

Tabelle

[301] Für die Statistik der russischen Eisenindustrie vgl. die periodischen Veröffentlichungen des Kontors der russischen Eisenindustriellen (halbjährlich, russisch) und des Finanzministeriums (monatlich, russisch und französisch), beide in St. Petersburg erscheinend. Außer Eisenerzen werden in Rußland noch Manganerze (1902: 537,166 T.), hauptsächlich im Gouvernement Kutais in Transkaukasien und in Jekaterinoslaw, Chromeisenstein (1902: 19,532 T.) im Ural, Schwefelkies (1902: 26,486 T.) im Ural, in Rjasan und Tula und in ganz geringer Menge auch Kobalterze gewonnen. An mineralischen Brennstoffen hat Rußland Anthrazit (im Donezgebiet), Steinkohle und in geringerer Menge auch Braunkohle. Die wirtschaftsgeographische Verteilung des Kohlenbergbaues ist ähnlich wie diejenige der Eisenindustrie, nur daß hier Südrußland noch mehr im Vordergrund steht und der Ural erst an dritter Stelle kommt. Die Produktion an Kohle betrug in 1000 Tonnen:

Tabelle

Von der Förderung des letzten Jahres entfielen auf Anthrazit 1,517,000 T. und auf Braunkohle (in Polen) nur 86,920 T., der Rest auf Steinkohle. An Koks wurden 1,856,480 T. erzeugt. Von hervorragender Wichtigkeit für Rußland ist die Naphthagewinnung, die bisher fast gänzlich auf der Halbinsel Apscheron (Baku) am Kaspischen Meer konzentriert ist. An Rohnaphtha wurden hier in Millionen Tonnen gewonnen: 1901: 11,01,1902: 10,44,1903: 9,78 und 1904: 10,08. Sonst haben nur die Fundstätten bei Grosny im Terekgebiet (1904 Produktion 656,000 T.), bei Berekei nördlich von Derbent, auf den Kaspiinseln Swjatoi und Tscheleken sowie bei Tschimion im Ferghanagebiet einige praktische Bedeutung, obwohl das Vorhandensein von Naphtha noch an vielen Stellen, insbes. an der Ostküste des Asowschen Meeres, bei Kertsch sowie an der Petschora nachgewiesen ist. Die auf der Apscheronhalbinsel gewonnene Naphtha wird zum weitaus größten Teil an Ort und Stelle verarbeitet und liefert Petroleum und andre Destillate, Schmieröle und die als Heizstoff eines großen Teiles der russischen Industrie und der Wolgaflotte sehr wichtigen Rückstände, den sogen. Masut. 1904 betrug die Abfuhr aus Baku 2,517,400 T. Petroleum (wovon 1,397,280 T. ins Ausland), 4,962,640 T. Rückstände, 250,920 T. Schmieröle und 332,920 T. Rohnaphtha. Vgl. A. B. Thompson, The eil fields of Russia (Lond. 1904). Einen wichtigen Industriezweig bildet noch die Gewinnung von Salz. Es findet sich sowohl als Steinsalz, namentlich bei Bachmut im Gouvernement Jekaterinoslaw, in Orenburg und im Kaukasus, wie auch als Sediment in Salzseen, die besonders zahlreich in den Gouvernements Astrachan und Taurien zu finden sind, und in Solquellen, aus denen es durch Verdunstung der Lauge gewonnen wird. 1902 waren in ganz Rußland 16 Steinsalzbergwerke und 48 Gradierwerke im Betrieb, während die Zahl der ausgebeuteten Salzseen 407 betrug. Die gesamte Produktion betrug 1900: 1,976,364 T., 1901: 1,738,236 T., 1902: 1,849,592 T. Von letzterm Betrag stammten 493,640 T. aus Bergwerken und 982,360 T. aus Salzseen. An Glaubersalz wurden außerdem in Tiflis, in Tomsk und Transbaikalien 4,43 Mill. kg gewonnen. Von sonstigen Mineralien sind noch zu erwähnen: Schwefel, der in Kjelzy und in geringer Menge im Kaukasus gewonnen wird (1902 im ganzen 1,8 Mill. kg), Asbest, von dem der Ural 1902: 4,5 Mill. kg lieferte, Asphalt und Erdwachs, die sich im Kaukasus, in Turkistan und Sibirien finden, Phosphorite, die in den Gouvernements Podolien, Bessarabien, Kursk und Kostroma 1902 in einer Menge von 13,7 Mill. kg gefördert worden, und Kaolin, der insbes. in Südwestrußland vorkommt. Der Ural und das Altaigebirge sind endlich sehr reich an edlen und halbedlen Steinen. Im Ural sind namentlich die Smaragdminen nordöstlich von Jekaterinburg zu nennen; ferner findet man Topase, Berylle, Hyazinthe, durchsichtigen Korund, Amethyste, Bergkristalle, Schörle, gelegentlich auch Rubine und Saphire. An halbedlen Steinen liefert der Ural namentlich Malachit, Lasurstein, Serpentin; das Altaigebirge Jaspis und Porphyr in den verschiedensten Farben; das Gouvernement Irkutsk Nephrit. Weißer Marmor findet sich im Ural und bei Nertschinsk, bunter außerdem noch in großer Menge in Finnland, in Olonez, in Polen, in der Krim und im Kaukasus. Die Gesamtzahl der im Bergbau beschäftigten Arbeiter wurde für 1901 auf 494,591 angegeben. Von Mineralquellen sind zu nennen: die kaukasische Gruppe bei Pjatigorsk im Stawropolschen Gouvernement, Lipezk im Gouv. Tambow, die Troizkischen Quellen im Gouv. Orenburg, die Schwefelquellen zu Kemmern in Livland und zu Baldohn in Kurland, die von Sergiewsk im Gouv. Samara, die Solquellen zu Druskeniki im Gouv. Grodno, zu Ziechozinsk und Bussk in Polen, zu Staraja-Russa im Gouv. Nowgorod und die zu Slawjansk im Gouv. Charkow. Vgl. A. v. Köppen, Der Bergbau in Rußland (Petersb. 1893, russ., engl. u. franz.); Iwanow und Sapelkin, Die Montanindustrie Rußlands (russ., das. 1903), mit Karten der geographischen Verteilung der Montanbetriebe im europäischen und asiatischen Rußland; Loranski, Sammlung statistischer Daten über die Montanindustrie Rußlands in 1903 (russ., das. 1906).

Industrie.

Eine 1900 vom Finanzministerium angestellte Erhebung liefert von dem Stande der Großindustrie im Russischen Reich, außer Finnland, folgendes Bild:

Tabelle

[302] Hierzu treten die in der Tabelle nicht berücksichtigten akzisepflichtigen Industrien (Branntwein, Hefe, Bier, Zucker, Tabak, Naphthaöle, Zündhölzchen), über die in den Jahresberichten der Akziseverwaltung neueres, aber nach andern Gesichtspunkten geordnetes Material vorliegt. Danach gab es 1902 im europäischen Rußland mit Polen 2203 Branntweinbrennereien, die 9,155,136 hl Rohspiritus zu 40 Grad erzeugten. Es waren das zum überwiegenden Teil landwirtschaftliche Brennereien, die sich in fast allen Gouvernements, besonders zahlreich aber in Esthland (178 Brennereien), Minsk (176), Mohilew (113) und Wolynien (107) finden. Zur Herstellung dieses Quantums Rohspiritus dienten 5,1 Mill. dz Getreide (Roggen, Mais und Malz), 18,03 Mill. dz Kartoffeln und 0,5 Mill. dz Melasse. Ferner gab es 85 Frucht- und Traubenbranntweinbrennereien, die 21,508 hl, und 42 Hefefabriken, die 319,964 hl 40grädigen Rohspiritus herstellten. Die Erzeugung von Preßhefe betrug 10,7 Mill. kg. Die Herstellung von Trinkbranntwein ist seit der in den Jahren 1895–1904 in ganz Rußland erfolgten Einführung des Monopols ausschließlich Sache des Fiskus, der 1902: 7,614,930 hl Branntwein für einen Preis von 475,4 Mill. Rubel absetzte. Der tatsächliche Verbrauch wird im Durchschnitt der Jahre 1899–1901 auf 7,754,781 hl, für 1902 auf 7,597,095 hl oder auf 6,69, bez. 6,52 Lit. auf den Kopf der Bevölkerung angegeben. Die Zahl der Bierbrauereien betrug 1902: 788 mit einer Erzeugung von 5,435,370 hl. An Zuckerfabriken gab es in der Kampagne 1903/04: 275, die 10,47 Mill. dz Sandzucker produzierten; sie befinden sich ausschließlich in Polen und im Südwestgebiet. Die Zahl der Tabakfabriken war 225 und das Gewicht der von ihnen hergestellten Tabakfabrikate 66,4 Mill. kg. An Zündhölzchenfabriken gab es 121, die 224,919 Mill. Stück herstellten, und an Naphtharaffinerien, die akzisebelegte Öle erzeugten, 80 mit einer Produktion von annähernd 12,5 Mill. dz Öle. Unter den nicht akzisepflichtigen Industriezweigen ist die Textilindustrie und innerhalb dieser die Baumwollindustrie nach der Arbeiterzahl und der Produktionsgröße der weitaus bedeutendste. Ihre wichtigsten Standorte sind der Moskauer Industriebezirk, der auch der Entwickelung dieser Industrie seine Bezeichnung verdankt, und das Gouv. Petrokow (Lodz). Auf den erstern entfielen 429, auf letzteres 138 von sämtlichen Baumwollmanufakturen. Die Zahl der Spindeln betrug 6,554,597, die der Selfaktorstühle 154,577. An Rohbaumwolle wurden 1900 im ganzen 2,609,920 dz versponnen; davon waren 1,707,240 dz ausländisches Erzeugnis, während 902,680 dz aus Russisch-Zentralasien und dem Kaukasus stammten. In bezug auf die Anzahl und die Verbreitung der Betriebe wird die Baumwollindustrie freilich von gewissen Industriezweigen, namentlich solchen, welche die Verarbeitung von tierischen, pflanzlichen und andern Rohstoffen bezwecken, übertroffen. Zu erwähnen sind davon namentlich die Getreidemüllerei, die einschließlich der Graupenfabrikation 1465 Betriebe beschäftigte, die Ziegelbrennerei (641 Betriebe), die Sägemüllerei (956 Betriebe) und die Ölschlägerei (294 Betriebe). Die industriereichsten Gouvernements waren 1896 und sind wohl auch noch Moskau (Produktionswert 403,2 Mill. Rubel), St. Petersburg (316,7), Wladimir (217,6), Petrokow (215,9). Am schwächsten war die Industrie entwickelt in Wologda, Olonez, Pskow. Da die Zahl der Arbeiterin den akzisepflichtigen Industrien auf 242,643 angegeben wird, so berechnet sich die Gesamtzahl der industriellen Arbeiter auf 1,585,922. Sozial und wirtschaftlich gehören zu ihnen aber auch die in Bergbau und Hüttenbetrieb beschäftigten Arbeiter (494,591) sowie die Arbeiter der Eisenbahnen und in den zahlreichen staatlichen Betrieben (Kanonen- und Waffenfabriken, Werften, Branntweinmonopol betrieb u.a.), deren Zahl nicht genau bekannt ist, so daß die industrielle Arbeiterbevölkerung im weitesten Sinn auf weit über 2 Mill. Köpfe geschätzt werden muß. Die Arbeiterschutzgesetzgebung ist in Rußland noch wenig ausgebildet. Erst seit 1886 besteht eine eigentliche Fabrikinspektion, die 1899 durch Errichtung einer Oberbehörde in Fabrik- und Bergwerkssachen vervollkommt wurde. Ebenfalls 1886 erschien ein Gesetz (vom 3 [15.] Juni), das die Annahme von Arbeitern und ihre Beziehungen zu den Arbeitgebern regelt. Nachdem bereits durch die Gesetze von 1882, 1884 und 1886 die Arbeitszeit für Frauen und Minderjährige beschränkt worden war, wurden durch Gesetz vom 2. (14.) Juni 1897 allgemeine Bestimmungen über die Verteilung und die Dauer der Arbeitszeit erlassen. Ein Gesetz endlich vom 2. (15.) Juni 1903 macht die Arbeitgeber für Berufsunfälle der Arbeiter haftbar, wodurch wenigstens die Unfallversicherung der Arbeiter in privaten Aktien- und Gegenseitigkeitsgesellschaften gefördert worden ist. Die Straffälligkeit einfacher Arbeiterausftände ist erst Ende 1905 beseitigt worden. Von großer Bedeutung ist die Hausindustrie (Kustarnaja promyschlennostj). Sie liefert nach ungefährer Schätzung 7–8 Mill. Bauern einen Jahresverdienst von etwa 500 Mill. Rubel und ist natürlich dort am meisten verbreitet, wo der Boden den Bauern nicht mehr gestattet, vom Ertrag der Bodenbearbeitung allein zu leben. Besonders verbreitet ist die Hausindustrie in den Gouvernements Smolensk, Twer, Jaroslaw, Kostroma, Moskau, Wladimir, Nishnij Nowgorod, Kaluga, Tula, Rjasan und in den südlichen Teilen von Wologda, Wjatka und Perm. Die auf diese Weise betriebenen Gewerbzweige sind sehr verschieden: Leder-, Holz-, Metall-, Tonarbeiten, Pelze, Stiefel, Hüte, Häute, leinene, baumwollene, seidene Zeuge und Fabrikate, Jagdgeräte, Musikinstrumente etc. Über die Ausdehnung des Handwerks besitzen wir nur unvollständiges Material. Beispiele des russischen Kunstgewerbes s. auf Tafel »Russische Kultur und Kunst I und II« (bei S. 279). Vgl. Matthäi, Die Industrie Rußlands (Leipz. 1872–73, 2 Bde.); W. Kowalewski, Die produktiven Kräfte Rußlands (amtlich, russ., St. Petersb. 1896) und La Russie à la fin du XIX. siècle (amtlich, das. 1900); Brandt, Das ausländische Kapital in Rußland (russ., das. 1899–1901, 3 Bde., berücksichtigt insbes. Eisenindustrie, Textilindustrie und Naphthagewinnung); Tugan-Baranowski, Geschichte der russischen Fabrik (Berl. 1900); Norow, Das staatliche Branntweinmonopol im Lichte der Statistik (russ., St. Petersb. 1904 bis 1905, 2 Bde.); Ponomarew, Übersicht der russischen Hausindustrien (russ., amtlich, das. 1902); Fürst Golizyn, Die Hausindustrie in Rußland (russ., das. 1904); G. Cleinow, Die Hausindustrie im Gouvernement Tula (Leipz. 1904).

Handel und Verkehr.

Die russische Handelspolitik läßt sich als ein extremes Merkantil- und Schutzzollsystem charakterisieren (Erzielung einer möglichst günstigen Handelsbilanz, systematische Förderung der heimischen Großindustrie). Daher die Begünstigung aller Zweige des Außenhandels unter gleichzeitiger möglichster Einschränkung[303] der Einfuhr, außer in solchen Waren, die der heimischen Industrie dienen oder günstige Objekte indirekter Besteuerung bilden (Tee). Diesem Zweck dient in erster Reihe der Schutzzolltarif von 1903, der mit 1. März (neuen Stils) 1906 in Kraft getreten ist. Unter den Handelsverträgen ist der wichtigste derjenige mit Deutschland vom 29. Jan. (10. Febr.) 1894 mit dem Zusatzvertrag vom 15. (28.) Juli 1904, der ebenfalls 1. März 1906 in Kraft trat und bis 1917 in Geltung bleibt. Andre wichtige Handelsverträge sind diejenigen mit Frankreich vom 16. (29.) Sept. 1905 und mit Österreich-Ungarn vom 2. (15.) Febr. 1906. Mit zahlreichen andern Staaten hat Rußland einfache Meistbegünstigungsverträge abgeschlossen.

Für die Angelegenheiten des Handels besteht erst seit Oktober 1905 ein eignes Ministerium (für Handel und Industrie), während sie bis dahin vom Finanzministerium und der Hauptverwaltung für Handelsschiffahrt und Häfen, die jetzt aufgelöst ist, verwaltet wurden. Handelskammern sind unbekannt. Ihre Funktionen üben zum Teil die Börsenkomitees aus (an Börsen gab es 1903: 35), die seit 1905 zu periodischen Kongressen zusammentreten, um die gemeinsamen Interessen des Handels zu beraten.

Bestand der russischen Handelsflotte 1903:

Tabelle

Die Schiffsbemannung umfaßte 27,942 Personen. Der Schiffbau beschränkt sich, mit Ausnahme der großen staatlichen Werften, die Kriegsschiffe bauen, auf die Herstellung kleiner Fahrzeuge und von Flußschiffen. 1900 gab es 32 private Werften mit einem Produktionswert von nur 6 Mill. Rubel.

Der Außenhandel des gesamten Russischen Reiches betrug in den drei Jahren 1902–04 in Millionen Rubel (Edelmetalle ausgeschlossen):

Tabelle

1905 betrug die Ausfuhr über die europäische und kaukasische Schwarzmeergrenze sowie im Handel mit Finnland 1018,2, die Einfuhr 553,5 Mill. Rubel. Von ersterer entfielen 685,2 Mill. Rubel auf Lebensmittel, 292,4 Mill. Rubel auf Rohstoffe und sogen. Halbfabrikate, 15,8 Mill. Rubel auf Tiere und nur 24,8 Mill. Rubel auf Industrieprodukte. Den weitaus überwiegenden Teil der Ausfuhrwaren liefern somit Ackerbau, Viehzucht, Forstwirtschaft und Bergbau. In der Gruppe der Nahrungsmittel steht das Getreide an erster Stelle. Die Ausfuhr betrug:

Tabelle

An dem Ausfuhrwert des Jahres 1904 waren beteiligt: Weizen mit 258,3 Mill., Gerste mit 86,1, Roggen mit 42,1, Hafer mit 36,7, Kleie mit 19,5, Mais mit 16,7 Mill. Von sonstigen Nahrungsmitteln verdienen besondere Erwähnung: Eier (1904: 54,3 Mill. Rubel), Kuhbutter (29,6), Zucker (12,8 Mill., außerdem über die asiatische Grenze 11,3 Mill. Rubel), Kaviar (2,3), geräucherte und gesalzene Fische (2,7), Spiritus (2,6). Unter den Rohstoffen stehen die Produkte der Forstwirtschaft obenan, deren Ausfuhr 1894: 72,3 Mill. Rubel wertete. Es folgen: Petroleum und Naphthaprodukte (58,2), Flachs und Flachsheede (60,7), Ölkuchen (20,3), Ölsamen, namentlich Leinsaat (14,9), Hanf (9,4), Wolle (6,4), Häute (15,1), Felle (10,9), Borsten (5,1), Manganerze (6,2), Platin (2,2). Unter den von Rußland ausgeführten Industrieerzeugnissen liefern nur Gummischuhe (3,5 Mill. Rubel) und Baumwollengewebe (2,4 Mill. und außerdem über die asiatische Grenze 18,8 Mill. Rubel) etwas größere Werte. In der Einfuhr entfielen 1904: 92,6 Mill. Rubel auf Lebensmittel, 332,8 Mill. Rubel auf Roh- und Hilfsstoffe der Industrie, 1,5 Mill. Rubel auf Tiere und 156,7 Mill. Rubel auf Fabrikate. Unter den Lebensmitteln stehen Tee (32,8 Mill. Rubel), Heringe (15,9), Weine und Spirituosen (11,4), Südfrüchte und Gemüse (9,7), Kaffee (5,1), Gewürze (2,8) an erster Stelle. Von den Rohstoffen und Halbfabrikaten sind hervorzuheben: Baumwolle (109,6), Wolle (15,1), Rohseide (11,9), Jute (4,8), unverarbeitete Metalle (32,1), darunter Kupfer für 11,3 Mill., Steinkohlen und Koks (24,3), Kautschuk und Guttapercha (21,7), Chemikalien (13), Farben (10,8), von den fertigen Fabrikaten: Maschinen (55,3), Metallwaren (8,3), Papier (13,1), Wollwaren (6,5), Seidenwaren (3,1) u.a. Der Handelsverkehr mit den hauptsächlichsten Ländern ergibt sich aus folgen der Tabelle (in Millionen Rubel):

Tabelle

Von dem Gesamtumsatz des Außenhandels entfallen etwa 2/3 auf den Seeweg (nämlich 33,5 Proz. auf die Ostsee, 27,8 Proz. auf das Schwarze und Asowsche Meer und 1,2 Proz. auf das Weiße Meer) und nur 1/3 auf den Landweg. Über den Schiffahrtsverkehr in den russischen Seehäfen gibt die folgende Tabelle für das Jahr 1903 Aufschluß.

Tabelle

[304] Von den 11,607 im ausländischen Verkehr eingelaufenen Schiffen führten 9935 oder ca. 85 Proz. fremdländische Flaggen. Den Hauptanteil daran hat die großbritannische mit 2996 Schiffen; es folgt die deutsche (1866), die dänische (1277), die türkische (733), die schwedische (704), die griechische (654) und die norwegische Flagge (538). Die Kabotageschiffahrt ist durch Gesetz der russischen Flagge vorbehalten. Die Zahl der Seehäfen an den äußern Meeren beträgt 74, davon 12 am Weißen und Eismeer, 20 an der Ostsee (außer den finnländischen), 42 am Schwarzen und Asowschen Meer. Im Schiffsverkehr mit dem Auslande steht St. Petersburg an erster Stelle; es folgen Riga, Libau, Odessa, Batum, Taganrog, Reval, Nikolajew. Die bedeutendsten russischen Schifffahrtsgesellschaften sind: die Russische Gesellschaft für Dampfschiffahrt und Handel in Odessa (seit 1856), die außer dem Verkehr mit den russischen Schwarzmeerhäfen Linien nach Alexandria und den Häfen der Levante sowie seit 1901 nach dem Persischen Meerbusen unterhält, die freiwillige Flotte, die Russisch-Ostasiatische und die Nordische Dampfschiffahrtsgesellschaft, die den Verkehr mit dem fernen Osten pflegen, die Russisch-Baltische und die Rigaer Schnelldampfergesellschaft in Riga, die vorzugsweise dem Güterverkehr mit England dienen.

Der Binnenhandel ist in Rußland wegen des großen, nach Klima und Bodenproduktion so verschiedenen Territoriums und der ungleichmäßigen Verteilung der Bodenschätze von besonderer Bedeutung. Er bewegt alljährlich enorme Gütermengen, die sich freilich statistisch nicht voll erfassen lassen. Einen Anhaltspunkt können jedoch die Zahlen über die Schifffahrt und den Warenverkehr auf den Flüssen und Kanälen geben. Die Gesamtlänge der flöß- und schiffbaren Wasserwege (vgl. S. 290 f.) beträgt 85,214 km, wovon 39,616 km schiffbar; hiervon sind 26,315 km für regelmäßige Dampfschiffahrt zugänglich. Die Gesamtzahl der auf diesen Wasserstraßen verkehrenden Schiffe war 1900: 26,154, und zwar 3295 Dampfer und 22,859 andre Fahrzeuge, mit einer Gesamtladefähigkeit von 11,322,560 Ton. und einer Besatzung von 40,602 Mann. Die Menge der verfrachteten Waren belief sich 1902 auf 32,8 Mill. Ton. im Werte von 650,2 Mill. Rubel, und es partizipierten daran hauptsächlich Bau- und Brennholz, Naphtharückstände (sogen. Masut, zum Heizen), Getreide, Salz, Fische und Metalle. Einen weitern Anhaltspunkt für die Beurteilung des Umfanges des Binnenhandels liefern die Jahrmärkte und Messen, deren man im europäischen Rußland 14,048 und in Polen 1877 zählt. Davon ist die große Mehrzahl allerdings nur von lokaler Bedeutung und geringem Umfang, doch wird der Gesamtwert der umgesetzten Waren trotz zweifellosem Rückgang der Messen in letzter Zeit immer noch auf 350–400 Mill. Rubel veranschlagt. Die wichtigsten Messen sind diejenige von Nishnij Nowgorod (s. d.) und Irbit (s. d.) im Gouvernement Perm.

Das gesamte russische Eisenbahnnetz hatte 1. Jan. 1905 eine Länge von 63,677 km. Die ostchinesische oder mandschurische Bahn mit 2503 km Länge (vor dem Krieg) ist als außerterritorial hierin nicht berücksichtigt. Auf Finnland entfielen 3304 km, auf Russisch-Asien 8394 km, die sämtlich dem Staat gehören. Von dem eigentlich russischen Eisenbahnnetz von 51,979 km waren 31,615 km Staatsbahnen, 18,166 km Privatbahnen, die im wesentlichen sieben großen Aktiengesellschaften gehören. Die restlichen 2198 km sind Zufuhrbahnen, die durchweg auch im Privatbesitz sind. 11,056 km hatten doppeltes Gleis. Außerdem waren 1. Jan. 1905: 5967 km im Ban. Die Bruttoeinnahmen beliefen sich 1902 auf 637,1 Mill. Rubel, der Reinertrag auf 190,2 Mill. Rubel oder auf 10,338, bez. 3087 Rubel auf 1 km. Es wurden im ganzen 127,4 Mill. Personen und 164,8 Mill. Ton. Güter befördert. Als zentraler Knotenpunkt des ganzen russischen Eisenbahnnetzes kann Moskau betrachtet werden, von wo neun bedeutende Linien nach allen Richtungen führen: 1) nach St. Petersburg, das mit dem finnländischen, baltischen und polnischen Eisenbahnnetz in Verbindung steht; 2) nach Windau, bez. Riga und Libau; 3) nach Brest-Litowsk und damit nach Polen; 4) nach Kiew über Kaluga und Brjansk; 5) über Orel und Kursk nach Charkow und Sebastopol; 6) über Kaschira nach Tambow und Saratow; 7) nach Rjasan und von da einerseits nach Kasan, anderseits über Rjashsk, Koslow, Woronesh nach Rostow a. D., dem Kaukasus und Baku sowie auch von Rjashsk aus über Samara und Ufa nach Sibirien, bez. Orenburg-Taschkent; 8) nach Nishnij Nowgorod; 9) nach Jaroslaw, Kostroma und Archangel. Von besonderer Wichtigkeit sind ferner die großen, von O. nach W. führenden Transversallinien, wie insbes. Wjatka-Wologda-St. Petersburg, Saratow-Tambow-Smolensk-Riga und Zarizyn-Orel-Smolensk-Riga, Romny-Libau u.a. Die Zahl aller Postanstalten betrug 1903: 11,740, die Zahl der Post- und Telegraphenbeamten 44,168. Die Länge der Poststraßen war 282,101 km, die Zahl der beförderten Postsachen: 1139,6 Mill. An Telegraphenlinien gab es 179,673 km mit 574,471 km Leitung. Es wurden 20,9 Mill. Telegramme, darunter 3,1 Mill. ausländische, befördert. Das Telephonnetz hatte 1902 eine Länge von 6112 km; die Zahl der Fernsprechstellen betrug 45,568. Die Roheinnahmen der Post- und Telegraphenverwaltung betrugen 1903: 58,3 Mill. Rubel, davon 36,1 Mill. aus dem Post-, 19,5 Mill. aus dem Telegraphen- und 2,1 Mill. aus dem Fernsprechverkehr. Die Reineinnahme stellte sich auf 19,2 Mill. Rubel.

Im Münzwesen wurde durch das Gesetz vom 7. (19.) Juni 1899 die Goldwährung eingeführt, nachdem 1893 die Einfuhr fremder Silbermünzen und die Prägung von Silber für Privatrechnung verboten waren, der Kreditrubel auch den Silberrubel bis auf 25 Mill. vertrieben hatte. Die Reichsmünzeinheit ist der Rubel (zu 100 Kopeken), der 0,774233 g Feingold = 2,1601 Mk. enthält. Es werden goldene, silberne und kupferne Münzen geprägt. Die Goldmünzen haben 9/10 Feingehalt und werden in Stücken zu 15 (Imperial), 71/2 (wie jenes neuerdings nicht mehr), 10 (s. Tafel »Münzen V«, Fig. 11) und 5 Rubel, für den Kaiser auch in ganz geringer Menge zu 371/2 Rubel = 100 Frank ausgeprägt. An Silbermünzen werden geprägt Stücke zu 1 (s. Tafel »Münzen VI«, Fig. 3), 1/2 und 1/4 Rubel mit einem Feingehalt von 9: 10 und Stücke zu 20,15,10 und 5 Kopeken mit halbem Metallwert gegen den Nennwert und einem Feingehalt von 5: 10. Das silberne Einrubelstück wiegt 19,995723 g; das Wertverhältnis der vollwichtigen Silbermünzen stellt sich mithin auf 1: 23,25. Die Ausprägung von Silbermünzen erfolgt ausschließlich von Staats wegen; der Gesamtumlauf an solchen soll das Dreifache der Bevölkerungszahl nicht übersteigen. Im Privatverkehr brauchen vollwichtige Silbermünzen nur bis zum Betrage von 25 Rubel, von silberner und kupferner Scheidemünze bis 3 Rubel angenommen zu werden. In Kupfer hat man[305] Stücke zu 3, 2, 1, 1/2 und 1/4 Kopeken. Im Umlauf befinden sich vorzugsweise die vom Reiche verbürgten Noten der kaiserlichen Bank. Maße sind: der Fut von 12 Djoim = 30,48 cm, 1 Ssashén (Faden) von 7 Fut = 3 Arschin zu 16 Werschok = 213,36 cm, 1 Werft von 500 Faden = 1067 m; die Deßjätine von 2400 QFaden = 109,252 Ar, die OWerst = 113,804 Hektar; Längenmaßeinheit ist ein Arschin = 71,12 cm; das Tschetwert für Getreide (das im Binnenhandel aber nach Gewicht verkauft wird) = 8 Tschetwerik zu 8 Garnez = 209,907 Liter, die Last = 16 Tschétwert; die Botschka (Faß) = 40 Wedro (Eimer) von 10 Kruschka zu 10 Tscharka = 491,97 Liter, die Pipe = 12 Anker zu 30 Kruschka. Einheit der Hohlmaße ist der Eimer (Wedro) = 30 Funt destilliertes Wasser von 16,66°. Die Last, Gewicht von 2 Tonnen zu 12 Berkowetz (Schiffspfund), hält 240 Pud von 40 Funt = 3931,31 kg, das Funt von 96 Solotnik zu 96 Doli = 409,5115 g ist die Gewichtseinheit. Das metrische System darf gleichberechtigt mit dem russischen System benutzt werden.

An der Spitze des Bankwesens in Rußland steht die Reichsbank in St. Petersburg, eine Staatsanstalt, mit einem Kapital von 50 Mill. Rubel, 9 Kontoren und 106 Abteilungen. Sie hat das alleinige Privilegium der Notenausgabe, und ihre Noten genießen Zwangskurs. Dem kommerziellen Kredit dienen ferner (1904) 40 Aktienbanken mit einem Aktienkapital von 199,5 Mill. Rubel und Reserven von 77,1 Mill. Rubel, 255 Kommunalbanken mit einem Stammkapital von 35,2 und einem Reservekapital von 8,7 Mill. Rubel, endlich 192 gegenseitige Kreditgesellschaften mit 35,7 Mill. Rubel Kapital und 13,6 Mill. Rubel Reserven. Den hypothekarischen Kredit pflegen die Reichsadelsagrarbank und die Bauernbank, beides staatliche Anstalten, 10 Aktienagrarbanken, 7 ständische und landschaftliche Hypothekenbanken und 27 städtische Kreditgesellschaften. Die Summe der von allen diesen Anstalten erteilten Darlehen betrug 1. Jan. 1903: 3169 Mill. Rubel, davon 1854,8 Mill. auf ländliche, 1314,2 Mill. auf städtische Immobilien. An Kleinkreditanstalten unterscheidet man Spar- und Darlehnsgenossenschaften, Kreditgenossenschaften sowie Dorfbanken. Die Zahl der erstern betrug 1903: 698 mit 10,2 Mill. Rubel Stammkapital und 22 Mill. Rubel Einlagen, die Zahl der Kreditgenossenschaften 176 mit 380,512 Rubel Kapital und 929,969 Rubel Einlagen. Über die Dorfbanken fehlt eine Statistik. Polen hat in den Gemeindekassen eine besondere Organisation für den Kleinkredit. An staatlichen Sparkassen gab es 1. Jan. 1905: 6562, darunter 4264 Postsparkassen; außerdem 2852 Schulsparkassen. Die Zahl der Einleger betrug 5,113,237 und die der Bareinlagen, einschließlich der gutgeschriebenen Zinsen, 909,6 Mill. Rubel, wozu noch 194,8 Mill. Rubel Einlagen in Wertpapieren kommen. An Versicherungs-Aktiengesellschaften gab es 1904: 18 mit einem Stammkapital von 62,1 Mill. Rubel und Reserven von 12,9 Mill. Rubel. Die Zahl der industriellen und kommerziellen Aktiengesellschaften wird für Ende 1902 auf 1516 angegeben. Sie hatten ein Aktienkapital von 1990,3 Mill. Rubel und verteilten für 1902 an Dividenden 86,1 Mill. Rubel. Für die Statistik des Außenhandels vgl. die Veröffentlichungen des russischen Zolldepartements: über den Gesamthandel, jährlich ein Band (zuletzt 1904), über den europäischen Handel, monatlich ein Heft (beides russ., Petersb.), ferner die von derselben Stelle herausgegebene »Sammlung von Materialien zur Geschichte und Statistik des russischen Außenhandels« (Bd. 1, das. 1902, russ.); W. Kowalowsky, Rußlands Industrie und Handel (Leipz. 1901); Wittschewsky, Rußlands Handels-, Industrie- und Zollpolitik (Berl. 1905); Zweig, Die russische Handelspolitik seit 1877 (Leipz. 1906); »Rußlands Handelsflotte« (amtlich; erscheint jährlich, russ.); Kulomsin, Unsre Eisenbahnpolitik (russ., Petersb. 1902–03, 4 Bde., amtlich nach den Materialien des Ministerkomitees).

Staatsverfassung und -Verwaltung.

Bis zum Erlaß des Manifestes vom 17. (30.) Okt. 1905 war der Kaiser (Zar) unumschränkter Selbstherrscher, der die höchste, gesetzgebende, ausübende und oberrichterliche Gewalt in sich vereinigte. Verpflichtet war er nur, sich nach den Reichsgrundgesetzen zu richten. Dazu gehören die Bestimmungen, daß das Reich unteilbar ist, daß der Kaiser der griechisch-orthodoxen Kirche angehören muß und keine Krone tragen darf, die ihn außerhalb des Reiches zu residieren zwingt; ferner das vom Kaiser Paul 5. (16.) April 1797 erlassene Thronfolgegesetz, wonach der Thron stets nach dem Rechte der Erstgeburt, jedoch unter Bevorzugung der männlichen vor der weiblichen Linie, vererbt wird.

Das Manifest vom 17. (30.) Okt. 1905 stellt als Grundsatz auf, daß kein Gesetz ohne Zustimmung der Reichsduma erlassen werden darf, und nachdem diese Bestimmung durch das Gesetz vom 20. Febr. (5. März) 1906 auch auf den reformierten Reichsrat ausgedehnt worden ist, wird die höchste legislative Gewalt vom Kaiser gemeinsam mit dem Reichsrat und der Reichsduma ausgeübt. Der Reichsrat besteht nach dem Gesetz vom 20. Febr. aus 196 Mitgliedern, von denen die eine Hälfte vom Kaiser ernannt, die andre Hälfte gewählt wird, und zwar von der griechisch-orthodoxen Geistlichkeit, von den Gouvernements-Landschafts- (Semstwo-) versammlungen, bez. von besondern Wahlversammlungen in den Gouvernements, in denen die Semstwoverfassung nicht besteht, von den Adelskorporationen, der Akademie der Wissenschaften und den Universitäten, dem Konseil für Handel und Manufaktur und den Börsenkomitees. Die Wahl erfolgt auf 9 Jahre, doch scheidet alle 3 Jahre ein Drittel der gewählten Mitglieder aus. Der Präsident und der Vizepräsident werden alljährlich vom Kaiser aus der Zahl der ernannten Mitglieder bestimmt. Die Reichsduma (Gossudarstwennaja Dúma) besteht nach den Wahlgesetzen vom 6. (19.) Aug. und 11. (24.) Dez. 1905 aus Abgeordneten, die auf fünf Jahre nach einem sehr komplizierten Verfahren gewählt werden. In jedem Gouvernement (oder Gebiet) und außerdem in 26 namentlich aufgeführten Großstädten wird eine gesetzlich bestimmte Anzahl von Abgeordneten gewählt. Das europäische Rußland und Polen haben 448 Abgeordnete zu wählen, davon entfallen 31 auf die 26 Großstädte, die übrigen auf die Gouvernements. Gewählt werden die Abgeordneten von Wahlmännerversammlungen; in den 26 Großstädten bestehen diese aus je 80 (in Petersburg und Moskau aus je 160) Wahlmännern, während in den Gouvernements jeder Kreis eine besondere, im Gesetz bestimmte Anzahl von Wahlmännern zu entsenden hat. Die Wahlmänner ihrerseits werden von Urwählerversammlungen gewählt, die in den Kreisen aus den drei Kurien der Grundbesitzer, der städtischen Wähler und der Bevollmächtigten der Dorfgemeinden (Wolostj) bestehen. Die Bevollmächtigten der Bauern werden in der Gemeindeversammlung in der Anzahl von je zwei auf jede Wolost gewählt. Auf[306] die 26 Großstädte findet diese Dreiteilung in Kurien natürlich nicht Anwendung. Das aktive Wahlrecht in den Urwählerversammlungen ist an das männliche Geschlecht, ein Alter von 25 Jahren, Unbestraftheit und einen gewissen, allerdings mäßig bemessenen Vermögenszensus gebunden. Eine Ausnahmestellung ist den industriellen Arbeitern eingeräumt, die in Betrieben mit mindestens 50 Arbeitern ungestellt sind. Diese wählen besondere Delegierte, und zwar je einen von jeder Fabrik, bez. in größern Fabriken auf je 1000 Arbeiter, die ihrerseits eine im Gesetz bestimmte Anzahl von Wahlmännern zu den Wahlmännerversammlungen wählen. Die Reichsduma, die aus ihrer Mitte einen Präsidenten mit zwei Gehilfen wählt, hat alle Gesetz- und Etatsentwürfe sowie Vorschläge, betreffend die Ergänzung und Abänderung bestehender Gesetze, das Staatsbudget, außerbudgetäre Geldbewilligungen und den Bericht der Reichskontrolle über die Ausführung des Budgets zu prüfen und zu genehmigen. Sie hat, ebenso wie der Reichsrat, auch das Recht der legislativen Initiative, das sich jedoch nicht auf die Reichsgrundgesetze erstreckt. Ein von der Duma angenommener Gesetzentwurf geht an den Reichsrat und, wenn er auch von diesem angenommen wird, an den Kaiser. Falls dieser seine Billigung verweigert, kann der Entwurf in derselben Session nicht wieder eingebracht werden. Die Abgeordneten und die gewählten Mitglieder des Reichsrats genießen Diäten.

Für die Staatsverwaltung steht dem Kaiser, auf Grund des Gesetzes vom 18. Okt. (1. Nov.) 1905, der Ministerrat (Sowjet Ministrow) zur Seite mit einem Ministerpräsidenten an der Spitze. Zum Ministerrat gehören sämtliche Minister und die Chefs der Hauptverwaltungen. An Ministerien gibt es folgende: das Ministerium des kaiserlichen Hofes, dem die Verwaltung der Apanagen, das Reichsordenskapitel, die kaiserlichen Paläste und Theater, die Akademie der schönen Künste unterstellt sind, das Ministerium des Auswärtigen, des Krieges und der Marine, das Finanzministerium (Ressort: Staatskreditwesen, Steuern, Zölle, Münz- und Bankwesen), das erst 1905 errichtete Ministerium für Handel und Industrie (für Bergbau, Handelsschiffahrt und Häfen, Fabrik- und Arbeitergesetzgebung, Patentsachen), das Ministerium des Innern (für Polizei, Medizinalwesen, Zensur und Presse, Post und Telegraph, fremde Konfessionen, Landesstatistik), die Hauptverwaltung für Agrarorganisation und Landwirtschaft (1893–1905 Landwirtschaftsministerium), das Ministerium der Verkehrswege, das Justizministerium und das Ministerium der Volksaufklärung. Dazu treten die Reichskontrolle und die Hauptverwaltung des Reichsgestütswesens. Von dem Ministerrat unabhängig sind der heilige Synod, die Oberbehörde in kirchlichen Dingen der griechisch-orthodoxen Konfession (s. oben Religionsbekenntnisse), und der dirigierende Senat, der die Ausführung der Gesetze überwacht, die Gesetze verkündigt und interpretiert und als Kassationshof fungiert. Für die Verwaltung Finnlands besteht ein besonderes, ebenfalls unabhängiges Staatssekretariat; im übrigen hat Finnland, das weder im Reichsrat noch in der Reichsduma vertreten ist, seit dem Manifest vom 4. Nov. 1905 wieder seine eigne selbständige Verwaltung, die von einem Generalgouverneur als Stellvertreter des Kaisers und dem Senat ausgeübt wird (Näheres s. Finnland, S. 588).

Bezüglich der Provinzialverwaltung zerfällt das russische Reich in 78 Gouvernements, 18 Gebiete und einen Bezirk. Hiervon gehören 11 Gouvernements, 17 Gebiete und der eine Bezirk zum asiatischen Rußland; Finnland bilden 8, Polen 10 Gouvernements, so daß auf das europäische Rußland (mit Polen) 59 Gouvernements und ein Gebiet (das Donische) entfallen. Mit Ausnahme des letztern, das dem Kriegsministerium unterstellt ist und eine besondere Verwaltung hat, steht an der Spitze jedes Gouvernements ein Gouverneur und ihm zur Seite ein Vizegouverneur, der zugleich Vorsitzender der Gouvernementsbehörde ist. Das Amt eines Generalgouverneurs, dem in der Regel mehrere Gouvernements unterstellt sind, und der mit wesentlich größern Vollmachten als die Gouverneure ausgestattet, auch meist gleichzeitig Kommandeur des zugehörigen Militärbezirks ist, hat neuerdings wieder größere Verbreitung gefunden. Zurzeit (im März 1906) bestehen im europäischen Rußland, außer Finnland, die Generalgouvernements Warschau, Wilna, Kiew, Moskau und Riga. In den selbständigen Stadtbezirken Petersburg, Moskau, Odessa, Sebastopol, Kertsch-Jenikale, Nikolajew, Rostow a. D. übt der Stadthauptmann die Rechte des Gouverneurs aus. Durch das Gesetz vom 13. Jan. 1864 wurde in den 34 kernrussischen Gouvernements die Semstwoverwaltung eingeführt, eine ursprünglich liberal gedachte Selbstverwaltung. Durch die neue Semstwoordnung vom 24. Juni 1890 wurde ihr durch Bevorzugung des Adels und der Beamten ein mehr ständischer Charakter verliehen, der Wirkungskreis eingeschränkt und die Kontrolle seitens der Gouverneure erweitert. Die Kreisversammlungen setzen sich aus Vertretern des Adels, der Stadt- und Landgemeinden, die Gouvernementsversammlungen aus Abgeordneten der Kreistage zusammen. Die Wahlperiode ist dreijährig; das aktive und passive Wahlrecht sind an ein Lebensalter von mindestens 25 Jahren, ferner an ein bestimmtes Maß des Besitzes, für Kaufleute des Geschäftsumsatzes, gebunden. Die Vertreter der Landgemeinden werden als Kandidaten durch Wahlmänner gewählt, und aus der Zahl der Kandidaten werden die Abgeordneten vom Gouverneur bestätigt. Der Wirkungskreis der Semstwobehörden erstreckt sich im wesentlichen auf Wegebau, Medizinal- und Sanitätswesen, Elementarschulwesen und wirtschaftliche Maßnahmen zur Hebung des Ackerbaues und der Kleinindustrie. Vgl. v. Gernet, Die Grundzüge der russischen Landschaftsverfassung (Reval 1897). Die städtischen Behörden bestehen aus dem Stadtamt (Upráwa) unter einem Stadthaupt und der auf vier Jahre gewählten Stadtverordnetenversammlung (Dúma). An der Spitze der Dorfgemeinden steht ein Ältester (Stárosta), mehrere Gemeinden sind meist zu einem Bezirk (Wolostj) verbunden, und ihre Ältesten fungieren neben dem Bezirksältesten (Starschinà) als Bezirksverwaltung. Die Wahl der Ältesten erfolgt in der Dorfgemeindeversammlung, die des Bezirksältesten in der Bezirksversammlung, zu der die einzelnen Gemeinden Vertreter abordnen. Die bäuerliche Selbstverwaltung ist den durch die Krone ernannten adligen Beamten mit weitgehenden Verwaltungs- und richterlichen Befugnissen, den sogen. Landeshauptleuten (Semskije Natschalniki), unterstellt.

Rechtspflege.

Die Gerichtsverfassung beruht auf der Gerichtsordnung Alexanders II. vom 20. Nov. 1864 (Sudebnyje Ustawy), die ursprünglich auf Trennung der Justiz von der Verwaltung, Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Anklageverfahrens, Geschwornengerichten, [307] Gleichheit der Stände vor Gericht basiert war. Jedoch erlitt die neue Gerichtsordnung (namentlich unter Alexander III.) mannigfache Abänderungen, resp. Einschränkungen. Die Gerichtsinstanzen sind sowohl für Kriminal- als Zivilsachen: die Friedensrichter in den größten Städten, die Stadtrichter und die Landeshauptleute (auf dem Lande), mit Appellation an die betreffenden Versammlungen der einzelnen Richter; die Bezirksgerichte; der Gerichtshof als Appellationsinstanz für die Entscheidungen der Bezirksgerichte und der Senat als Kassationshof. Die Friedensrichter werden durch die Stadtverordnetenversammlung aus der Zahl der Qualifizierten gewählt. Die Stadtrichter sowie die Landeshauptleute, welch letztere die administrative Gewalt mit der gerichtlichen vereinigen (Gesetz vom 31. Juli 1889), werden vom Ministerium ernannt. Die andern Richter werden auf Vorschlag des Justizministers vom Kaiser ernannt, und zwar aus berufsmäßigen Juristen. Die Kodifikation der russischen Gesetze erfolgte erstmals in dem Swod Sakónow (»Zusammenstellung der Gesetze«), der 1833 herausgegeben wurde. Neue Ausgaben davon wurden 1842 und 1857 veranstaltet. Seitdem sind nur einzelne Teile, diese aber gelegentlich wiederholt neu herausgegeben worden. Am 22. März 1903 wurde ein neues Strafgesetz erlassen, das jedoch noch nicht in Geltung getreten ist, mit Ausnahme der auf die Staatsverbrechen bezüglichen Bestimmungen, die durch das Gesetz vom 7. Juni 1904 unter entsprechender Abänderung der einschlägigen Teile der Strafprozeßordnung in Kraft gesetzt wurden. Gerichts-, Straf- und Zivilprozeßordnungen sind 20. Nov. 1864 erlassen. Im Kriminalprozeß ist die Untersuchung von der Urteilsfällung getrennt. Die öffentliche Anklage erhebt der Prokureur, die Privatanklage der bevollmächtigte vereidigte Rechtsanwalt. Die Todesstrafe ist, abgesehen von dem Militärstrafverfahren, noch für Attentate auf den Kaiser beibehalten. Die körperlichen Strafen sind in ihrer Anwendbarkeit wesentlich eingeschränkt. Die Verbannung nach Sibirien kann auch im administrativen Wege verhängt werden. Diese Form wird in großem Maßstabe gegen die sogen. politisch Unzuverlässigen wie auch gegen Sektierer angewandt. Die Kriminalsachen werden in den Bezirksgerichten unter Zuziehung von Geschwornen abgeurteilt. Die Geschwornengerichte werden durch drei Richter des Bezirksgerichts und zwölf Geschworne gebildet. Diese entscheiden unter einem von ihnen selbst gewählten Obmann durch Stimmenmehrheit über Schuldig oder Nichtschuldig. Seit 1878 ist der Wirkungskreis der Geschwornengerichte und die Öffentlichkeit des Verfahrens immer mehr eingeschränkt worden, und ganze Kategorien von Verbrechen, insbes. solche gegen die Staatsordnung, werden vom Gerichtshof mit Zuziehung sogen. ständischer Vertreter abgeurteilt. Der Paßzwang besteht für Ausländer in Rußland noch im vollen Umfang. Auch russischen Untertanen wird zur Reise ins Ausland ein Paß auf bestimmte Zeitdauer ausgestellt, eine Verlängerung findet durch die heimatliche Paßbehörde statt. Für Reisen innerhalb Rußlands sind Legitimationen, die dem polizeilichen Visum unterliegen, unentbehrlich. Vgl. Engelmann, Staatsrecht des Kaisertums Rußland (in Marquardsens »Handbuch des öffentlichen Rechts«, Bd. 4, Freiburg 1889); M. v. Oettingen, Abriß des russischen Staatsrechts (Berl. 1899); Leuthold, Russische Rechtskunde (Leipz. 1888); »La Charte constitutionnelle de l'empire de Russie« (franz. u. russ., Berl. 1903).

Finanzen.

Das allgemeine Reichsbudget hatte in den beiden letzten Jahren folgendes Aussehen (in Rubel):

Tabelle

Bei Beurteilung dieser Zahlen ist zu berücksichtigen, daß in den Voranschlag für 1905 die Kriegskosten überhaupt nicht aufgenommen worden sind, da sie während des Krieges auch nicht annähernd abgeschätzt werden konnten. Nach den Ausweisen der Reichskontrolle betrugen die Kriegskosten 1904: 676,8,1905: 1137,3 Mill. Rubel, so daß der russisch-japanische Krieg einschließlich der später ausgeworfenen Summe gegen 2,5 Milliarden Rubel verschlungen hat. Ferner mußten in das Extraordinarium für 1905 noch 40 Mill. Rubel zur Unterstützung der von der Mißernte dieses Jahres betroffenen Bevölkerung und 5 Mill. Rubel zu Darlehen behufs Wiederherstellung der Bakuer Naphthawerke nach der Katastrophe vom September[308] 1905 eingestellt werden, so daß auch das Budget für 1905 mit einem enormen Minderbetrag der Einnahmen abschließt. Die indirekte Besteuerung trifft außer dem Branntwein die Artikel Bier, Met, Zucker, Tabak, Petroleum und Zündhölzchen in Form von Akzisen und den gesamten Verbrauch in Form von hohen Finanz- und Schutzzöllen. An direkten Steuern besteht eine Grundsteuer von ländlichen und städtischen Immobilien, eine Gewerbesteuer (seit 1898), eine Wohnungs-, eine Kapitalrenten- und eine Erbschaftssteuer. Die Staatsschuld betrug 1. Jan. 1906: 7841,2 Mill. Rubel; hiervon bildeten 4673,7 Mill. Rubel die Schuld für allgemeine Staatszwecke, 3167,5 Mill. Rubel die sogen. Eisenbahnschuld (für den Bau und den Ankauf von Eisenbahnen). 1906 sind für 893,75 Mill. Rubel neue Anleihen abgeschlossen worden, so daß sich die Staatsschuld zum 1. Jan. 1907 auf etwa 8,5 Milliarden Rubel beläuft. Neben dieser eigentlichen Staatsschuld lasten auf dem Fiskus noch indirekte Verpflichtungen für die vom Staat in bezug auf Zinsen und Amortisation garantierten Obligationen der privaten Eisenbahngesellschaften (Anfang 1904: 1110,5 Mill. Rubel) und für die Pfandbriefe der beiden staatlichen Agrarbanken (1. Jan. 1905: 1069,7 Mill. Rubel). Vgl. P. H. de Clercq, Les finances de l'empire de Russie (Petersb. 1886) und Bulletin russe de statistique financière et de législation (das. 1894–1901); Miqulin, Der russische Staatskredit (russ., Charkow 1899–1903, 3 Bde.); Saburow, Materialien zur Geschichte der russischen Finanzen (russ., Petersb. 1899); Kaschkarow, Rußlands Geldumlauf (russ., das. 1898) und Die finanziellen Ergebnisse des letzten Jahrzehnts (russ., das. 1903, 2 Bde.); Schwanebach, Unser Steuerwesen (russ., das. 1903); Frischmann, Die russischen Finanzen (Berl. 1906). Die wichtigste Veröffentlichung für das Studium der russischen Finanzen ist jedoch der Jahresbericht der Reichskontrolle über die Ausführung des Budgets (russ., jährlich ll Foliobände).

Heerwesen und Kriegsflotte s. die Textbeilage.

Wappen, Flagge, Orden.

Das kleine Reichswappen (s. Tafel »Wappen II«) zeigt einen von der russischen Kaiserkrone mit abflatternden lichtblauen Bändern überhöhten schwarzen, mit diamantenen Kaiserkronen gekrönten, rot gezungten und geaugten Doppeladler, der Zepter und Reichsapfel in den Fängen hält. Auf der Brust des Adlers ruht ein goldgeränderter roter Schild mit einem silbern gerüsteten Reiter (St. Georg) mit blauem Mantel auf silbernem Pferde mit goldverbrämter purpurner Decke. Die goldene Lanze des Reiters, oben mit einem griechischen Kreuze geschmückt, durchbohrt einen goldenen, grüngeflügelten Drachen. Um den Brustschild schlingt sich die Kette des Andreas ordens. Die Flügel des Adlers sind mit je vier Schilden belegt, rechts: Kasan, Polen, Taurischer Chersonesus und die vereinigten Wappen von Kiew, Wladimir und Nowgorod; links: Astrachan, Sibirien, Georgien und Finnland. – Das mittlere Wappen zeigt den dreifach gekrönten Doppeladler, aber ohne Ordenskette und Flügelschilde, in einem goldenen Schilde, der von der Kette des Andreasordens umgeben wird, und dem der Helm des heil. Großfürsten Alexander Newsky mit schwarzgoldener Decke ausruht. Als Schildhalter dienen die Erzengel Michael und Gabriel. Das Ganze befindet sich unter einem goldenen, mit schwarzen Doppeladlern gemusterten, kaiserlich gekrönten Wappenzelte, das die rote Aufschrift »Gott mit uns« in russischer Sprache und Schrift trägt. – Das große Wappen ist außerdem von dem kaiserlichen Banner überhöht und unten von neun, oben von sechs Wappenschilden umzogen. Die Nationalfarben sind seit 1896 Weiß, Blau, Rot in horizontalen Streifen. Die kaiserlichen Farben sind Schwarz, Orange, Weiß. Die Kriegsflagge ist weiß, durch das blaue Andreaskreuz diagonal geteilt; die Handelsflagge zeigt die Nationalfarben Weiß, Blau, Rot, wagerecht gestreift (s. Tafel »Flaggen I«, Fig. 53 u. 54, mit Textblatt).

Großmeister aller russischen Orden ist der Kaiser. Der älteste in Rußland gestiftete Orden ist der des heil. Andreas, von Peter d. Gr. 1698 gestiftet (s. Tafel »Orden II«, Fig. 22); er besteht nur aus einer Klasse, und jedes Kind des kaiserlichen Hauses erhält ihn bei der Taufe. Andre sind: der weibliche St. Katharinenorden, gestiftet 1714 von Peter d. Gr. zum Andenken an seine Befreiung aus dem Lager am Pruth 1711 durch die Klugheit seiner Gemahlin Katharina, mit zwei Klassen; der Orden des heil. Alexander Newskij, gestiftet 1725 von Katharina I., mit nur einer Klasse; der St. Annenorden (Fig. 24), ursprünglich holsteinischer Orden, gestiftet 1735 vom Herzog Georg Karl Friedrich zu Ehren seiner Gemahlin Anna, der Tochter Peters d. Gr., 1797 vom Kaiser Paul unter die Zahl der russischen Orden aufgenommen, mit drei Klassen; der ursprünglich polnische Weiße Adlerorden, vom polnischen König Wladislaw IV. gestiftet, von August dem Starken 1705 erneuert, mit einer Klasse; der ebenfalls ursprünglich polnische Stanislausorden, gestiftet 1765 vom König Stanislaus Poniatowski, mit drei Klassen. Für ausgezeichnete Tapferkeit wird der St. Georgsorden (Fig. 23) verliehen, der 1769 von der Kaiserin Katharina II. gestiftet wurde und vier Klassen hat; als fünfte Klasse kann das silberne Tapferkeitskreuz für Untermilitärs hinzugezählt werden. Der Orden des apostelgleichen Wladimir, 1782 von der Kaiserin Katharina II. gestiftet, hat vier Klassen, und jeder Bürgerliche, dem dieser Orden verliehen wird, erhält die Rechte des Adels. Die Haupt- und Residenzstadt des Kaisers ist St. Petersburg, die Krönungsstadt aber die frühere Hauptstadt Moskau.

Über das asiatische Rußland s. die Einzelartikel Kaukasien (mit Karte), Sibirien (mit Karte) und Turkistan sowie Artikel Russisch-Zentralasien mit Geschichtsübersicht und Karte (S. 330).

Geographisch-statistische Literatur.

Die amtliche Statistik ist in Rußland mangelhaft und vor allem nicht einheitlich organisiert. Das statistische Zentralkomitee, das in den Jahren 1882–1885, 1890 und 1896 bereits »Sammlungen von Daten über Rußland« herausgegeben hatte, hat erst kürzlich mit der Herausgabe eines Statistischen Jahrbuches Rußlands begonnen (1. Jahrg., russ., Petersb. 1905) und beschränkt sich im übrigen auf die obenerwähnten »Ernteberichte« (seit 1883, jährlich 2 Bde.). Wichtiger sind die Publikationen der andern Ministerien, von denen das Finanzministerium ein »Jahrbuch« herausgibt, das die gesamte Wirtschaftsstatistik berücksichtigt. Außer den schon am Schluß der einzelnen Abschnitte erwähnten Publikationen seien noch erwähnt das »Statistische Jahrbuch« (jährlich 4 Tle.) und die »Monatshefte« des Ministeriums der Verkehrswege, der Jahresbericht des Bergdepartements, der jährliche Bericht über die Tätigkeit der Fabrikinspektion, über das Branntweinmonopol und die sonstigen akzisepflichtigen Industrien, die Jahresberichte des Ministeriums der Volksaufklärung und des Oberprokurators des heiligen Synods. Ein Mangel aller[309] russischen amtlichen Statistiken ist ihr meist sehr verspätetes Erscheinen. – Auch die Ergebnisse der ersten allrussischen Volkszählung vom 28. Jan. (9. Febr.) 1897 sind in einer zugänglichen und brauchbaren Form erst 1905 in 2 Bänden u. d. T.: »Zusammenstellung der Ergebnisse der ersten allgemeinen Volkszählung vom 28. Jan. 1897 für das ganze Reich« (russ.) erschienen. Das Urmaterial ist in 1190 Einzelhefte zerstreut. Sehr wertvoll, aber sehr ins einzelne gehend sind zum Teil die statistischen Veröffentlichungen der Landschafts- (Semstwo-) ämter (vgl. Walezki, Die Semstwostatistik, russ., Mosk. 1899). Von nicht amtlichen statistischen Veröffentlichungen sind zu nennen Suworins »Russischer Kalender« und das Adreßbuch »Ganz Rußland« desselben Verlags (St. Petersb.).

Von wissenschaftlichen Werken geographisch-statistischen Inhalts über Rußland nennen wir außer den schon in den einzelnen Abschnitten angeführten noch folgende: »Beiträge zur Kenntnis des russischen Reichs« (s. Helmersen); Semenow, Geographischstatistisches Lexikon des russischen Reiches (russ., St. Petersb. 1862 ff.); A. Leroy-Beaulieu, L'empire des Tsars et les Russes (4. Aufl., Par. 1897–98, 3 Bde.; deutsch, 2. Aufl., Sondershaud. 1887–90); Matthäi, Die wirtschaftlichen Hilfsquellen Rußlands (Dresd. 1883–85, 2 Bde.); Jahnson, Vergleichende Statistik Rußlands (russ., Petersb. 1893); P. v. Struve, Kritische Bemerkungen zur wirtschaftlichen Entwickelung Rußlands (russ., das. 1894); Maxime Kowalewski, Le régime économique de la Russie (Par. 1898); v. Schulze-Gävernitz, Volkswirtschaftliche Studien aus Rußland (Leipz. 1899); Morew, Abriß der Handelsgeographie und Wirtschaftsstatistik Rußlands (russ., Petersb. 1906); Hettner, Das europäische Rußland, eine Studie zur Geographie des Menschen (Leipz. 1905); Semenow, Rußland, vollständige geographische Beschreibung unseres Vaterlandes (russ., Petersb., seit 1900; geplant in 20 Bänden, bis 1905 erschienen 6 Bde.); Wallace, Rußland (4. deutsche Aufl., Würzb. 1906, 2 Bde.); Mendelejew, Zur Kenntnis Rußlands (russ., 4. Aufl., Petersb. 1906); Gerrare, Greater Russia, the continental empire of the old world (Lond. 1903); Bädeker, Reisehandbuch für Rußland (6. Aufl., Leipz. 1904).

An Zeitschriften kommen besonders in Betracht die »Nachrichten (Iswestija) der kaiserlichen russischen Geographischen Gesellschaft in St. Petersburg« (1861 ff.), die »Zeitschrift der kaiserlichen freien ökonomischen Gesellschaft« (beide russ.), die »Russische Revue« (Petersb. 1872–91, noch von Wert) und die Veröffentlichungen der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg (russ. und franz.).

Unter den Karten sind außer den nach genauen Messungen vom russischen Generalstab herausgegebenen großen Karten (vgl. die Textbeilage zum Artikel »Landesaufnahme«) und Pedischews großem »Atlas géographique de l'empire de Russie« zu bemerken: Kiepert, Karte des russischen Reiches in Europa (Berl. 1893); Schubert, Spezialkarte des westlichen Teils der russischen Monarchie (Petersb., 59 Blätter und 3 Beiblätter); F. Handtke, Generalkarte vom europäischen Rußland (Glogau); Petermann, Osteuropa (Gotha 1875, 6 Blätter); Iljin, Atlas des Russischen Reiches (Petersb. 1885–93). Geologische Karten lieferte Grewingk für die Ostseeprovinzen (2. Aufl. 1880); Helmersen (1874, russ.) für das ganze Reich und das Geologische Komitee (1893 und 1897) für das europäische Rußland mit dem Kaukasus; das ehemalige Landwirtschaftsministerium gab 1900 eine »Bodenkarte des russischen Reiches mit erklärendem Text« (russ.) heraus; vgl. ferner »Atlas climatologique de l'empire de Russie« (hrsg. vom Physikalischen Observatorium in St. Petersburg, 1900); Tillo, Carte hypsométrique de la Russie d'Europe (Petersb. 1889); Habenicht, Orohydrographische Schulwandkarte von Rußland (Gotha 1895); Köppen, Ethnographische Karte Rußlands (Petersb. 1852); Langhans, Politische Karte von Rußland zur Veranschaulichung der Stellung des Deutschtums etc. (Gotha 1906). Vgl. Kordt, Materialien zur Geschichte der russischen Kartographie (russ., Kiew 1906). Die vollständige Literatur über Rußland in allen Sprachen ist verzeichnet im »Catalogue de la Bibliothèque impériale publique de St.-Pétersbourg: Russica« (1874, 2 Bde.) und in Meshows bibliographischen Werken über Rußland.

Geschichte.

(Hierzu die »Karte zur Geschichte des Russischen Reiches«.)

[Die Gründung des Reiches.] Die Russen (s. d.) bildeten einen Zweig des ostslawischen Volksstammes, der im 9. Jahrh. die Völkerschaften der Kriwitschen, Drjägowitschen, Radimitschen, Sewerjänen, Poljänen, Drewljänen, Bushanen, Duleben, Chorwaten, Ulitschen, Tiwerzen und Wjätitschen umfaßte. Sie saßen am Dnjepr, der Oka, dem Wolchow, der Düna, dem Niemen und dem Bug bis zu den Karpathen; die Meeresküsten waren auf allen Seiten von fremden Stämmen, Finnen im Norden, Chasaren und Petschenegen im Süden und Osten, besetzt. Der nördliche Teil des Landes war meist mit Wald bedeckt, der südliche bis zur Steppe fruchtbarer Kornboden. Die Russen trieben Viehzucht, Ackerbau, Jagd, Fischerei und Handel. Sie lebten in Dörfern zusammen; die Dorfgemeinde bildete die Grundlage ihrer Verfassung. Zur Sicherung ihrer Habe in Kriegszeiten errichteten sie ringartige Umwallungen (grad, jetzt gorod), aus denen die ältesten Städte erwuchsen; andre entwickelten sich aus den Handelsplätzen an der lebhaften Handelsstraße zwischen dem Finnischen Meerbusen und dem Schwarzen Meere. Ihre Religion ging aus der Sonnenverehrung hervor, sie hatten vielleicht Götzen, aber keine Tempel und Priester. Ihre vornehmen Toten verbrannten sie und errichteten über der Asche große, vielfach noch erhaltene Grabhügel. Es fehlte eine Zentralgewalt für alle russischen Stämme, ebenso ein Bewußtsein ihrer nationalen Zusammengehörigkeit.

Schon früh waren Skandinavier (Normannen) von der Südostküste Schwedens auf dem »Ostweg« (austrvegr) bis zu den Gestaden des Finnischen Meerbusens und von da weiter landeinwärts vorgedrungen; die Finnen nannten sie Rus (Rodsen, »Ruderer«), sie selbst nannten sich Vaeringjar (Wâreng, »Gefolge«), woraus die Slawen Russen (dieser Name ging dann auf sie selbst über) und Waräger machten. Die Normannen unter ihren Seekönigen kamen in immer größern Scharen nach dem Gebiete des Ladogasees, das sie zeitweilig unterwarfen. Obwohl es den vereinigten Finnen und Slawen gelang, sie wieder zu vertreiben, wurden dieselben doch bald, um die Mitte des 9. Jahrh., durch innere Wirren veranlaßt, von den Warägern sich Fürsten zu holen. Drei Brüder, Rurik (Hrurekr), Sineus (Sikniutr) und Truwor (Thorvadr), folgten dem Ruf und gründeten sich in Ladoga, Bjelo Osero und Isborsk Fürstentümer, die Rurik nach dem frühen Tode seiner Brüder unter seine Herrschaft vereinigte. So entstand das russische Reich, als[310] dessen offizielles Gründungsjahr 862 angenommen wird. Rurik verlegte seinen Sitz nach Nowgorod, von wo er seine Macht bis zur Wasserscheide zwischen Düna und Dnjepr ausdehnte. Zwei seiner Mannen, die Waräger Askold und Dir, setzten sich in Kiew fest und unternahmen von hier aus 865 mit 360 Booten und 14,000 Mann einen Raubzug gegen Konstantinopel.

Tabelle

Rurik starb 879 und hinterließ nur einen unmündigen Sohn, Igor, für den ein älterer Verwandter, Helgi oder Oleg (879–912), die Herrschaft übernahm. Dieser besetzte Smolensk im Lande der Kriwitschen, drang dann den Dnjepr abwärts und bemächtigte sich 882 Kiews, nachdem er Askold und Dir hatte töten lassen. Er unterwarf mit Ausnahme der Ulitschen alle russischen Stämme. 907 zog er mit 80,000 Mann Warägern und Slawen auf 2000 Booten gegen Konstantinopel und setzte die Griechen (Rhomäer) so in Schrecken, daß deren Kaiser Leon VI. sich zu einem 911 bestätigten, für die Russen sehr vorteilhaften Handelsvertrag verstand. Nach Olegs Tode folgte Ruriks Sohn Igor (912–945), der mit einer Skandinavierin fürstlichen Geschlechts, Helga oder Olga, vermählt war. Anfangs überließ er die Regierung seinem Mannen Svenald; erst später führte er sie selbst und zog 941 gegen Konstantinopel, das aber durch das griechische Feuer, das die russische Flotte zerstörte, gerettet ward. Erst auf einem zweiten Zug erlangte Igor eine Erneuerung des Vertrags von 911. Er fiel bei einem Aufstand der Drewljänen 945 und hinterließ einen minderjährigen Sohn, Swjatoslaw (945–973), für den bis 964 Olga die Vormundschaft führte. Sie nahm an den Drewljänen grausame Blutrache, ordnete die Tributverhältnisse der unterworfenen Stämme und regelte in umsichtiger Weise den fürstlichen Haushalt. 947 zog sie mit großem Gefolge nach Konstantinopel, wurde hier unter Patenschaft des Kaisers Konstantin Porphyrogennetos getauft und empfing den Namen Helena. Obgleich in Kiew schon vorher eine ansehnliche Christengemeinde bestand, blieb Swjatoslaw Heide wie seine warägische Umgebung. Nachdem er 964 die Herrschaft selbst angetreten, unterwarf er die Chasaren und besetzte ihre wichtigsten Städte, besiegte darauf die Wjätitschen und zog 968, vom byzantinischen Kaiser Nikephoros durch eine große Geldsumme gewonnen, mit 60,000 Mann gegen die Donaubulgaren. Er eroberte einen großen Teil ihres Gebietes, kehrte aber dann nach Kiew zurück, das von den Petschenegen hart bedrängt wurde. Er besiegte diese, teilte dann sein Reich unter seine drei unmündigen Söhne, Jaropolk, Oleg und Wladimir, und zog 970 wieder nach Bulgarien. Er drang bis über den Balkan vor, wurde aber dann von den Byzantinern bei Arkadiopol und bei Drstr (Silistria) geschlagen und mußte, in Drstr eingeschlossen, den Kaiser Johann Tzimiskes um Frieden bitten, der ihm freien Abzug gewährte. Auf dem Rückweg nach Kiew wurde Swjatoslaw von den Petschenegen erschlagen (973).

Unter seinen Söhnen brach Zwist aus; Jaropolk von Kiew vertrieb 977 Oleg, der auf der Flucht ertrank, und Wladimir. Dieser floh über das Meer zu den Warägern, kehrte aber bald von da mit einem Warägerheer zurück, verjagte Jaropolk aus Kiew und ließ ihn ermorden (980). Darauf ward er als Wladimir der Heilige (980–1015) Alleinherrscher. Er war anfangs ein eifriger Heide und opferte den von ihm in Kiew neu ausgerichteten Götzenbildern Menschen. Er unterjochte von neuem die Wjätitschen, Radimitschen und Wolgabulgaren. Von den byzantinischen Kaisern gegen einen Aufstand zu Hilfe gerufen, schickte er ihnen ein warägisches Heer und eroberte selbst Cherson in der Krim. Er erhielt die griechische Prinzessin Anna, Schwester der deutschen Kaiserin Theophano, zur Gemahlin, worauf er Cherson zurückgab und selbst zum Christentum übertrat (989). Die Götzenbilder in Kiew ließ er zerschlagen, das des höchsten Gottes Perun in den Dnjepr werfen und befahl, daß alles Volk sich taufen lasse. In Kiew und Umgegend gehorchte man dem Befehl, während der Norden und Osten noch heidnisch blieb. Daß die Russen das Christentum und damit die höhere Kultur von Byzanz empfingen, war für ihren Handel und Verkehr günstig; aber sie traten zu dem Abendland in einen Gegensatz, der ihre Entwickelung hemmte, zumal das griechische Kaiserreich, von dem ihre Kultur nun abhängig wurde, schon im Verfall war.

Wladimir förderte die Ausbreitung des Christentums durch die Verkündigung desselben in slawischer Sprache und durch volkstümliche Gestaltung der christlichen Feste. Als er 1015 starb, stritten sich seine acht Söhne um die Herrschaft. Swjatopolk warf sich zum Herrn in Kiew auf und ließ drei seiner Brüder, Boris, Gleb und Swjatoslaw, ermorden, mußte aber 1016, von seinem ältern Bruder, Jaroslaw von Nowgorod, am Dnjepr besiegt, bei seinem Schwiegervater Boleslaw Chrobry von Polen Zuflucht suchen. Zwar wurde er von diesem nach einem Sieg über Jaroslaw am Bug (1017) zurückgeführt, konnte sich aber, als Boleslaw nach Unterwerfung der tscherwenischen Städte wieder abzog, nicht halten, wurde trotz seines Bundes mit den Petschenegen 1019 von Jaroslaw an der Alta besiegt und floh ins Ausland, wo er starb. Jaroslaw (1019–1054) mußte seinem Neffen Brjätschislaw von Polozk die Städte Witebsk und Usjwät und seinem Bruder Mstislaw von Tmutarakan nach einer Niederlage bei Listwen (1023) das Land östlich vom Dnjepr abtreten (1026). Darauf wurden die Esthen unterworfen und den Polen 1031 die tscherwenischen Städte wieder entrissen, und nach Mstislaws Tode (1034) wurde Jaroslaw Alleinherrscher. Er machte durch einen glänzenden Sieg die Petschenegen für immer unschädlich, während ein Zug seines Sohnes Wladimir gegen Konstantinopel mit völliger Vernichtung des russischen Heeres endete. Das Christentum befestigte er durch den Bau steinerner Kirchen in Kiew u.a. O., und wenn er auch selbst noch in Verbindung mit den Normannen stand, verschmolz doch allmählich das[311] Fürstenhaus in Sprache, Sitte und Religion mit dem slawischen Volk.

Rußland unter den Teilfürsten.

Jaroslaw hinterließ fünf Söhne. an die er das Reich 1054 so verteilte, daß Isjaslaw als Großfürst Oberhaupt wurde und Kiew, Swjatoslaw Tschernigow, Wsewolod Perejeslawl, Wjatschislaw Smolensk, Igor Wladimir erhielt. Außerdem erhob noch ein Enkel Jaroslaws, Rostislaw, und nach dessen Tod (1066) ein Enkel Wladimirs des Heiligen, Wseslaw, Fürst von Polozk, Ansprüche auf die Herrschaft und bemächtigte sich 1068 während eines Einfalls der Polowzer Kiews. Isjaslaw floh zum Herzog Boleslaw von Polen, der ihn 1069 nach Kiew zurückführte. Zum zweitenmal wurde Isjaslaw durch seinen Bruder Swjatoslaw von Tschernigow 1073 vertrieben und suchte nun vergeblich Beistand beim deutschen König Heinrich IV. und dem Papst Gregor VII. Erst nach dem Tode Swjatoslaws (1076) verständigte er sich mit Wsewolod und nahm 1077 den Großfürstensitz in Kiew wieder ein, fiel aber im Kampfe gegen seinen Neffen (3. Okt. 1078). Ihm folgte Wsewolod I. (1078–1093), dessen Regierung aber für das Reich unheilvoll war, da er mit den übrigen Fürsten in fortwährendem Streit lag, Polowzer und Chasaren Einfälle machten und Hungersnot und Pest das Land heimsuchten. Nun ward Isjaslaws Sohn Swjatopolk (1093–1113) als Großfürst von Kiew anerkannt. Derselbe, ein gewalttätiger und unbesonnener Mann, kämpfte unglücklich mit den Polowzern, und die unbotmäßigen Teilfürsten zerrütteten durch fortwährende Kämpfe das Reich. Erst 1111 gelang es, die Polowzer entscheidend zu besiegen.

Mit Umgehung der Nachkommen Swjatoslaws, der Olgowitschi, wurde nun Wsewolods Sohn Wladimir II. Monomach (1113–25), ein tapferer Fürst, von den Kiewern auf den Thron erhoben; er sicherte das Reich nach außen, steuerte dem Wucher und milderte die Lage der halbfreien Bauern (Zakupi). Als er starb, verteilte er seine Lande an seine Söhne, von denen Mstislaw I. (1125–32) tapfer und erfolgreich regierte und Polozk erwarb; unter Jaropolk (1132–39) aber brachen unter den Brüdern Bürgerkriege aus, die das Haus Monomachs zerfleischten, und infolge deren das Haupt der Olgowitschi von Tschernigow, Wsewolod II. (1139–46), Großfürst von Kiew wurde. Nach dessen Tode gelangte wieder Mstiflaws Sohn Isjaslaw II. (1146–54) auf den Thron, unter dem die Kämpfe zwischen den Teilfürsten nicht aufhörten und auch die Kirche durch einen Zwiespalt zerrüttet wurde. Nach Isjaslaws Tod ging die großfürstliche Würde in fünf Jahren fünfmal in andre Hände über. Kiew und Südrußland litten unter diesen Wirren so, daß sie das Übergewicht, das sie bisher besessen, verloren und das Großfürstentum Kiew nicht mehr bedeutete als die übrigen Teilfürstentümer. Juri Dolgorukijs (1154–57) Sohn Andrei Bogoljubski (1157–75) verlegte daher seinen Sitz nach Susdal im Norden. Nach seiner Ermordung behauptete noch sein Bruder Wsewolod Jurjewitsch (1177–1212) einen gewissen Einfluß auf die übrigen Teilfürstentümer. In dem Streite seiner Söhne um den Thron ging jede Einheitlichkeit verloren, und Rußland war in mehrere völlig unabhängige Teilfürstentümer zersplittert, als der Einfall der Mongolen erfolgte.

Die mongolische Fremdherrschaft.

Die Mongolen unter Dschengis-Chan hatten 1222 die Alanen nördlich vom Kaukasus besiegt und sich der Krim bemächtigt. Vor ihnen hatten die Polowzer bei den Russen Schutz gesucht, und die Großfürsten von Halicz, Kiew und Tschernigow zogen den Mongolen über den Dnjepr entgegen, erlitten aber im Juni 1223 an der Kalka eine entscheidende Niederlage. Jedoch erst 1237 drang Dschengis-Chans Enkel Batu in Nordrußland ein, erstürmte Rjasan, Wladimir, Kolomna und Moskau, die zerstört und deren Einwohner grausam niedergemetzelt wurden, und besiegte den Großfürsten von Wladimir, Juri II., 4. März 1238 am Flusse Sit; Juri wurde auf der Flucht getötet. Südrußland wurde 1240 von Batu erobert, Tschernigow und Kiew zerstört. Nach seiner Rückkehr aus dem Westen infolge des Todes des Großchans Oktai gründete Batu 1242 das Reich der Goldenen Horde von Kiptschak, als dessen Mittelpunkt er die Stadt Sarai an der Achtuba, einem Nebenfluß der Wolga, gründete. Von hier aus ernannte der Chan nach freiem Ermessen den Großfürsten und die Teilfürsten von Rußland. Er war ihr höchster Richter und forderte von ihnen einen Tribut, der um so drückender war, als er nicht von den Fürsten, sondern durch Amtsleute des Chans eingetrieben oder an fremde Kaufleute verpachtet wurde. Jedoch enthielt er sich jedes Eingriffs in die innern Einrichtungen der russischen Fürstentümer; das Verhältnis der Fürsten zu ihren Untertanen wurde nicht gestört, auch wich man bei Besetzung der Stellen der Großfürsten und der Teilfürsten nicht von Ruriks Stamm ab. Wer sich widerspenstig zeigte, mußte den starken Arm des Tyrannen fühlen; wer willfährig war, durfte ungehindert sein Herrscheramt üben und selbst seine Waffen gegen auswärtige Feinde kehren. So führten der Großfürst Jaroslaw II. (1238–46), der Bruder Juris II. und sein jüngerer Sohn, Andrei II. (1246–52), selbständig Krieg, und Jaroslaws älterer Sohn, der Großfürst Alexander Newskij (1252–63), siegte als Fürst von Nowgorod über die Schweden 1240 an der Newa (wofür er den Beinamen Newskij erhielt) und die livländischen Deutsch-Ordensbrüder 1242 am Peipussee. Nach Alexanders Tod zerstörten die Fürsten aus Ruriks Stamm ihr Ansehen und die Wohlfahrt des Landes, indem sie sich bei den Chanen verleumdeten und dieselben veranlaßten, die Großfürsten oft zu wechseln, bald aus dieser, bald aus jener Familie zu wählen und keinen sich dauernd in der Herrschaft befestigen zu lassen. So folgte auf die Brüder und Söhne Alexanders, Jaroslaw (1264–71), Waßilij (1271–76), Dmitrij (1276–94) und Andrei (1294–1304), Alexanders Neffe Michael von Twer (1304–19); dieser wurde infolge von Verleumdungen seitens Iuris von Moskau, eines Enkels Alexanders, auf Befehl des Chans ermordet, worauf Juri (1319 bis 1325) selbst den Thron bestieg. Doch er wurde bald von Michaels erstem Sohn, Dmitrij, getötet, der seine Freveltat auch mit dem Tode büßte, worauf für kurze Zeit Michaels zweiter Sohn, Alexander (1325–28), zur Regierung kam. Endlich wurde Juris Bruder, Iwan Kalita von Moskau, vom Chan zum Großfürsten ernannt.

Iwan 1. (1328–40), mit dessen Thronbesteigung der Sitz des Großfürstentums nach Moskau verlegt wurde, wo er die mit dem tatarischen Namen Kreml benannte Burg erbaute, wußte sich durch Geschenke und Huldigungen die Gunst des Chans zu erhalten, befestigte die großfürstliche Würde in seiner Familie und erhob Moskau zur Hauptstadt Rußlands; auf sein Andringen verlegte der Metropolit Peter seinen Sitz nach Moskau. Als sein Sohn Simeon (1340 bis 1353), Gordyi, d.h. der Stolze, benannt von dem[312] Ansehen bei den Teilfürsten, dem Schwarzen Tod erlag, folgte der Bruder, Iwan II. (1353–59), diesem nach kurzem Interregnum sein unmündiger Sohn Dmitrij (1362–89), der die Mongolen auf dem Felde von Kulikowo am Don 8. Sept. 1380 besiegte und den Namen »Donskoi« erwarb; doch wurde er 1382 durch die Verbrennung Moskaus wieder zur Anerkennung der mongolischen Oberhoheit genötigt. Dmitrij führte an Stelle der bisherigen Thronfolgeordnung, nach der das älteste Mitglied der Fürstenfamilie erbberechtigt war, das Recht der Erstgeburt im Großfürstentum ein. Ihm folgte sein Sohn Waßilij I. (1389–1425). Unter ihm hatte sich trotz neuer Mongolenangriffe unter Timur die großfürstliche Macht so gefestigt, daß selbst die schwache Regierung seines Sohnes Waßilij II. Temnyi (der Geblendete, 1425–62) die Einheit des Reiches nicht erschütterte, während die Tataren-Chanate in Kasan und in der Krim von der Goldenen Horde abfielen.

Rußland unter den letzten Ruriks.

Waßilijs II. Sohn Iwan III. (1462–1505) machte sich 1469 das Chanat Kasan zinspflichtig, zwang die Republik Nowgorod zur Unterwerfung (1478) und wehrte 1480 einen Angriff des Chans der Goldenen Horde, Mohammed, ab; als dieser den Rückzug antrat, wurde er von den tatarischen Horden der Schibanen (bei Tjumen) und Nogaier (Krim) bei Asow überfallen, getötet und sein Heer vernichtet. So wurde Rußland vom Tatarenjoch befreit.

Durch seine Vermählung (1472) mit der Prinzessin Sophie, der Nichte des letzten paläologischen Kaisers von Byzanz, die in Rom Zuflucht gefunden hatte, trat Iwan in Verbindung zu Europa, die er durch Heranziehung fremder Künstler und Handwerker zu stärken suchte. Auch fügte er das Wappen der griechischen Kaiser, den zweiköpfigen Adler, dem frühern Moskauer Wappen, dem Bilde des heil. Georg, hinzu und nannte sich Großfürst und Selbstherrscher (Gossudar) von ganz Rußland. Mit dem Großfürsten Alexander von Litauen hatte er 1494 einen Bund geschlossen und ihm seine Tochter Helena vermählt. Weil Alexander die griechische Kirche unterdrückte, erklärte er 1500 den Litauern den Krieg und besiegte sie an der Wedroscha, erlitt aber 1501 bei Isborsk und 1502 am Smolinasee von den mit Litauen verbündeten Livländern empfindliche Niederlagen. Dennoch gewann er durch seine schlaue Politik im Frieden, der 1503 zustande kam, das sewerische Fürstentum, so daß sein Reich nunmehr 21/2 Mill. qkm zählte. Ihm folgte sein ältester Sohn, Waßilij III. (1505–33), der zwei Drittel des Reiches und die Oberhoheit über seine Brüder bekam; derselbe bezog die durch italienische Architekten neuaufgebaute Burg des Kreml, die starke Zitadelle von Moskau, und erwarb Smolensk.

Waßilijs III. Sohn Iwan IV. (153:1–84) folgte, drei Jahre alt. Er wuchs unter den verderblichen Einflüssen einer verbrecherischen Regentschaft auf, die in ihm den Grund zu jener rohen Gemütsart legten, die ihm den Beinamen des »Schrecklichen« (Grosnyj) erwarb. Im Januar 1547 zum Zar von Rußland gekrönt, eroberte er Kasan und machte (1. Okt. 1552) dem Chanat ein Ende. Hierauf nahm er Astrachan, den Rest des alten tatarischen Reiches (1557). Die Stadt wurde ein Hauptverkehrsplatz mit Persien und dem fernen Orient. Gegen die Tataren der Krim schützte er die Grenze durch Befestigungen und wiederholte Einfälle in ihr Gebiet, am erfolgreichsten 1559, aber 1571 verbrannten die krimschen Tataren Moskau und nahmen 100,000 Menschen gefangen. Um einen Küstenstrich an der Ostsee zu erwerben, fiel er in Livland ein und eroberte Narwa und Dorpat. Als aber der Meister des Deutschen Ordens, Ketteler, Esthland an Schweden, Livland an Polen abtrat und sich zum Herzog von Kurland unter polnische Lehnshoheit erheben ließ, geriet Iwan in einen Krieg mit Polen und Schweden und mußte 1582 nicht bloß im Waffenstillstand von Sapolje auf Livland verzichten, sondern 1583 den Schweden noch die russischen Städte Jam, Iwangorod und Kaporje abtreten. Unter ihm begann Jermak mit wenigen Kosaken die Eroberung Sibiriens. Die Engländer erhielten (1553) wertvolle Handelsprivilegien am Weißen Meer, wie er auch sonst die fremde Einwanderung, besonders von deutschen Handwerkern, Lehrern, Ärzten und Gewerbtreibenden, begünstigte.

Die Rechtspflege wurde durch ein neues Rechtsbuch: »Sudebnik«, verbessert, die Bestechlichkeit der Richter eingeschränkt und Geschwornengerichte eingeführt. Sein Streben ging ferner dahin, jeden Widerstand gegen seine Selbstherrlichkeit niederzuschlagen, wobei er oft furchtbare Grausamkeit zeigte. Durch die Drohung, er werde das Reich verlassen, weil die Geistlichkeit die widerspenstigen Bojaren vor Bestrafung schütze, erzwang er 1565 das Zugeständnis, daß er ohne alle Einsprache der Geistlichkeit Todesstrafen, Achterklärungen und Gütereinziehungen vornehmen durfte, trennte dann eine Anzahl Städte und Landschaften als »abgesondertes Land« (Opritschnina) als Land des Zaren von dem übrigen Reichsland (Semschtschina) und schuf aus den so gewonnenen Einkünften eine Leibgarde (Strelzi, Strelitzen). Jetzt wurde er noch despotischer; er setzte den Metropoliten Philipp ab und tötete ihn im Kerker. Nowgorod, das verräterischer Unterhandlungen mit den Polen beschuldigt ward, ließ er fünf Wochen lang durch die Strelitzen plündern, wobei 60,000 Menschen erschlagen wurden.

Auf Iwan IV. folgte 17. März 1554 sein Sohn Feodor I. (1584–98), ein schwacher Fürst, der ganz von seinem Schwager und allmächtigen Minister Boris Godunow geleitet wurde. Da Feodor kinderlos war, trachtete Boris selbst nach der Krone und ließ daher Feodors jüngern Bruder, Dmitrij, 1591 in Uglitsch ermorden. Da er kraftvoll regierte, das Volk durch Gerechtigkeit und Freigebigkeit gewann und die äußern Feinde abwehrte, so wurde er, als mit Feodors Tod (7. Jan. 1598) der Mannesstamm Ruriks erlosch, zum Zaren erwählt (17. Febr. 1598). Trotz seiner Tüchtigkeit und seiner Neigung zu Reformen war Boris Godunow (1598–1605) wegen seiner Strenge bei den Großen nicht beliebt, und das Volk wandte sich von ihm ab, als Rußland drei Jahre lang (1601–1604) von Mißernten und Hungersnot heimgesucht wurde. Die Unzufriedenheit benutzte ein Mann unbekannter Herkunft, um sich für den dem Mordbefehl Godunows entgangenen Zarewitsch Dmitrij (der falsche Demetrius, s. Demetrius 5) auszugeben. Von dem Polenkönig Siegmund und den Jesuiten unterstützt, siegte der falsche Demetrius über Boris an der Desna (20. Sept. 1604) und zog, als Boris Godunow plötzlich starb (13. April 1605) und sein Sohn Feodor II. ermordet worden war, 10. Juni 1605 in Moskau ein. Aber wegen Begünstigung der Polen und Deutschen sowie der römischen Kirche erregte das mächtige Adelsgeschlecht der Schuiskij einen Aufstand, in dem der Prätendent 17. Mai 1606 getötet wurde, worauf von den Bojaren und Bürgern Moskaus Waßilij Schuiskij (1606–10) zum Zaren ausgerufen wurde[313]

Die allgemeine Zerrüttung, besonders die Unzufriedenheit der niedern Klassen, hatte das Auftreten neuer falscher Prätendenten zur Folge, gegen die sich Waßilij nur mit Mühe behauptete und bei Schweden eine Stütze suchte. Aber trotz schwedischer Hilfe wurde der Zar nach der Niederlage bei dem Dorfe Kluschino unweit Moshaisk 24. Juni 1610 gezwungen, abzudanken und sich in ein Kloster zurückzuziehen. Kraft eines Vertrags mit den Bojaren besetzten die Polen darauf Moskau mit dem Kreml. Während ein Teil des Adels den polnischen Kronprinzen Wladislaw zum Zaren ausersehen hatte, die Nowgoroder den schwedischen Prinzen Karl Philipp, Karls IX. Sohn, König Siegmund aber Rußland mit Polen vereinigen wollte, entstand ein herrenloses Zwischenreich (1610–13), dessen Schrecken durch den unglücklichen patriotischen Aufstand des Patriarchen Hermogenes in Moskau (im März 1611) gegen die Polen, der mit dem Brande Moskaus endete, und durch das Auftreten eines neuen falschen Demetrius gesteigert wurden. Endlich stellte sich ein Mann von geringer Herkunft, Kosma Minin, in Nishnij Nowgorod an die Spitze einer nationalen Erhebung, der sich auch ein Teil der Bojaren, so Dmitrij Posharski und Trubezkoi, anschloß. Ein russisches Heer zog vor Moskau und zwang die polnische Besatzung zum Abzug (im Oktober 1612). Hierauf wurde 21. Febr. 1613 der 17jährige Michael Romanow, ein Verwandter des Rurikschen Herrschergeschlechts, zum Zaren erwählt.

Die Herrschaft der ersten Romanows [1616–80].

Zar Michael Feodorowitsch (1613–45) stellte die innere Ruhe und den äußern Frieden her. Er schloß mit Schweden 17. Febr. 1617 den Frieden zu Stolbowa, in dem Nowgorod den Russen zurückgegeben, dagegen Karelien und Ingermanland dem König Gustav Adolf überlassen wurden. Mit Polen kam 1618 zu Deulino ein 14jähriger Waffenstillstand zustande, durch den des Zaren Vater Philaret befreit wurde, der als Patriarch der einflußreichste Rat Michaels wurde. Nachdem Michael 1633 einen erfolglosen Angriff auf Smolensk gemacht hatte, schloß er 5. Juni 1634 den Frieden von Poljanowa, in dem der Zar auf Smolensk, Tschernigow und Sewersk verzichtete, der Polenkönig aber dem Zarentitel entsagte. Auf Michael folgte 12. Juni 1645 sein 16jähriger Sohn, Alexei Michailowitsch (1645–76). Derselbe stand ganz unter der Herrschaft seines Erziehers, des Bojaren Morosow. Dessen Habgier und Günstlingswirtschaft rief 1648 einen Aufstand hervor, in dem mehrere von Morosows Kreaturen getötet wurden und er selbst nur durch das Versprechen des Zaren, die Mißbräuche abzuschaffen, dem Tod entging. Unter ihm wurde ein neues Gesetzbuch von einer großen Landesversammlung (im Oktober 1649) unter dem Namen »Uloshenie« angenommen.

Der schwedisch-polnische Krieg ermutigte 1655 den Zaren zu einem neuen Angriff auf Polen. Die Russen besetzten Wilna und rückten gleichzeitig mit den Schweden gegen Warschau vor, wandten sich aber dann gegen die Schweden, denen sie einen Teil Livlands entrissen, aber nach der vergeblichen Belagerung Rigas im Frieden von Kardis (21. Juni 1661) zurückgeben mußten. Dagegen erwarb Rußland im Frieden mit Polen, der 1667 zu Andrussow abgeschlossen wurde, Kleinrußland, wo der Hetman Bogdan Chmelnizki die Kosaken gegen Polen aufreizte, Smolensk, Kiew und Sewersk. Ein weitverbreiteter Aufstand unter dem Kosaken Stephan Rasin wurde blutig unterdrückt (1671). Als der Patriarch von Moskau, Nikon, sich in ein Kloster zurückzog, weil der Zar ihm nicht die beanspruchte Mitwirkung bel den Staatsangelegenheiten einräumte, wurde er 1666 von einem großen Konzil der griechisch-orthodoxen Kirche abgesetzt, aber die Änderungen, die Nikon an den Kirchenbüchern vorgenommen hatte, weil dieselben nicht mit denen der griechischen Mutterkirche übereinstimmten, genehmigt. Doch hielt eine Partei der Altgläubigen (Starowerzi) oder Sektierer (Raskolniki) an den frühern Satzungen fest.

Nach Alexeis Tode (29. Jan. 1676) folgte der älteste Sohn aus seiner ersten Ehe mit Maria Miloslawski, Feodor Alexejewitsch (1676–82), der die alten Ranglisten (rasrädnüja knigi), die den Dienstrang der Familien im Heer und bei den Staatsämtern bestimmten, und das genealogische Verzeichnis der zu Ämtern und Ehrenstellen Berechtigten, das sogen. Mjestnitschestwo, vernichtete. Feodor starb kinderlos 27. April 1682. Anfangs wurde der zehnjährige Sohn Alexeis aus seiner zweiten Ehe mit Natalia Naryschkin, Peter Alexejewitsch, als Zar ausgerufen, der näher berechtigte 16jährige Iwan wegen körperlicher Gebrechen und Geistesschwäche ausgeschlossen. Die Partei der Miloslawskis erzwang aber durch eine Empörung der Strelitzen die gemeinschaftliche Regierung Iwans und Peters unter der Regentschaft von Alexeis Tochter aus erster Ehe, der klugen und ehrgeizigen Sophia (1682–89), deren Günstling, Fürst Waßilij Galizyn, großen Einfluß besaß. Nachdem sie den Versuch einer altrussischen Reaktion, den der Raskolnik Iwan Chowanski mit Hilfe der Strelitzen wagte, im Keim erstickt hatte. nahm sie den Titel »Selbstherrscherin« an. Ein Krieg gegen die Türken, den sie im Bunde mit Polen begann, verlief aber unglücklich, und dieser Ausgang ermutigte den inzwischen herangewachsenen jungen Zaren, gegen seine Halbschwester aufzutreten. Sophiens Partei, die Miloslawskis, beschlossen, mit Hilfe der Strelitzen Peter aus dem Wege zu schaffen; doch dieser, rechtzeitig gewarnt, entfloh in das Troitzkische Kloster und rief von da den jüngern Adel und die fremden Truppen zu seinem Schutz auf. Die Strelitzen verloren den Mut und wagten, nachdem ihr Anführer nebst den Hauptschuldigen hingerichtet worden, keinen Widerstand. Sophia wurde im September 1689 in ein Kloster verwiesen, Iwan behielt bis zu seinem Tode (1696) den Zarentitel; alleiniger Herrscher war aber nun der Zar Peter I. (1689–1725). Unter ihm erfolgte der Eintritt Rußlands in die Geschichte Europas.

Die Regierung Peters des Großen.

Dem neuen Zaren schien eine Hauptaufgabe, dem russischen Reich außer der Küste des Nördlichen Eismeeres eine mit den Weltmeeren in Verbindung stehende Küste zu erwerben. Der erste Schritt hierzu geschah mit der Eroberung von Asow (1696), in dessen Nähe Peter Taganrog gründete. Nachdem er hierauf die Verwaltung des Staates einigen Großen übertragen hatte, trat er nach Unterdrückung einer gefährlichen Verschwörung seine erste Reise in das Ausland an (1697–98), um die europäische Kultur aus eigner Anschauung kennen zu lernen, hielt sich besonders lange in Holland und England auf und wollte eben von Wien nach Venedig gehen, als ihn die Nachricht von einem neuen Aufstand der Strelitzen nach Moskau zurückrief. Nach fürchterlicher Bestrafung der Schuldigen und Auflösung jenes Korps begann eine lebhafte Reformtätigkeit. Der Senat trat an Stelle des Bojarenrats als oberste Regierungsbehörde,[314] das Patriarchat wurde unbesetzt gelassen und 1721 abgeschafft; der »Allerheiligste Synod« wurde die oberste kirchliche Behörde, die ausländische Einwanderung, europäische Sitten und Kleidung begünstigt, Druckereien und Schulen begründet, die Armee von Ausländern neu organisiert.

Zur Erwerbung einer vorteilhaften Seeküste begann er den Nordischen Krieg (s. d.), zu dem er sich 21. Nov. 1699 mit Polen gegen Schweden verband. Zwar erlitt das russische Heer 20. Nov. 1700 bei Narwa eine Niederlage; aber da sich Karl XII. gegen Polen und Sachsen wendete, konnte Peter Ingermanland sowie einen Teil von Esthland und Livland erobern und 27. Mai 1703 an der Newa den Grund zu seiner neuen Hauptstadt, St. Petersburg, legen. Als sich Karl XII. endlich gegen Rußland wendete, ward er 8. Juli 1709 bei Poltawa völlig besiegt und auf türkisches Gebiet gedrängt. Es glückte ihm, den Sultan zu einem Kriege gegen Rußland zu bewegen, und als Peter, im Vertrauen auf den Beistand des Hospodars der Moldau, Demetrius Kantemir, und der Balkanchristen, zu kühn vordrang, wurde er von den Türken am Pruth, zwischen Faltschi und Husch, eingeschlossen, aber vermutlich durch Bestechung des Großwesirs befreit, der dem Zaren gegen Abtretung von Asow den Frieden von Husch (23. Juli 1711) gewährte. Inzwischen war durch die Einnahme von Riga die Eroberung der Ostseeprovinzen vollendet, ja sogar Wiborg und Kexholm in Karelien, dessen Einwohner nach St. Petersburg übersiedeln mußten, besetzt worden, und Karl XII. versuchte auch nach seiner Rückkehr nach Schweden deren Wiedereroberung gar nicht, sondern fiel in Norwegen ein. Nach seinem Tode trat die schwedische Regierung im Frieden von Nystad (10. Sept. 1721) Livland, Esthland und Ingermanland sowie einen Teil von Karelien und Finnland gegen Zahlung von 2 Mill. Rubel an Rußland ab; unter Gewährleistung ihrer alten Einrichtungen und Rechte, der deutschen Sprache und lutherischen Religion wurden Liv- und Esthland dem russischen Reich einverleibt. Rußland trat jetzt an die Stelle Schwedens als die nordische Großmacht in Europa. Peter d. Gr. nahm den Titel »Kaiser und Selbstherrscher aller Reußen« an und eroberte im Kriege mit Persien (1722–24) die Landschaften Gilan, Masenderan und Astrabad. Seinen einzigen Sohn Alexei, der schon lange durch seinen Widerstand gegen die Reformen die Liebe seines Vaters verscherzt und endlich, der väterlichen Strafreden müde, sich ins Ausland geflüchtet hatte, aber von dort in die Heimat zurückgebracht worden war, hatte Peter zum Tode verurteilen lassen (1718) und darauf 5. Febr. 1725 einen Ukas gegeben, der die Bestimmung der Thronfolge dem regieren den Herrscher überließ; noch ehe er aber eine Verfügung getroffen, starb er 8. Febr. 1725 ohne Testament.

Die Nachfolger Peters des Großen (1725–62).

Durch die Entschlossenheit Menschikows, des Oberbefehlshabers über die Garde, wurde Peters Gemahlin Katharina I. (1725–27) auf den Thron erhoben. Ihrer Bestimmung nach folgte der Sohn des Zarewitsch Alexei, Peter II. (1727–30), besonders durch die Unterstützung Menschikows, der seine Tochter mit dem unmündigen Fürsten zu vermählen hoffte. Aber er verlor die Gunst des Kaisers und wurde nach Sibirien verbannt, worauf die Dolgorukijs den Zaren und das Reich in altrussischem Sinne beherrschten. Peter wurde nach Moskau zurückgeführt, Katharina Dolgorukij ihm verlobt, aber Peter II. starb (30. Jan. 1730) vor der Hochzeit. Die Mitglieder des Obersten Geheimen Rates, in dem die Dolgorukijs und Galizyns den maßgebenden Einfluß übten, riefen die zweite Tochter von Peters d. Gr. älterm Bruder, Iwan, Anna Iwanowna (1730 bis 1740), bisher Herzogin von Kurland, als Zarin aus, die versprechen mußte, nichts ohne Mitwirkung des Geheimen Rates zu tun. Im Besitz der Gewalt, hob Anna durch einen Staatsstreich den Obersten Geheimen Rat auf, verbannte die Dolgorukijs und Galizyns und übertrug die oberste Leitung der Geschäfte ihrem Günstling Biron, dem tüchtige Männer aus der Schule Peters d. Gr., wie Ostermann und Münnich, zur Seite standen. Jetzt wurde unter Ostermanns Vorsitz das Kabinett errichtet, das über alle wichtigen Angelegenheiten des Staates zu entscheiden hatte.

Im Bunde mit Österreich, mit dem Rußland schon im Polnischen Erbfolgekrieg nahe Beziehungen angeknüpft hatte, wurde ein Türkenkrieg (1735–39) unternommen, in dem Lascy Asow wieder eroberte, Münnich Perekop in der Krim erstürmte und sich Otschakows an der Mündung des Dnjepr sowie nach einem Sieg über die Türken bei Stawutschani des festen Chotin am Dnjestr bemächtigte (im August 1739). Aber Österreich schloß 18. Sept. 1739 den übereilten Frieden von Belgrad; Rußland mußte seine Eroberungen außer Asow, das jedoch geschleift wurde, herausgeben. Die von Peter I. eroberten persischen Provinzen Gilan, Masenderan und Astrabad wurden wegen der großen Kosten ihrer Verwaltung gegen Handelsbegünstigungen freiwillig an Persien zurückgegeben.

Anna starb 28. Okt. 1740, nachdem sie ihren unmündigen Großneffen Iwan (1740–41), den Sohn ihrer mit dem Herzog Anton Ulrich von Braunschweig vermählten Nichte Anna Leopoldowna, unter Birons Regentschaft zum Nachfolger bestimmt hatte Aber schon 19. Nov. wurde Biron von Münnich gestürzt und nach Sibirien verbannt, worauf Anna Leopoldowna die Regentschaft übernahm, ihren Gemahl Anton Ulrich zum Oberbefehlshaber der Landarmee und den Grafen Münnich zum Premierminister ernannte. Da Anna sich in der auswärtigen Politik ganz an Österreich anschloß, trat Münnich im März 1741 zurück. Durch eine vom französischen Gesandten La Chétardie angezettelte Verschwörung wurde 6. Dez. 1741 Annas Herrschaft gestürzt, sie selbst mit ihrem Gemahl verbannt, Iwan in den Kerker geworfen und Münnich, Ostermann und andre hochgestellte Männer zum Tode verurteilt, aber auf dem Schafott zur Verbannung nach Sibirien begnadigt. Darauf riefen die Verschwornen Peters d. Gr. Tochter Elisabeth (1741–62) als Kaiserin aus.

Von Frankreich angestiftet, hatten die Schweden schon im Sommer 1741 einen Krieg gegen Rußland begonnen, waren aber 3. Sept. 1741 bei Wilmanstrand geschlagen worden; 17,000 Schweden mußten im September 1742 in Helsingfors die Waffen strecken. Finnland wurde aber im Frieden von Åbo (4. Juli 1743) bis zum Kymene an Schweden zurückgegeben, nachdem der schwedische Reichsrat auf Wunsch Elisabeths den Oheim des russischen Thronfolgers, den Herzog Adolf Friedrich von Holstein, zum schwedischen Thronfolger gewählt hatte. Im Siebenjährigen Kriege (1756–63), wie schon im Österreichischen Erbfolgekrieg, stand Elisabeth aus Haß gegen Friedrich II. auf Österreichs Seite, indem sie Ostpreußen zu erwerben hoffte. Nachdem der russische General Apraxin nach dem Siege bei Großjägersdorf über[315] Lehwaldt (30. Aug. 1757) Ostpreußen besetzt, aber voreilig wieder geräumt hatte, fiel 1758 ein russisches Heer unter Fermor in Brandenburg ein; zwar wurde es 25. Aug. bei Zorndorf geschlagen, doch behielten die Russen Ostpreußen besetzt, siegten 12. Aug. 1759 bei Kunersdorf und eroberten 1761 auch Hinterpommern mit Kolberg.

In der innern Verwaltung des Reiches waren die Brüder Iwan und Peter Schuwalow Elisabeths vorzüglichste Ratgeber. Zunächst wurde der Senat Peters d. Gr. wiederhergestellt, die den Handel und die Industrie behindernden Zölle innerhalb des Reiches aufgehoben, die Außenzölle dagegen erhöht; die fremde Einwanderung, namentlich die von Serben in den südlichen Steppen, wurde befördert, 1755 in Moskau die erste russische Universität, 1758 die Akademie der Künste in Petersburg gegründet und die Akademie der Wissenschaften daselbst (seit 1726 bestehend) reorganisiert. Auch einige Gymnasien wurden errichtet. Prächtige Bauten, wie das Winterpalais in Petersburg, der Palast und die Kirche zu Zarskoje Selo, erhoben sich, das erste russische Theater ward eröffnet. Französische Sitten und Gebräuche wurden ebenso wie die französische Sprache am Petersburger Hofe herrschend.

Nach Elisabeths Tod (5. Jan. 1762) folgte ihr der Sohn von Peters d. Gr. zweiter Tochter, Anna Petrowna, der Herzog Peter von Holstein-Gottorp, als Peter III. Derselbe, ein leidenschaftlicher Verehrer Friedrichs d. Gr., schloß nicht nur sofort mit Preußen Waffenstillstand, sondern 5. Mai auch ein Schutz- und Trutzbündnis, bewog auch Schweden, Frieden zu schließen, räumte Pommern und Ostpreußen ohne jede Entschädigung und schickte Friedrich ein Hilfsheer. Diese Preisgebung aller errungenen Vorteile wie übereilte Neuerungen erregten im Heere Mißstimmung. Da er gleichzeitig die Geistlichkeit durch Reformen in ihrem Einfluß beeinträchtigte, so entstand allgemeine Unzufriedenheit, die seine Gemahlin Katharina, Prinzessin von Anhalt-Zerbst, die er mit Scheidung und Verweisung in ein Kloster bedroht hatte, benutzte, um ihn durch einen Militäraufstand 9. Juli 1762 vom Throne zu stoßen; der gestürzte Zar wurde 17. Juli im Schloß Ropscha von einigen Verschwornen ermordet.

Die Regierung Katharinas II. (1762–96).

Katharina II. wollte als Anhängerin der damals herrschenden Aufklärung Rußland der westlichen Kultur öffnen und danach die innere Verwaltung Rußlands umgestalten. Sie teilte das Reich in 50 Gouvernements, die wieder in Kreise zerfielen, und zog auch Kleinrußland und das Gebiet der Saporogischen Kosaken in diese Einteilung. Eine neue Städteordnung (1785) führte die Selbstverwaltung in den meisten Städten ein. Die Kaufleute wurden in drei Gilden, die Handwerker in Innungen oder Zünfte geteilt, die Vorrechte des Adels festgestellt und bestätigt. Um das höchst mangelhafte Justizwesen zu verbessern, berief Katharina 1767 eine Kommission rechtsverständiger Mitglieder aus allen Provinzen, ohne daß ein neues Gesetzbuch zustande kam. Die Kirchengüter zog sie ein und ließ sie durch eine eigne Behörde, das Ökonomiekollegium, verwalten, das den Geistlichen einen bestimmten Gehalt zahlte und den Überschuß der Einkünfte für wohltätige Zwecke verwendete. Sie gründete Armen-, Kranken- und Findelhäuser und führte die Kuhpockenimpfung ein. Ihre religiöse Duldung zeigte sie den Raskolniken gegenüber, und Künste und Wissenschaften fanden bei ihr freigebige Unterstützung. Gelehrte und Künstler wurden zu ihrer Ausbildung ins Ausland gesandt, die geistlichen Seminare vermehrt, Gymnasien und Militärschulen errichtet, sogar 1783 eine Akademie zur Ausbildung der russischen Sprache gestiftet; in allen bedeutendern Städten und in vielen kleinern Ortschaften wurden Schulen eingerichtet. Katharina lud Ausländer, namentlich Deutsche, zur Niederlassung in ihrem Reich ein. So entstanden zahlreiche deutsche Kolonien an der Wolga und in Südrußland. Für Hebung der Industrie und des Handels sorgte sie durch Abschaffung vieler Monopole und Ausgabe von Assignaten, durch Förderung der Schiffahrt und durch Handelsverträge mit den auswärtigen Staaten. Die Unzufriedenheit mit manchen Neuerungen rief wiederholt Unruhen hervor, unter denen der Aufstand Pugatschews (s. d.) 1773–74 am gefährlichsten wurde.

In der auswärtigen Politik richtete Katharina zunächst ihr Augenmerk auf Polen, das sie unter russischen Einfluß bringen und dann Rußland einverleiben wollte. Sie bewirkte 1764 die Wahl ihres Günstlings Stanislaus Poniatowski zum König von Polen und führte durch ihre Einmischung zugunsten der Dissidenten den Aufstand der Konföderation von Bar herbei, bei dessen Niederwerfung russische Truppen mitwirkten. Als diese bei der Verfolgung der Konföderierten die türkische Stadt Balta in Brand steckten, erklärte der Sultan den Krieg. In diesem ersten russisch-türkischen Krieg (1768–74) siegten die Russen am Fluß Larga (17. Juli 1770) und am Kaghul (1. Aug.), eroberten einen Teil Bessarabiens und 1771 die Krim, wo die Tataren den von ihnen eingesetzten Chan anerkennen mußten, vernichteten 5. Juli bei Tschesme, gegenüber von Chios, die türkische Flotte, überschritten Ende 1771 auch die Donau und schlugen die Türken 21. Okt. bei Babadagh in Bulgarien. Nach einer Unterbrechung durch den Waffenstillstand und die Friedensverhandlungen von Focşani (1772) wurde der Krieg durch den Frieden von Kütschük Kainardschi (21. Juli 1774) beendet, durch den Rußland das Land zwischen Dnjepr und Bug, die Städte Kinburn, Kertsch, Jenikale und Perekop in Taurien erwarb, ferner das Recht freier Schiffahrt auf dem Schwarzen und dem Marmarameer und der Durchfahrt durch die Dardanellen, endlich die Schutzherrschaft über die Moldau und Walachei erhielt. Inzwischen hatte sich Katharina infolge der Vereinigung Preußens mit Österreich 1772 zu der ersten Teilung Polens verstehen müssen, in der sie Weißrußland erwarb. 1780 gewann sie den Kaiser Joseph II. für ein Bündnis, das ihr die Türkei preisgab. Nachdem ihr Günstling Potemkin 1783 die Tataren auf der Krim mit blutiger Gewalt unterworfen hatte, begann die Kaiserin nach einer Zusammenkunft mit Joseph II. in Cherson einen zweiten russisch-türkischen Krieg (1787–92) im Bunde mit Österreich. Die Russen hatten, durch die unglückliche Kriegführung der Österreicher behindert, anfangs keine Erfolge. Erst Ende 1788 wurde Otschakow erstürmt, und 1789 siegte Suworow bei Focşani (1. Aug.) und am Fluß Rimnik (22. Sept.) über die Türken. 1790 wurde Ismail erobert und 1791 die Donau überschritten; südlich derselben schlugen Kutusow die Türken bei Babada und Repnin bei Matschin, worauf der Friede von Jassy abgeschlossen wurde (9. Jan. 1792), in dem die Türkei das Land zwischen Bug und Dnjestr und Otschakow abtrat. Gleichzeitig führte Rußland einen Krieg mit Schweden (1788–90), den König Gustav III., um die Ostseeprovinzen wiederzugewinnen, begann. Er wurde mit wechselndem [316] Glück auf der Ostsee und in Finnland geführt, doch sah sich Gustav durch die Opposition des Adels in Schweden und Finnland genötigt, im Frieden von Werelä 14. Aug. 1790 den Stand der Dinge vor dem Kriege herzustellen.

Die Entwickelung der polnischen Verhältnisse hatte Katharina nicht aus den Augen verloren. Als eine patriotische Partei in Polen durch eine neue Verfassung 1791 dem Reich Einheit und Kraft verleihen wollte, stiftete Rußland die Konföderation von Targowitz gegen die Konstitution von 1791, ließ sich von dieser zu Hilfe rufen, drang Polen die alte Feudalverfassung mit Gewalt wieder auf und erwarb in Gemeinschaft mit Preußen 1793 in der zweiten Teilung Polens Minsk, Podolien, Wolynien und die Ukraine ganz. Obwohl Katharina die französische Revolution verabscheute, nahm sie am ersten Koalitionskrieg nicht teil und konnte daher 1794 den polnischen Aufstand niederwerfen und Preußen und Österreich die Bedingungen der dritten polnischen Teilung (1795) vorschreiben. Mit der Erwerbung Kurlands, auf das der letzte Herzog, Peter Biron, gegen eine jährliche Rente freiwillig verzichtete, sowie Wilnas und Grodnos wuchs das Reich auf 19 Mill. qkm an. Rußlands Machtstellung und Einfluß in Europa war in ungeheuerm Maße gestiegen.

Die Zeit der Napoleonischen Kriege 1106–1815.

Nach Katharinas Tod (17. Nov. 1796) folgte ihr Sohn Paul I. (1796–1801), der durch verkehrte Erziehung ein mißtrauischer, launenhafter Tyrann geworden war. Anfangs zwar erließ er einige wohltätige Verordnungen zugunsten der Leibeignen und Altgläubigen. Er änderte das Thronfolgegesetz (1797), das für die Thronfolge das Recht der Erstgeburt in direkt absteigender Linie und dabei den Vorgang der männlichen Nachkommen vor den weiblichen als Reichsgrundgesetz bestimmte; ein andres Gesetz trennte einen Teil der Kronbauern als Eigentum der kaiserlichen Familie unter dem Namen Apanagebauern ab. Aus Mißtrauen gegen die revolutionären Ideen verbot Paul aber den Besuch ausländischer Lehranstalten und Universitäten, führte eine verschärfte Zensur und strenge Aussicht über alle im Reiche lebenden Ausländer und fremden Reisenden ein und bestrafte jede freie Meinungsäußerung mit launischer Willkür. An dem Kriege gegen Frankreich nahm er erst teil, als die aus Malta vertriebenen Malteserritter ihn zum Großmeister gewählt (im Oktober 1798) und seine Hilfe gegen Frankreich angerufen hatten. Im zweiten Koalitionskriege stellte er Hilfstruppen unter General Hermann für die von den Engländern beabsichtigte Landung in den Niederlanden, für den Krieg in Süddeutschland (unter Korssakow) und in Italien (unter Suworow); sogar dem Sultan schickte er eine Flotte mit 4000 Soldaten nach Konstantinopel zu Hilfe. Die glänzendsten Erfolge erzielte Suworow in Italien, wo er mit den Österreichern vereint durch die Siege bei Cassano (27. April 1799), an der Trebbia (17.–19. Juni) und bei Novi (15. Aug.) die Franzosen aus dem Pogebiet vertrieb. Als er dann auf seinem berühmten Marsch über den St. Gotthard in die Schweiz vordrang, um sich mit Korssakow zu vereinigen, war dieser eben (26. Sept.) bei Zürich geschlagen worden, und Suworow mußte über den Panixer Paß sich nach Graubünden wenden, von wo er nach Rußland zurückkehrte. Denn da auch die Landung in den Niederlanden mit einer schimpflichen Kapitulation (19. Okt.) geendet hatte, sagte sich Kaiser Paul, der Ursache hatte, diese Mißerfolge der Unfähigkeit der verbündeten Befehlshaber zuzuschreiben, von der Koalition los und erneuerte den Neutralitätsvertrag vom 26. Febr. 1780 zur Beschränkung der britischen Seemacht im Dezember 1800 mit Schweden, Dänemark und Preußen. England antwortete mit einem Angriff auf Kopenhagen. Noch ehe es zu Feindseligkeiten mit England kam, ward Paul 23. März 1801 von einigen Großen ermordet, weil sein Despotismus unerträglich war.

Sein 23jähriger Sohn Alexander I. (1801–25) entsagte der bewaffneten Neutralität und schloß mit Frankreich Frieden (im Oktober 1801), um sich den Werken des Friedens widmen zu können; denn, nach Rousseauschen Grundsätzen erzogen, schwärmte er für humane Ideale, ohne jedoch auf seine unbeschränkte Herrschergewalt zu verzichten. An Stelle der von Peter I. begründeten Kollegien errichtete er acht Ministerien (1802), schuf für die Prüfung und Beratung aller neuen Gesetze und Maßregeln der Regierung den Reichsrat, suchte die Finanzen zu regeln und legte zur Verminderung der Heereskosten Militärkolonien an. Unter seiner Zustimmung wurde die Leibeigenschaft in den baltischen Provinzen aufgehoben. Die Zahl der Gymnasien und Volksschulen wurde vermehrt, Universitäten neu errichtet (in Kasan, Charkow und Dorpat) und reorganisiert (Wilna). Er trat 1805 der dritten Koalition gegen Frankreich bei. Doch wurde das russische Heer unter Kutusow, das sich in Mähren mit den Österreichern vereinigte, 2. Dez. 1805 bei Austerlitz geschlagen und mußte infolge des Waffenstillstandes zwischen Frankreich und Österreich das österreichische Gebiet räumen. Seinem sentimentalen Freundschaftsbündnis mit Friedrich Wilhelm III. getreu, kam Alexander 1806 Preußen zu Hilfe, als dessen Heerestrümmer über die Oder zurückgedrängt waren. Die Russen lieferten den Franzosen in Polen die unentschiedenen Gefechte von Czarnowo (23.–24. Dez.), Pultusk und Golymin (26. Dez. 1806), in Preußen die mörderische, aber nicht entscheidende Schlacht bei Preußisch-Eylau (7.–8. Febr. 1807), wurden aber nach einem längern Waffenstillstand 10. Juni bei Heilsberg und 14. Juni bei Friedland geschlagen.

Auf einer persönlichen Zusammenkunft mit Napoleon 25. Juni auf dem Niemen schloß Alexander 7. Juli mit Frankreich den Frieden von Tilsit, in dem er sich durch den preußischen Grenzdistrikt Bialystok bereicherte, und einen geheimen Bundesvertrag, in dem sich die beiden Kaiser in die Herrschaft über Europa teilten, und der in einer zweiten Zusammenkunft in Erfurt (September bis Oktober 1808) erneuert wurde. Rußland überließ Napoleon die Herrschaft über Deutschland, Spanien und Portugal und trat der Kontinentalsperre gegen England bei, wogegen ihm Schweden und die Türkei preisgegeben wurden. Anfang 1808 hatte Rußland Schweden den Krieg erklärt, und es eroberte Finnland 1809, das im Frieden von Frederikshamn (17. Sept. 1809) bis zum Fluß Tornea mit den Ålandsinseln an Rußland kam. Das zweite Opfer des Tilsiter Bündnisses war die Türkei, die, von Napoleon angereizt, 30. Dez. 1806 den dritten russisch-türkischen Krieg (1806–12) begonnen hatte. Die Russen siegten im September 1810 bei Batyen an der Donau und im Oktober 1811 bei Rustschuk über die Türken, und im Frieden von Bukarest (28. Mai 1812) wurde der Pruth zur Grenze zwischen den beiden Reichen bestimmt. In einem Kriege mit Persien erwarb Alexander gleichzeitig einen Länderstreifen mit Baku.[317] Gleich nach diesem Frieden brach 1812 der Krieg mit Napoleon aus, der Rußland absichtlich verletzte, indem er das Herzogtum Warschau 1809 durch Westgalizien vergrößerte, den Herzog von Oldenburg, einen nahen Verwandten des russischen Kaiserhauses, seines Landes beraubte, eine Verschärfung der Kontinentalsperre forderte, dagegen die von Rußland verlangte Räumung Preußens ablehnte. Als Napoleon im Sommer 1812 mit der Großen Armee von 477,000 Mann die russische Grenze überschritt, waren die Russen durch ihre militärische Schwäche (sie zählten kaum 200,000 Mann) zu möglichster Vermeidung einer offenen Schlacht, Rückzug in das unermeßliche Innere des Reiches und Ermüdung des Feindes durch den kleinen Krieg gezwungen. Zugleich wurde die orthodoxe Religion für gefährdet erklärt und der heilige Krieg proklamiert.

Der linke Flügel der Franzosen unter Macdonald, dem das preußische Hilfskorps beigegeben war, rückte in Kurland ein, der rechte unter Schwarzenberg in Wolynien. Die Hauptarmee unter Napoleon richtete sich auf Moskau, erreichte 28. Juni Wilna, 28. Juli Witebsk und besiegte 17. Aug. bei Smolensk die russische sogenannte Westarmee unter Barclay de Tolly, 116,000 Mann stark. Die Russen deckten den weitern Rückzug durch die Gefechte bei Walutina Gora (19. Aug.), Dorogobush (26. Aug.), Wjasma (29. Aug.) und Ghatsk (1. Sept.). Am 7. Sept. wurde der neue Feldherr Kutusow bei Borodino unter furchtbaren Verlusten geschlagen, und 14. Sept. zog Napoleon in Moskau ein; aber das französische Heer war auch erschöpft. Napoleon fand die Stadt von fast allen Einwohnern verlassen, und am Abend des 15. Sept. begann der vom Gouverneur Rastoptschin veranlaßte Brand von Moskau, der in sechs Tagen fast die ganze Stadt in Asche legte. Napoleon machte jetzt Friedensanträge, die von Alexander zurückgewiesen wurden. Am 18. Okt. trat er den Rückzug an. Er wandte sich zuerst nach Süden gegen Kaluga, ward aber bei Malojaroßlawez 24. Okt. von Kutusow nach dem Norden zurückgeworfen und mußte nun durch völlig ausgesogene Gegenden seinen Rückzug nach Smolensk fortsetzen. Durch Mangel an Lebensmitteln und Kälte litt die Armee fürchterlich und war schon in Auflösung, als sie 9. Nov. Smolensk erreichte. Nun vereinigten sich die russische Südarmee unter Tschuschagow nach Zurückdrängung Schwarzenbergs und die Nordarmee unter Wittgenstein, die zweimal ohne Erfolg bei Polozk gekämpft hatte (17.–18. Aug. und 18.–19. Okt.), auf der Rückzugslinie Napoleons. Unter Aufbietung der letzten Kräfte erzwangen die Franzosen 26.–28. Nov. den Übergang über die Beresina; aber in bejammernswertem Zustand erreichte der Rest des Heeres 6. Dez. Wilna. Der Abfall Yorcks von den Franzosen (30. Dez.) nötigte diese Anfang 1813 auch zur Räumung der Weichsellinie.

Im russischen Hauptquartier waren viele einflußreiche Personen für einen sofortigen Frieden mit Frankreich. Aber Napoleon war keineswegs dazu geneigt, auch Alexander verlockte der Wunsch, sich den Besitz Polens zu sichern, zur Fortsetzung des Krieges (vgl. Deutscher Befreiungskrieg). Der erste Feldzug unter Wittgenstein und Barclay endete nach den Schlachten von Großgörschen und Bautzen mit dem Rückzug nach Schlesien. Im zweiten Teil des Krieges aber trugen die russischen Truppen zu den Siegen, besonders der schlesischen Armee 1813–14, bei, durch die Napoleon gestürzt wurde. Im Rate der Verbündeten spielte Kaiser Alexander neben Metternich die hervorragendste Rolle und bewirkte nach Vereitelung seines Planes, Bernadotte auf den französischen Thron zu erheben, die Restauration der Bourbonen und die übermäßige Schonung Frankreichs im ersten Pariser Frieden. Auf dem Wiener Kongreß 1815 erhielt Rußland das sogen. Kongreßpolen als besonderes Königreich, dem auch eine eigne liberale Verfassung verliehen wurde. Seine Besitzungen dehnten sich nun im Westen bis nahe an die Oder aus, im Osten bis Alaska; es umfaßte über 20 Mill. qkm und etwa 50 Mill. Einwohner.

Rußlands Übergewicht in Europa.

Das Übergewicht Rußlands nach dem Ausgang der Napoleonischen Kriege befestigte Alexander noch durch die Heilige Allianz (26. Sept. 1815), durch die er Österreich und Preußen an die russische Politik fesselte. Die legitimistischen Grundsätze, zu denen Alexander sich bekehrt hatte, wurden zur Richtschnur der europäischen Politik auf den Kongressen zu Aachen, zu Troppau, Laibach und Verona genommen. Doch war im J. 1819 geplant, Rußland eine Konstitution zu geben. In Deutschland half Alexander die nationale und freisinnige Bewegung unterdrücken. Im eignen Reiche verbesserte Alexander das Zollsystem, das Geldwesen, den Straßen- und Kanalbau und kolonisierte das südliche Rußland. St. Petersburg wurde durch zahlreiche Bauten verschönert, Moskau und viele andre im Kriege zerstörte Städte erstanden stattlicher als zuvor aus der Asche. Das Unterrichtswesen ward durch neue Anstalten, namentlich eine Universität in St. Petersburg, gefördert und wissenschaftliche Reisen und Arbeiten freigebig unterstützt. Auf einer Reise in den Süden des Reiches starb Alexander unerwartet 1. Dez. 1825 in Taganrog.

Da Alexander keine Söhne hinterließ, so huldigten der Großfürst Nikolaus mit den Garden seinem ältesten Bruder Konstantin. Dieser hatte aber schon 1822 auf sein Thronrecht verzichtet, und Alexander hatte den Verzicht genehmigt, aber geheim gehalten. Erst jetzt ward er bekannt, und da Konstantin bei seinem Entschluß beharrte und als Oberbefehlshaber des polnischen Heeres seinen jüngern Bruder, Nikolaus, als Zaren ausgerufen hatte, bestieg dieser als Nikolaus I. (1825–55) den Thron. Die vorübergehende Unsicherheit des Interregnums benutzte eine Anzahl vornehmer Offiziere, die nach den Ideen der französischen Revolution einen Umsturz des Staates herbeiführen wollten (Aufstand der Dekabristen, s. d.). Dieselben, Oberst Pestel an der Spitze, spiegelten den Garden, die am 26. Dez. 1825 dem Zaren Nikolaus huldigen sollten, vor, Konstantin sei der rechtmäßige Zar und Nikolaus Usurpator, und bewogen sie, nicht nur die Huldigung zu verweigern, sondern sogar Hochrufe auf Konstantin und die Konstitution (worunter die Soldaten die Gemahlin Konstantins verstanden) auszustoßen. Nikolaus ließ sofort mit Kartätschen unter sie feuern und erstickte durch sein mutiges persönliches Entgegentreten den Aufstand im Keime. Die Teilnehmer wurden gehenkt, wie Pestel, Rylejew, Murawjew und andre Offiziere, viele nach Sibirien verbannt, die meuterischen Regimenter nach dem Kaukasus geschickt.

Nikolaus wurde 22. Aug. 1826 in Moskau feierlich gekrönt. Von übermäßigem Bewußtsein seiner eignen Herrschaft und der Macht des russischen Reiches erfüllt, sah der neue Zar in der westeuropäischen Kultur nur eine Ursache der Auflehnung gegen Thron[318] und Altar, hielt die absolute Kaiserherrschaft für fähig, das russische Reich und Volk zur höchsten Entfaltung seiner Kräfte zu bringen, und glaubte sich berechtigt, die russischen Ansprüche nach allen Seiten hin rücksichtslos geltend zu machen. In dem Kriege mit Persien (1826–28), den der Sohn des Schahs, Abbas Mirza, durch einen Einfall in Kaukasien begonnen hatte, wurde dieser 25. Sept. 1826 bei Jelissawetpol geschlagen, worauf Paskewitsch 1827 in Persien selbst eindrang, bei Abbas Abad (17. Juli) und bei Etschmiadsin (29. Aug.) siegte, Eriwan und Tebriz besetzte und im Frieden von Turkmantschai (22. Febr. 1828) die Abtretung eines Teiles von Armenien erlangte. Schon vorher hatte der Zar den vierten russisch-türkischen Krieg (1827–29) eröffnet, angeblich wegen Nichterfüllung der die Donaufürstentümer betreffenden Verträge seitens der Türkei, in Wirklichkeit, um die Unabhängigkeit der Griechen zu erzwingen, deren Aufstand von Rußland aus begünstigt worden war. Der Krieg begann mit der Vereinigung einer russischen mit einer englisch-französischen Flotte im Hafen von Navarino, wo die türkisch-ägyptische Flotte 27. Okt. 1827 vernichtet wurde. Im Mai 1828 überschritten die Russen unter Wittgenstein die Donau und eroberten im Oktober Warna, während Paskewitsch in Türkisch-Armenien Kars (5. Juli), Achalkalaki (23. Juli), Achalzych (9. Aug.) und damit das ganze Paschalik Bajesid in seine Gewalt brachte. 1829 besiegten die Russen unter Diebitsch die Türken bei Kulewtschi (11. Juni), nahmen Silistria ein (20. Juni) und zogen darauf über den Balkan. Sie eroberten Adrianopel 20. Aug. und bedrohten Konstantinopel; in Armenien hatte Paskewitsch Erzerum besetzt. Da nahm die Pforte die preußische Vermittelung für einen Frieden an, der am 14. Sept. 1829 in Adrianopel zustande kam: Rußland erhielt die Donaumündungen und einen Teil Armeniens sowie eine Kriegskostenentschädigung von 10 Mill. Dukaten; außerdem erkannte der Sultan die Unabhängigkeit Griechenlands an und gewährte den Donaufürstentümern fast völlige Selbständigkeit.

Die Julirevolution 1830 hatte, obwohl Polen von Rußland bisher mild und rücksichtsvoll behandelt worden war, den polnischen Aufstand (29. Nov. 1830) zur Folge, durch den der Großfürst Konstantin, der in Warschau befehligte, so überrascht wurde, daß er ganz Polen räumte. Die Wiedereroberung 1831 (s. Polen, S. 92) wurde dadurch erschwert, daß die Cholera viele Soldaten, auch den Oberbefehlshaber Diebitsch, wegraffte, und erst im September 1831 von Paskewitsch durch die Einnahme von Warschau beendet. Polen verlor darauf seine Selbständigkeit, wurde durch ein organisches Statut (im Februar 1832) als ein untrennbarer Teil mit dem russischen Reiche vereinigt und die polnische Armee der russischen einverleibt. Nach diesen glänzenden Erfolgen betrachtete sich Kaiser Nikolaus als den Schützer der bestehenden Ordnung in Europa und schritt als solcher 1833 zugunsten der Türkei ein, als dieselbe von Mehemed Ali von Ägypten bedroht wurde: eine russische Flotte erschien im Bosporus, 5000 Russen stellten sich bei Skutari auf, und ein Landheer eilte den Türken über den Pruth zu Hilfe. Das bewirkte den Frieden von Kutahia zwischen dem Sultan und Mehemed Ali; als Dank erhielt Rußland in einem geheimen Artikel des Vertrags von Hunkjar Skelessi (8. Juli 1833) das Zugeständnis, daß die Dardanellen allein für russische Kriegsschiffe offen sein sollten. Noch entschiedener trat Nikolaus als Gebieter von Europa und Hort der Legitimität nach der Februarrevolution auf; er war willens, 1848 in Preußen gegen die Revolution einzuschreiten, was aber abgelehnt wurde, schickte 1849 eine russische Armee unter Paskewitsch nach Ungarn, um den Österreichern bei der dortigen Insurrektion zu helfen, und die ungarische Hauptarmee mußte unter Görgei vor seinen Truppen bei Világos 13. Aug. die Waffen strecken. Er spielte darauf in der deutschen Frage den Schiedsrichter zwischen Österreich und Preußen und zwang letzteres, seine Unionspläne aufzugeben (Olmützer Punktationen, 29. Nov. 1850).

Im Innern änderte Nikolaus an den bestehenden Staatseinrichtungen wenig. Es wurden Ministerien des kaiserlichen Hauses (1826) und der Reichsdomänen (1837) errichtet, alle Ukase seit der »Uloshenie« des Zaren Alexei Michailowitsch (1649) unter der Leitung Speranskijs gesammelt, gesichtet und die noch in Kraft befindlichen als neue Gesetzsammlung herausgegeben. Für das Heer wurde durch Gründung vieler Militärschulen und Kadettenkorps gesorgt. Prächtige Schlösser, Bau- und Kunstwerke wurden errichtet; der russische Hof war der glanzvollste Europas. Aber der Zar hatte nur Verständnis für die äußere Ordnung der Dinge. Das Beamtentum, unterwürfig nach oben, war gewalttätig nach unten, unredlich und bestechlich. Trotz steigender Erträge der Branntweinsteuer waren die Finanzen in schlechtem Stand, so daß drückende Steuern, wie die Kopfsteuer, nicht abgeschafft werden konnten. Für Landwirtschaft, Gewerbe und Handel wurde wenig getan. Der Verkehr mit dem Ausland wurde, um das Eindringen der revolutionären Ideen des Westens zu verhindern, möglichst beschränkt; Reisen ins Ausland wurden nur gegen eine hohe Paßsteuer gestattet, Bücher und Journale von einer oft willkürlichen Zensur überwacht. Die Universitäten (Warschau und Wilna wurden aufgehoben und an ihrer Stelle Kiew errichtet) waren strengster Beaufsichtigung unterworfen; die Zahl der Studierenden wurde beschränkt. Für die Hebung des verwahrlosten Klerus geschah nichts. Auf der Synode zu Polozk (1839) wurde die Vereinigung der seit 1596 mit der römisch-katholischen Kirche unierten Griechen in den polnischen Provinzen mit der russischen Staatskirche beschlossen und trotz der Proteste des Papstes ihre Durchführung begonnen. In den baltischen Provinzen wurden zahlreiche esthnische und lettische Bauern durch falsche Vorspiegelungen zum Übertritt zur griechischen Kirche verleitet und die Rückkehr zum lutherischen Glauben bei strengsten Strafen verboten.

Nikolaus betrachtete sich aber als Protektor der gesamten griechischen Kirche des Orients, und dies gab den Anlaß zum Ausbruch des fünften russisch-türkischen Krieges (1853–56), des sogen. Krimkrieges (s. d.). Der Krimkrieg bewirkte, daß die russische Suprematie aufhörte. Es zeigte sich, daß Rußland außer einigen wenigen strengkonservativen Kreisen in Europa wenig Freunde besaß und die Heeresmacht, die so viel Geld verschlungen hatte, minderwertig war. Trotz der Genialität eines Totleben war die russische Armee nicht imstande, die Alliierten aus der Krim zu vertreiben. Die Verpflegung, Ergänzung und Verstärkung des Heeres in der Krim waren durch den Mangel an Verkehrsmitteln erschwert, die Hilfsquellen an Lebensmitteln durch große Unterschlagungen nutzlos geblieben. Die feindlichen Flotten schadeten durch ihre Blockaden dem russischen Handel, dem sie bloß die Landgrenze gegen Österreich und[319] Preußen offen ließen, und erschütterten den Wohlstand Rußlands, da es nur Rohprodukte erzeugte, die es während des Krieges nicht gegen die Erzeugnisse der Industrie umsetzen konnte. Endlich zerrütteten die Kosten des Krieges die Finanzen.

Die Regierung Alexanders II.

Als im Frühjahr 1855 die Kämpfe in der Krim mit einem unglücklichen Gefecht der Russen begannen, starb Nikolaus plötzlich 2. März 1855. Ihm folgte sein ältester Sohn, Alexander II. (1855–81), der vorläufig den Krieg fortsetzte. Nachdem aber 8. Sept. 1855 Sebastopol gefallen, anderseits durch die Eroberung von Kars 27. Nov. der russischen Waffenehre Genüge geschehen war, kam es 30. März 1856 auf dem Pariser Kongreß zum Frieden. Rußland trat die Donaumündungen mit einem Teil Bessarabiens ab und gab Kars zurück, versprach, weder Seearsenale am Schwarzen Meer anzulegen noch auf diesem mehr Kriegsschiffe zu unterhalten als die Türkei, und verzichtete auf das Protektorat über die orientalischen Christen und die Donaufürstentümer, die unter das Gesamtprotektorat der europäischen Großmächte gestellt wurden. Die auswärtige Politik, die nach Nesselrodes Rücktritt Fürst Gortschakow leitete, war vorsichtig und maßvoll. Mit Preußen, sogar mit Frankreich suchte Rußland ein näheres Verhältnis anzuknüpfen. Nur gegen Österreich, dessen orientalische Politik während des Krimkriegs die Russen als schnöden Undank ansahen, blieb die russische Politik sehr kühl, vermied aber sorgsam alle Verwickelungen. Schon drei Wochen nach dem Pariser Frieden ordnete Alexander, der am 7. Sept. 1856 feierlich gekrönt wurde, bei der stehenden Armee eine Reduktion an, durch die an 200,000 Soldaten dem bürgerlichen Leben zurückgegeben wurden. Ganz Rußland wurde auf vier Jahre von der Rekrutierung befreit, 24 Mill. Rubel Steuerrückstände erlassen und für die Verurteilten von 1825 eine Amnestie verkündigt. Während es bisher nur eine Eisenbahn von Petersburg nach Moskau gegeben hatte, wurde jetzt ausländisches Kapital für den Bau großer Linien gewonnen und 1862 eine Verbindung mit Deutschland vollendet. Ein neuer Zolltarif bahnte den Übergang zum Schutzzollsystem an. Die Zensur wurde gemildert; eine russische Presse entstand. Für das Volksschulwesen wurden Anordnungen getroffen.

Die wichtigste Reform aber war die Aufhebung der Leibeigenschaft am 5. (17.) März 1861. Die Befreiung der Leibeignen, deren Zahl sich auf 23 Mill. Seelen belief, war schon von Alexander I. und Nikolaus I. geplant worden. Jetzt wurden für die Aufstellung von Grundsätzen ein Hauptkomitee und für die Redaktion des Gesetzes eine Kommission unter Vorsitz Rostowzows, dann des Großfürsten Konstantin, eingesetzt. Unterstützt wurde diese durch Kommissionen in den Provinzen. Wegen der wachsenden Gärung im Volke wurden die Arbeiten übermäßig beschleunigt, auch dem Reichsrat nur einige Wochen Zeit zur Durchberatung gelassen, die Forderungen des Adels, der keineswegs allgemein gegen die Reform war, wenig berücksichtigt. Auf den kaiserlichen Domänen erhielten die Bauern schon 1858 Freiheit und Grundbesitz ohne Entschädigung der Krone. Die Privatbauern sollten nach dem Gesetz vom 7. März 1861 in zwei Jahren für frei erklärt werden, aber für den Erwerb von Grund und Boden die Gutsbesitzer durch Geld oder Leistungen entschädigen. Zur Beaufsichtigung dieser Operation wurden »Friedensvermittler« eingesetzt. In vielen Gegenden erschwerte der Gemeindebesitz die Loslösung der einzelnen. Dazu kam, daß die Bauern die Ablösung als Ungerechtigkeit auffaßten und sich gewaltsam auflehnten, bis vielfach die Regierung die Ablösungssummen auszahlte und von den Bauern dann in bestimmten Fristen eintrieb. Solche Leibeigene, die in den Städten als Kaufleute oder Handwerker gegen eine Abgabe (Obrok) an ihre Herren lebten, wurden ohne Landanweisung gegen Geldzahlungen freigelassen. Die Bauerngerichte mit eingeschränkten Kompetenzen wurden in der Gemeinde (Mir) erwählt, aber durch Beamte kontrolliert. In der Gemeindeversammlung wurden auch Gemeindeangelegenheiten erledigt.

Daran schloß sich eine Reform der Rechtspflege durch Einführung von Friedens- und Geschwornengerichten mit öffentlichem Verfahren und mündlicher Verhandlung (1864) sowie die Errichtung von Kreis- und Provinzialversammlungen (Semstwo), die aus Delegierten der Kreistage, aus den Großgrundbesitzern, Bauern und Bürgern gebildet wurden. Auch erfolgte 1862 zum erstenmal die Veröffentlichung des Reichsbudgets. Indes erfuhr die Reformtätigkeit des Kaisers eine Unterbrechung durch den Aufstand der Polen (im Januar 1863). Alexander hatte auf den Rat Wielopolskis den Polen eine größere nationale Selbständigkeit zugestanden und seinen Bruder, den Großfürsten Konstantin, zum Statthalter ernannt, in der Hoffnung, hierdurch die Polen zu versöhnen. Aber die Geistlichkeit, ein Teil des Adels und besonders die städtische Bevölkerung Warschaus wurden durch diese Nachgiebigkeit nur zur Hoffnung auf völlige Losreißung von Rußland angestachelt. Als eine gewaltsame Rekrutenaushebung für 14. Jan. 1863 angeordnet wurde, um die Warschauer Jugend unschädlich zu machen, kam es zu einer Insurrektion, die von einem geheimen Zentralkomitee geleitet und durch einen rücksichtslosen Terrorismus wachgehalten wurde. Obwohl die Aufständischen nur größere Banden aufbringen konnten und die Intervention der Westmächte zugunsten Polens von Rußland kurzerhand abgewiesen wurde, so erforderte doch die Niederwerfung des Aufstandes erhebliche Anstrengungen. In dieser Krisis vollzog sich die Bildung der altrussischen Partei, deren Führer Tscherkaski, Miljutin, Samarin, Katkow, Aksakow u.a. waren; statt der freiheitlichen Ziele traten nun die nationalen in den Vordergrund: die Pflege des Altrussentums und die Vereinigung aller orthodoxen Slawen unter russischer Führung (Panslawismus) galten fortan als die Aufgaben der russischen Politik. In ihrer Abneigung gegen die westliche Kultur und deren Anhänger (Zapadniki, Westler) wollten die Führer der Nation auch von konstitutioneller Verfassung und weitern Reformen nichts wissen. Für Landwirtschaft, Gewerbe und Handel geschah wenig. Die Finanzen gesundeten nicht; die Reform des Steuerwesens geriet ins Stocken. Die Vermehrung der höhern Schulen, besonders der Gymnasien, hatte zwar einen stärkern Besuch der Universitäten, aber auch die Ansammlung eines geistigen Proletariats zur Folge.

Seit dem polnischen Aufstand schlug die russische Politik unter dem Beifall der Panslawisten die erobernde Richtung früherer Zeiten ein. Polen (s. d., S. 93) wurde zu völliger Russifizierung bestimmt. Schon vor der Unterwerfung der kaukasischen Bergvölker und der Gefangennahme Schamyls (25. Aug. 1859) sowie der Besiegung der Ubychen (21. März 1864) wurde das Amurgebiet durch einen Vertrag mit China (1860) erworben und von Japan Südsachalin gegen die Kurilen eingetauscht (1875), wogegen[320] das russische Nordamerika für 7 Mill. Dollar an die Vereinigten Staaten verkauft wurde (1867). In Mittelasien wurden dem Chan von Bochara 1867 Taschkent und 1868 Samarkand genommen, aus deren Gebiet das Gouvernement Turkistan gebildet wurde. Durch General Kauffmann 1873 wurde dem Chanat Chiwa das rechte Ufer des Amu Darja entrissen und der Rest zu einem russischen Vasallenstaat gemacht, 1876 das ehemalige Chanat Chokand als Provinz Ferghana dem russischen Reich einverleibt. In der europäischen Politik hielt Alexander II. die panslawistischen Gelüste der altrussischen Partei, deren Organ die »Moskauer Zeitung« Katkows war, zunächst im Zaum und schritt aus Freundschaft für Preußen, das ihm während des polnischen Aufstandes zur Seite gestanden hatte, weder 1864 im deutsch-dänischen Kriege noch 1866 im preußisch-deutschen Krieg ein. Auch 1870/71 war Rußland neutral und hielt dadurch Österreich von einem Einschreiten zugunsten Frankreichs ab. Zum Dank dafür bewirkte Bismarck, daß auf der Pontuskonferenz in London (Januar bis März 1871) der § 11 des Pariser Friedens von 1856 aufgehoben wurde, der die Beschränkungen der russischen Flotte im Schwarzen Meer enthielt.

Die Erfolge Preußens und die Bildung eines starken Deutschen Reiches erregten Neid in der französisch gesinnten russischen Gesellschaft. Die Regierung, durch Anzeichen von Gärung, wie das Attentat Karakosows auf den Zaren (10. April 1866), ängstlich geworden, sah sich gedrängt, dem nationalen Stolz eine Genugtuung zu geben. Zunächst wurde nach dem Muster Deutschlands 1874 vom Kriegsminister Miljutin die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, die Truppenkörper und die Zahl der Soldaten im Kriegsfall beträchtlich vermehrt. Dann wurde von der panslawistischen Partei die Orientalische Frage wieder in Gang gebracht. Ein Aufstand in der Herzegowina (1875), der sich 1876 auch nach Bulgarien verbreitete, wurde hier von den Türken blutig unterdrückt und die Serben zurückgeschlagen. Die russische Regierung machte 13. Nov. 1876 sechs Armeekorps mobil, und 5. Dez. nahm der zum Oberbefehlshaber ernannte Großfürst Nikolaus seinen Sitz in Kischinew. Die Konferenz der Mächte in Konstantinopel im Winter 1876/77 verlief resultatlos, da die Pforte die gewünschten Bürgschaften für ihre christlichen Untertanen verweigerte und das am 31. März 1877 von den Mächten angenommene Protokoll ablehnte. Hierauf wurde von Rußland 24. April 1877 an die Türkei der Krieg erklärt.

Der sechste russisch-türkische Krieg (1877/78) wurde unternommen, um die orientalische Frage im russischen Sinne zu lösen durch Befreiung der »slawischen Brüder«. Da Rußland der wohlwollenden Neutralität Deutschlands gewiß sein konnte und Österreich sich im Januar 1877 durch einen besondern Vertrag, der ihm Bosnien und die Herzegowina zusicherte, zur Nichteinmischung verpflichtet hatte, so ging die ganze russische Heeresmacht in zwei Armeen gleichzeitig 24. April in Asien über die armenische und in Europa über die Grenze Rumäniens, das unter Anerkennung der Unabhängigkeit sich Rußland anschloß. Die kaukasische Armee unter dem Großfürsten Michael erstürmte 17. Mai Ardahan und schloß Kars ein, das jedoch durch den Sieg Mukhtar Paschas über Loris-Melikow bei Sewin (25. Juni) entsetzt wurde; die Russen mußten Mitte Juli zurückweichen. Bei dem hohen Wasserstande der Donau konnten die Russen erst 27. Juni bei Simnitza den Strom überschreiten, rückten dann aber rasch vor, erreichten 7. Juli Tirnowa; General Gurko überschritt 13. Juli den Balkan und bemächtigte sich des Schipkapasses. Aber als 20. Juli General Schilder-Schuldner Plewna angriff, wurde er von Osman Pascha zurückgeschlagen und Lowatz den Russen 27. Juli entrissen; der mit größern Streitkräften unternommene Angriff Krüdeners und Schachowkois auf die Stellung bei Plewna, die Osman Pascha rasch befestigt und mit 50,000 Mann besetzt hatte, 30. Juli hatte ebensowenig Erfolg. Außerdem standen östlich von der Jantra beträchtliche Streitkräfte der Türken. Auch Gurko mußte sich aus Rumelien vor Suleiman Pascha nach dem Schipkapaß zurückziehen. Aber Osman Pascha in Plewna und Mehemed Ali am Lom blieben untätig, und Suleiman Pascha vernichtete seine ausgezeichnete Armee durch aussichtslose und blutige Angriffe auf die Russen am Schipkapaß (im August). Unterdessen zogen die Russen Verstärkungen aus Rußland und Rumänien heran. Nach einem mehrtägigen Bombardement wurde 11. Sept. ein Sturm auf Plewna versucht und auf den Flügeln von Skobelew und den Rumänen einige Schanzen erobert (Verlust 16,000 Mann). Die Türken eroberten aber 12. Sept. die verlornen Schanzen fast alle wieder. Nun wurde Totleben, bis dahin Generalgouverneur von Wilna, berufen, um eine regelrechte Belagerung zu leiten, und Osman Pascha die Verbindung mit Sofia durch Gurko abgeschnitten. Osman Pascha versuchte 10. Dez. einen Durchbruch nach Widdin, den aber die davon im voraus unterrichteten Russen leicht zurückwiesen; danach ergaben sich die Türken, noch 40,000 Mann stark, nach 143tägigem Kampf.

Auf dem asiatischen Kriegsschauplatz siegten die Russen, nachdem sie bei einem erneuten Vorstoß im August wieder zurückgewiesen worden waren, 15. Okt. entscheidend am Aladja Dagh, 4. Nov. bei Dewe-Boyun und erstürmten 18. Nov. Kars; nur der Winter verhinderte Armeniens völlige Eroberung. In Bulgarien überschritt Gurko Ende Dezember den Etropol-Balkan, besetzte 3. Jan. 1878 Sofia und drang in das Tal der Maritza vor, in das vom mittlern und östlichen Balkan die Armee des Zentrums, nachdem sie 9. Jan. die türkische Schipka-Armee gefangen genommen hatte, und die Lomarmee herabkamen. Die Russen vereinigten sich in Philippopel, vernichteten hier 17. Jan. die letzte türkische Armee unter Suleiman, besetzten 22. Jan. Adrianopel und erreichten 29. Jan. bei Rodosto das Marmarameer. Der am 31. Jan. in Adrianopel abgeschlossene Waffenstillstand hemmte den weitern Vormarsch. Als aber die englische Flotte in das Marmarameer einfuhr, rückten die Russen bis dicht vor Konstantinopel und schlossen 3. März den Frieden von Santo Stefano, in dem die Türkei einen Teil Armeniens mit Ardahan, Kars, Batum und Bajesid an Rußland, die Dobrudscha an Rumänien, andre Gebiete an Serbien und Montenegro abtrat, diese Staaten als unabhängig anerkannte und in die Bildung eines autonomen Fürstentums Bulgarien willigte, das außer Bulgarien den größten Teil Rumeliens bis zum Ägäischen Meer und den nördlichen Teil Mazedoniens umfassen sollte. Doch diese Bestimmung, die den Rest der europäischen Türkei in zwei Teile zerschnitt, rief den Einspruch Englands hervor, das indische Truppen nach Malta zog und mit Krieg drohte, wenn Rußland nicht den Friedensvertrag einem Kongreß unterbreite, den auch Österreich verlangte. Rußland bequemte sich zur Beschickung des Berliner Kongresses. Dieser bestimmte 13. Juli, daß der Umfang Bulgariens beschränkt und es[321] in zwei Teile, das tributpflichtige Fürstentum Bulgarien und die autonome Provinz Ostrumelien, geteilt, Bajesid der Türkei zurückgegeben, dagegen Kars, Ardahan und Batum sowie das 1856 von Rußland abgetretene rumänische Bessarabien gegen die Dobrudscha an Rußland fallen sollten. Die Höhe einer Kriegsentschädigung wurde zwischen der Türkei und Rußland ausgemacht, 8. Febr. 1879 ein definitiver Friede geschlossen; die Türkei versprach die Zahlung von 300 Mill. Rubel Kriegskosten, und die Russen räumten das türkische Gebiet.

Die Gebietserwerbungen wogen die ungeheuern Opfer an Menschen (auf dem europäischen Kriegsschauplatz allein 172,000 Mann) und an Geld (500 Mill. Rubel) nicht auf. Im russischen Heerwesen, namentlich in der Verpflegung und im Lazarettwesen, hatten sich erhebliche Schäden gezeigt. Und wenn auch das militärische Ansehen Rußlands wiederhergestellt war und die befreiten Bulgaren sich dankbar zeigten, so war doch Griechenland unter dem Einfluß Englands ganz, Serbien unter dem Österreichs bis zum letzten Abschnitt des Krieges neutral geblieben. Rumänien war erbittert, daß ihm für seinen Beistand, ohne den die Russen im Sommer 1877 sich in Bulgarien nicht hätten behaupten können, mit der Wegnahme Bessarabiens gedankt wurde. Vor allem aber war Rußland verletzt, daß Österreich, dem in Berlin Bosnien und die Herzegowina zugesprochen wurden, damit eine herrschende Position auf der Balkanhalbinsel gewann. Die Presse und die panslawistische Partei schoben die Schuld Deutschland zu, das sich undankbar bewiesen habe; selbst hochgestellte Männer, namentlich Gortschakow, nahmen gegen Österreich und Deutschland eine immer schroffere Haltung an. Infolgedessen schloß der deutsche Reichskanzler 7. Okt. 1879 ein Schutz- und Trutzbündnis mit Österreich.

Nun wollten die Nihilisten (s. d.) durch Schreckenstaten eine Änderung des Regierungssystems erzwingen, da sie von einem Umsturz alles Bestehenden die Erfüllung ihrer sozialistischen Ideen erhofften. Sie gründeten mit bedeutenden Mitteln, begünstigt durch die Bestechlichkeit der Beamten und die Gleichgültigkeit der Gebildeten, ein revolutionäres Exekutivkomitee, überzogen das Land mit Zweigvereinen, errichteten geheime Druckereien und gaben Manifeste und Zeitungen heraus. Schon 1878 geschahen das Attentat der Wjera Sasulitsch auf General Trepow, ihre Freisprechung durch das Geschwornengericht und die Ermordung des Chefs der Gendarmerie, Generals Mesenzow, denen 21. Febr. 1879 die des Gouverneurs von Charkow, Fürsten Krapotkin, und das Attentat auf Mesenzows Nachfolger, General Drenteln (25. März 1879), folgten; andre Beamte wurden in der Provinz ermordet. Größern Schrecken verbreiteten drei Mordversuche auf den Kaiser: 14. April 1879 schoß Solowjew in St. Petersburg auf Alexander II., 1. Dez. explodierte auf dem Bahnhof in Moskau eine Mine, die den kaiserlichen Zug in die Luft sprengen sollte, und 17. Febr. 1880 wurde das Erdgeschoß unter dem Speisesaal des Winterpalais in St. Petersburg in die Luft gesprengt. Es wurden nun die umfassendsten Sicherheitsmaßregeln getroffen, die tüchtigsten Generale mit außerordentlichen Vollmachten an die Spitze der Generalgouvernements gestellt und schließlich dem General Loris-Melikow eine Art Diktatur übertragen. Auch wurden viele Mitglieder der nihilistischen Verschwörung teils mit dem Tode, teils mit Zwangsarbeit bestraft. Alexander II. aber wollte auf den Rat Loris-Melikows, der im August 1880 zum Minister des Innern ernannt wurde, das seinerzeit begonnene Reformwerk durch die Berufung einer Notabelnversammlung krönen, die an seinem Geburtstag, 29. April, erfolgen sollte: da fiel er 13. März 1881 einem neuen Attentat der Nihilisten, die Dynamitbomben gegen ihn schleuderten, zum Opfer.

Die Regierung Alexanders III.

Alexanders Sohn und Nachfolger Alexander III. führte den Plan seines Vaters, eine Konstitution zu geben, nicht aus, verkündete vielmehr in einem Manifest 11. Mai, daß er die selbstherrliche Gewalt zum Wohl des Volkes befestigen wolle. Loris-Melikow wurde durch Ignatiew ersetzt; der streng orthodoxe Pobjedonoszew sowie der Vertreter des Altrussentums, Katkow, beeinflußten den Zaren, der meist zurückgezogen auf dem Schloß Gatschina lebte. Ignatiew berief eine Menge Kommissionen, um Reformen zu beraten, von denen nur die Abschaffung der Kopfsteuer allmählich ausgeführt wurde. Die Nihilisten vermochte er nicht an neuen Mordtaten zu hindern. Da er 1882 wegen anfänglicher Begünstigung der Judenhetzen auch mit Katkow in Konflikt geriet, wurde er im Juni d. J. entlassen und der streng konservative Graf Tolstoi zum Minister des Innern ernannt. Durch energische Maßregeln wurde die Umsturzpartei so geschwächt, daß 27. Mai 1883 die feierliche Kaiserkrönung mit großem Pomp in Moskau ungestört stattfinden konnte; das Krönungsmanifest verkündete bloß einen Teilerlaß der Kopfsteuer, eine sehr beschränkte Amnestie und eine mildere Behandlung der Sektierer; nur die absolute Herrschergewalt des Zaren, verbunden mit der orthodoxen Kirche und gestützt auf die altrussischen Institutionen, könne das Reich erhalten. Die Nihilisten glaubte man durch Repressivmaßregeln im Zaum halten zu können; dennoch kamen wiederholt Mordtaten an Beamten oder Verrätern an der nihilistischen Sache vor, und ein Attentat auf den Kaiser selbst 13. März 1887 wurde nur durch einen Zufall verhindert. Als der Zar mit seiner Familie 29. Okt. 1888 aus Kaukasien zurückkehrte, wurde der Eisenbahnzug bei Borki zum Entgleisen gebracht; aber der Zar und die Seinigen blieben wunderbarerweise unversehrt. Alles Unheil für Rußland suchte der Zar in dem Eindringen der westlichen Kultur. Die baltischen Provinzen wurden nach Möglichkeit russifiziert, die lutherische Kirche unter drückt, die Juden verfolgt und die Ausbreitung des orthodoxen Glaubens mit List und Gewalt befördert. Die russischen Universitäten wurden einer strengen Überwachung unterworfen und öfter geschlossen, die Zahl der Studenten beschränkt.

Die Landwirtschaft lag so danieder, daß die Besitzverhältnisse zwischen den Grundherren und den befreiten Bauern noch immer nicht überall hatten geregelt werden können. Die Schulden und die für ihre Verzinsung erforderlichen Ausgaben waren seit 1876 außerordentlich angewachsen; das Budget konnte nur scheinbar ins Gleichgewicht gebracht werden, zumal die Zinsgarantie für die neuen Eisenbahnen beträchtliche Summen erforderte; Heer und Flotte wurden mit erheblichen Kosten vermehrt. Daher beschränkte sich Rußland auf die Ausdehnung seiner Grenze in Mittelasien; es unterwarf die Achal-Tekke (1881) und besetzte Merw (1884), das mit dem Kaspischen Meer durch eine Eisenbahn verbunden wurde. Auch der Bau einer Eisenbahn durch Sibirien wurde begonnen. Die russische Machtstellung am Stillen Ozean wurde verstärkt, Korea von China abwendig gemacht[322] und veranlaßt, Port Hamilton, das die Engländer 1885 besetzt hatten, zurückzunehmen (1887). Mit Japan schloß Rußland 1888 einen günstigen Handelsvertrag. Den panslawistischen Agitationen ward 1882 ein Zügel angelegt und nach Verabschiedung Gortschakows ein friedliebender Staatsmann, v. Giers, zum Minister des Auswärtigen ernannt. Eine Wendung trat indes ein, als 1885 der Fürst Alexander von Bulgarien (s. d., S. 587 f.) selbständig Ostrumelien mit Bulgarien vereinigte und einen siegreichen Krieg gegen Serbien begann. Daß weder Alexanders Sturz noch das Einschreiten russischer Agenten die Bulgaren zur Unterwerfung zu bringen vermochte, erfüllte den Zaren mit unvertilgbarem Mißtrauen gegen den Dreibund, namentlich gegen Deutschland und Österreich. Ungeheure Truppenmassen, besonders Reiterei, wurden an der West- und Südwestgrenze des Reiches zusammengezogen und unter den Befehl der besten Generale, Gurkos in Warschau und Dragomirows in Kiew, gestellt. Die Leitung der auswärtigen Politik nahm der Zar selbst in die Hand. Jeder Anerkennung der neuen Zustände in Bulgarien widersetzte er sich, und die von russischen Agenten dort angestifteten Attentate ließen jeden Augenblick eine verhängnisvolle Verwickelung befürchten. Während Wyschnegradski als Finanzminister das anschwellende Defizit ermäßigte und durch hohe Einfuhrzölle die Industrie zu schützen suchte, sank der Rubelkurs bedenklich, bis Witte (1893) das Defizit beseitigte und den Rubelkurs stabilierte, so daß die furchtbare Mißernte und Hungersnot 1891 bald vergessen wurden. Bedenklich schien sich die Lage zu gestalten, als 1891 der Zar dem Drängen Frankreichs nachgab und eine französische Kriegsflotte im Hafen von Kronstadt mit Ehren und unter dem Jubel der Bevölkerung empfing. 1893 erwiderte eine russische Flotte in Toulon den Besuch. Doch ein förmliches Bündnis kam zwischen den zwei Mächten nicht zustande; ja der Abschluß von Handelsverträgen mit Österreich und Deutschland milderte die Spannung mit diesen Reichen. Man überzeugte sich, daß der Zar aufrichtig den Frieden wolle und Frankreichs Revanchegelüste eher zügele als ermutige.

Die neueste Zeit.

Auf Alexander III., der nach längerm Leiden im 50. Lebensjahre 1. Nov. 1894 in Livadia starb, folgte sein ältester Sohn als Nikolaus II. Dieser erhielt in der innern Politik den Absolutismus aufrecht; doch wurde anfänglich gegen die nicht orthodoxe Bevölkerung des Reiches, Balten, Finnen, Polen und Juden, ein milderes Verfahren eingeschlagen. Die auswärtige Politik, die 1895–96 Lobanow leitete, erstrebte in Europa die Erhaltung des Friedens und eine freundlichere Stellung zum Dreibund. Besondere Aufmerksamkeit widmete die neue Regierung der Entwickelung der Dinge in Ostasien, wo während des Krieges mit China 1894–95 Japan sich als neue Großmacht erwies. Nachdem Nikolaus II. im Mai 1896 unter großen Feierlichkeiten in Moskau gekrönt worden war, besuchte er im Herbst den österreichischen Kaiser in Wien, den deutschen in Breslau, darauf auch England und Frankreich; in Cherbourg, Paris und Châlons wurde das Zarenpaar begeistert empfangen.

Die auswärtige Politik Rußlands leitete seit dem Tode Lobanows (1896) Graf Michael Murawjew, der Rußlands Ansehen noch steigerte. Der Zar empfing im Frühjahr 1897 den Besuch des Kaisers Franz Joseph, Anfang August den des Kaisers Wilhelm II. und Ende August den des Präsidenten Faure. Bei dem letzten sprach der Zar das von den Franzosen seit langem ersehnte Wort von den nations alliées; doch fügte er hinzu, daß das Ziel des Bundes der Friede sei. Friedlich war auch ein Abkommen mit Österreich zur Erhaltung der Türkei gegen die großbulgarischen Bestrebungen. Beim Ausbruch des Aufstandes in Kreta Anfang 1897 und während des türkisch-griechischen Krieges blieb Rußland neutral und handelte gemeinschaftlich mit den europäischen Mächten. Dagegen verstärkte es seinen Einfluß wie in Zentralasien, so namentlich in Ostasien. Die Fortführung der Sibirischen Bahn durch die chinesische Mandschurei bis zu einem eisfreien Hafen am Stillen Ozean wurde durch Verträge gesichert. Korea wurde unter russischen Einfluß gebracht, und Ende 1897 besetzten die Russen den chinesischen Kriegshafen Port Arthur (s. d. 2). Gleichzeitig wurden an der deutschen und österreichischen Grenze zwei Armeekorps neu formiert. Zu Schiffsbauten wies der Zar 10. März 1898: 90 Mill. Rubel an. Mit China wurde 28. März der Vertrag über die Verpachtung von Port Arthur an Rußland formell abgeschlossen, die Befestigungen des Hafens verstärkt sowie Truppen und Kriegsvorräte hingeschafft. Von Korea erlangte Rußland die Abtretung der Deer- (Hirsch-) Insel im Hafen von Fusan, schloß aber gleichzeitig 13. Mai mit Japan einen Vertrag ab, der die Selbständigkeit Koreas gewährleistete. In Mittelasien wurde ein mohammedanischer Aufstand in Ferghana im Mai 1898 rasch unterdrückt; die Eisenbahnen rückten auch dort vor.

In Europa bemühte sich Rußland im Einverständnis mit Österreich den Frieden auf der Balkanhalbinsel aufrechtzuerhalten und auf Kreta (s. d., S. 640) geordnete Zustände herzustellen. Diesen Zielen entsprach das Rundschreiben des auswärtigen Ministers Grafen Murawjew vom 24. Aug. 1898 über die Abhaltung einer Konferenz der Mächte zur Sicherung des Friedens und Beschränkung der Rüstungen (s. Friedenskonferenz). Während vom 18. Mai bis 29. Juli diese Konferenz im Haag nur ein bescheidenes Ergebnis hatte (das wichtigste ist die Ausdehnung der Genfer Konvention auf den Seekrieg), wurde in Rußland die Neubewaffnung der Feldartillerie mit Schnellfeuergeschützen, auch die Flottenvermehrung nach dem Marineprogramm von 1898 eifrig betrieben. Für die Ausgestaltung des Kriegshafens in Wladiwostok wurden über 13 Mill. Rubel angewiesen. Mit Österreich blieb das Einvernehmen in den Balkanfragen bestehen. Eine kurze Trübung in dem Verhältnis zu Bulgarien und Serbien ward wieder gehoben, die bulgarische Armee sogar durch einen russischen Generalstabsoffizier reorganisiert. Die Beziehungen zu Deutschland erfuhren durch eine Kaiserzusammenkunft in Potsdam 8. Nov. 1899 eine neue Stärkung Im Frühling 1899 bot die armenische Frage Rußland zu Forderungen an die Türkei Anlaß. Rußland erlangte 1. Febr. 1900 die Konzession für eine Bahn von Kars nach Erzerum und 1. April das Zugeständnis, sofern die türkische Regierung nicht selbst den Eisenbahnbau ausführe, ihn in den Grenzwilajets Transkaukasiens nur an russische Kapitalisten zu überlassen. Indes erhielt Rußland keine Konzession für eine Linie von Jelissawetpol nach Bagdad. In Persien gewann Rußland Einfluß teils durch Konzessionen für Kunststraßen und Eisenbahnen (von denen nicht viel zustande kam), teils durch ein Darlehen an Persien von 22,5 Mill. Rubel Ende Januar 1902, mit dem die englische Anleihe von 1892 zurückgezahlt und dadurch die Häfen am Persischen Meerbusen dem englischen Einfluß entzogen werden konnten.[323] Die Gesellschaft für Dampfschiffahrt und Handel in Odessa erhielt im Juni 1903 eine Subvention für eine Dampferlinie in den Persischen Meerbusen. Persien darf in 75 Jahren (seit 1902) bei keinem andern Staat als Rußland Anleihen machen; zugleich wurde eine persische Kosakenbrigade durch russische Instrukteure eingerichtet; ihr Chef ist seit 1903 ein russischer General, Kossagowskij, der dem Großwesir und dem russischen Gesandten untersteht. In Afghanistan wiegt noch der englische Einfluß vor, obgleich die russische Murgabbahn Kuschk, 100 km von Herat, erreicht hat. Vgl. G. B., Die kürzeste Eisenbahn aus Zentralrußland nach Mittelasien (Petersb. 1899); A. Stetkewitsch, Die Frage nach der Fortsetzung der mittelasiatischen Eisenbahntrace von Taschkent nach Tschimkent (das. 1899, beide russisch); Krahmer, Rußland in Asien, Bd. 6: Die Beziehungen zu Persien (Leipz. 1903). Die Erfolge der russischen Politik in Mittel- und Ostasien gegenüber Englands Interessen :u Indien und China wurden zum Teil durch wirtschaftliche Maßnahmen großen Stils errungen, vor allem durch den Riesenbau der Chinesisch-Mandschurischen Bahn, die heute im Anschluß an die Sibirische Bahn in einer Hauptlinie von 1440 Werft von der Grenze Transbaikaliens nach Port Arthur führt und in einer 980 Werft langen Abzweigung die südliche Mandschurei durchquert. Am 13. Dez. 1899 wurde der Betrieb der Strecke von Port Arthur bis Mukden eröffnet, während die ganze Bahn im Sommer 1902 dem Verkehr übergeben wurde.

Daß trotz Deutschlands Machtstellung in Asien das Einvernehmen der beiden Monarchen ungestört blieb, zeigte sich namentlich in der von Nikolaus II. befürworteten Ernennung des Generalfeldmarschalls Grafen Waldersee zum Oberkommandierenden der europäischen Truppen in China 1900. Wilhelm II. besuchte den Zaren 6.–8. Aug. 1902 in Reval, der deutsche Kronprinz weilte 16.–24. Jan. in Petersburg, und 4. und 5. Nov. 1903 hatten die beiden Kaiser Zusammenkünfte in Wiesbaden und Wolfsgarten bei Darmstadt. Auch mit Österreich-Ungarn ward das Einvernehmen durch den Besuch des russischen Kaisers in Wien und Mürzsteg 30. Sept. bis 3. Okt. 1903 besiegelt. Die beiderseitigen Minister des Auswärtigen vereinbarten die Aufrechterhaltung des Übereinkommens von 1897 in der mazedonischen Frage. Am 5. Okt. richteten beide Mächte eine identische Note an die Pforte mit der Aufforderung, die versprochenen Reformen in Mazedonien energisch durchzuführen; zugleich wurden in Sofia ernstliche Vorstellungen wegen der von Bulgarien zugelassenen Verschwörungen zugunsten der christlichen Bevölkerung in Mazedonien gemacht. Am 22. Okt. 1903 legten die beiden Mächte ein neues Programm vor, in dem Zulassung einer Kontrolle über die Maßnahmen der türkischen Regierung und eine beschleunigte Durchführung der Reformen verlangt wurde. Am 8. Dez. wurden für eine solche Kontrolle der österreichische Generalkonsul v. Müller und der russische Generalkonsul Demeric ernannt (s. Mazedonien, S. 490).

Ostasien. Schon 1900 hatte Rußland bei dem internationalen Feldzuge zur Befreiung der in Peking eingeschlossenen auswärtigen Gesandten und zur Unterdrückung des Boxeraufstandes (s. China, S. 54) mitgewirkt. Russen befanden sich unter den Truppen des englischen Admirals Seymour, der im Juni 1900 einen vergeblichen Vorstoß von Tientsin nach Peking versuchte, dann unter den Marinesoldaten der verschiedenen Reiche, welche die Takuforts (17. Juni) und Tientsin (14. Juli) eroberten, und bei dem Einzug der internationalen Armee in die Stadt Peking 14. Aug. Auch unter dem gemeinschaftlichen Oberbefehl des Grafen Waldersee (seit 27. Sept.) zeichneten sich die Russen unter General Stößel aus. Rußland schlug vor, die internationalen Truppen nach der Einnahme Pekings abziehen zu lassen, da es in friedlicher Weise die chinesische Regierung unter seinen Einfluß zu bringen strebte. Im November 1900 überbrachte der burjätische Buddhistenpriester Daltiew, ein Russe, der seit 1897 Sekretär des Auswärtigen in Lhassa war, dem Zaren die Geschenke, die früher als Zeichen der Schutzherrschaft dem Kaiser von China überreicht zu werden pflegten. Außerdem besetzten die Russen bei der Unterdrückung der Boxer in Nordostchina die Mandschurei. Im Oktober 1901 verhandelte Rußland mit China über einen Vertrag, wonach Rußland die Mandschurei zurückgeben wollte, wenn die Unruhen dort unterdrückt seien oder das Verhalten einer dritten Macht es nicht unmöglich machte; alle eingebornen Truppen sollten von den Russen reorganisiert werden; Konzessionen für Eisenbahnen und Bergwerke blieben den Russen vorbehalten. Zum Schutze der Bahn solle bis auf weiteres eine russische Besatzung unter Ljenewitsch zurückbleiben. Der Vertrag wurde 8. April 1902 mit einigen Änderungen bestätigt. Dennoch blieben die russischen Truppen in der Mandschurei; ja es wurden zur 12. Aug. 1903 errichteten Statthalterschaft für Ostasien ausdrücklich das Gebiet an der chinesischen Ostbahn und die »an die Statthalterschaft angrenzenden, jenseit der Grenze liegenden russischen Besitzungen« hinzugefügt und im Oktober ein besonderes Komitee für die Angelegenheiten des fernen Ostens unter Vorsitz des Kaisers gebildet, das Maßnahmen zur Entwickelung des Handels und der Industrie im fernen Osten beraten sollte. Der erste Statthalter war der Generaladjutant Alexejew, in dessen Hand die Ausführung der Komiteebeschlüsse, der diplomatische Verkehr mit den Nachbarreichen und das Kommando aller dortigen Truppen und der Kriegsflotte im Stillen Ozean gelegt wurde. Geheime Verbindungen zwischen Petersburg und einflußreichen Chinesen (Großkanzler Yung-lu, gest. im Sommer 1903) erleichterten das russische Vorgehen.

Am stärksten wurden dadurch die Interessen Japans berührt, da die Russen auch in Korea immer größern Einfluß gewannen. Am 5. April 1903 erklärte Rußland der chinesischen Regierung, es sei bereit, die Provinzen Mukden und Kirin mit Niutschwang zurückzugeben, wenn diese Gebiete keiner andern Macht übergeben würden; im Norden sollten, wenn überhaupt Ausländer, nur russische Techniker angestellt werden, die Telegraphenlinie zwischen Port Arthur und Mukden in russischer Verwaltung bleiben. Dagegen protestierten Japan, England u. Nordamerika; Rußland erklärte, daß es nichts gegen die Integrität der Mandschurei plane. Am 8. Okt. sollten die Russen die Mandschurei räumen; sie besetzten aber 29. Okt. Mukden, nachdem am 24. der Handelshafen mit hohen Zöllen für nichtrussische Schiffe eröffnet war. Am 9. Dez. erschienen russische Kriegsschiffe vor Chemulpo, 13. Dez. japanische Truppen in Mokpho. Am 28. Dez. nahm Japan eine außerordentliche Anleihe auf; doch Rußland glaubte an keinen japanischen Angriff.

In der innern Verwaltung zeigten sich glückliche Anfänge. Die allrussische Kunst- und Gewerbeausstellung in Moskau im Sommer 1896 erwies materiellen Aufschwung. Das Hauptverdienst daran hatten außer ausländischen, meist deutschen Ingenieuren[324] die Schutzzollpolitik der Finanzminister Wyschnegradski (1887–92) und Witte (1893–1903). Der Goldzoll, der 1897 eingeführt wurde, befestigte den Rubelkurs auf die Dauer. Witte bereiste die südrussischen Kohlengebiete 1899, beschränkte die Rechte der jüdischen Kaufleute und richtete in Paris eine russische Handelskammer ein. Ein Handwerkerkongreß legte die Bedürfnisse des Handwerks dar. Nach den ersten größern Arbeiterunruhen in Riga und Warschau wurde die Fabrik- und Bergwerksverwaltung neu organisiert. Im August 1900 erfolgte die Erhöhung der Finanzzölle; Anleihen in großem Umfange brachten Gold ins Land. Kreditbanken wurden wegen zunehmenden Wuchers besonders für die Landbevölkerung eingerichtet. Die Flotte und ihre Bedürfnisse sollten in einheimischen Fabriken hergestellt werden; 1901 wurde das Schiffsmaterial vom Einfuhrzoll befreit und die Freiwillige Flotte unterstützt, die Verbindungen mit Wladiwostok und dem Persischen Meerbusen einrichtete. Die Kiliamündung wurde schiffbar gemacht, die Baumwollen- und Naphthaindustrie gepflegt. Das Branntweinmonopol (s. Branntweinsteuer, S. 329 f.), 1895 in einigen Gouvernements und bis 1901 im ganzen europäischen Rußland eingeführt, brachte hohe Einnahmen, schränkte aber die Trunksucht nicht ein. Ferner begann Witte mit dem Aufkauf der privaten Eisenbahnen. Am 1. Nov. 1901 wurde der Bau der Ostsibirischen Bahn vom Baikal bis Port Arthur und Wladiwostok (2400 Werft) beendet.

Aber das Protektionssystem hatte auch üble Folgen. Die Fabrikbevölkerung wurde von nihilistischen und sozialdemokratischen Strömungen ergriffen. Seit 1899 häuften sich in den Fabrikgegenden die Arbeiterunruhen. Die neuen Fabrikinspektoren hatten viel zu große Bezirke zu beaufsichtigen. Der Haß gegen die Juden, die auf bestimmte Wohnsitze und in ihren Besitzrechten beschränkt wurden, brach wiederholt gewalttätig hervor. Am 19. und 20. April 1903 wurden in Kischinew Hunderte von jüdischen Läden und Wohnstätten zerstört, gegen 400 Menschen getötet oder verwundet. Die Landwirtschaft litt durch die künstliche Förderung der Ausfuhr von Getreide. Hungersnot und Bauernunruhen gehörten bald zu den alltäglichen Erscheinungen auch in den Schwarzerde-Gouvernements. Der Adel verbrauchte rasch das durch die Ablösung der Leibeigenen gewonnene Geld und siedelte, wie die Bauern, häufig in die Städte über. Das Gesetz über die Majorate 1899 nützte wenig. Man ermäßigte den Zoll auf landwirtschaftliche Maschinen, gab ein Waldschutzgesetz, vermittelte staatlich den Ankauf von Saaten. Endlich förderte man die Ansiedelung von Bauern in Sibirien: 1898 erhielten 200,000,1899: 270,000 Personen Land in Sibirien mit Pachtfreiheit auf 10 Jahre und günstigen Ankaufsbedingungen; aber schon 1900 minderte sich die Zahl der Ansiedler und ging dann stark zurück, da die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse ungünstig waren. Im J. 1902 wurden 800,000 Rubel an Gutsbesitzer in Südrußland verteilt, die durch Unruhen geschädigt waren. Den verarmten Bauern gab man in Raten 6,663,000 Rubel. Am 10. März 1903 wurde die Haftpflicht der Gemeinde für den einzelnen Steuerzahler aufgehoben, den Bauern wurden 111 Millionen Steuern erlassen, die ländliche Polizei wurde fortan durch die Krone erhalten (für etwa 20 Millionen). Den Bauern wurde gestattet, an den vielen Feiertagen zu arbeiten. Seit 6. Febr. 1902 beriet eine Kommission von Sachverständigen über die Hebung der Landwirtschaft.

Auf den Universitäten gab es häufig Studentenunruhen und zeitweilige Schließung der Vorlesungen. Ein Universitätsstatut vom 5. Juli 1899 beschränkte die Zahl der Studenten auf die, welche im selben Lehrbezirk ihr Abiturium gemacht hatten. Vielfache Umänderungen des Lehrplans der Mittelschulen drängten die klassischen Studien zurück. Am 27. Febr. 1901 wurde der Minister der Volksaufklärung, Bogoljepow, von einem relegierten Studenten tödlich verwundet. Die am 6. Juli eingesetzte Kommission beriet über den revolutionären Geist in der Jugend ohne Erfolg. Gleichzeitig entzog man den Semstwos (Gouvernementslandtagen) die Wohlfahrtspflege und die Aussicht in den Schulen und verstärkte so die Erbitterung gegen die Bureaukratie. Durch die Russifizierung Finnlands (s. d.) und der Ostseeprovinzen (s. d.) verbreiteten sich die Übelstände Innerrußlands auch dahin. Am 7. Juni 1903 wurde der Religionsunterricht in polnischer Sprache im ganzen Weichselgebiet für das Jahr 1904 zugelassen. Ein kaiserliches Manifest vom 11. Mai 1903 machte Andeutungen über religiöse Toleranz, Erweiterung der Selbstverwaltung, Erleichterung der Lage der Bauern. Dadurch stiegen die Ansprüche der Opposition. Die sozialdemokratische Bewegung breitete sich aus. Entrüstung rief die Einziehung des armenisch-gregorianischen Kirchenvermögens 24. Juli 1903 im Kaukasus hervor. Am 27. Okt. wurde der Gouverneur des Kaukasus, Fürst Golizyn, verwundet; es bildete sich im November ein revolutionäres armenisches Komitee. Am 29. Aug. war Witte zum Präsidenten des Ministerkomitees ernannt worden; als Finanzminister folgte ihm Pleske. Der Minister des Innern, v. Plehwe, vertrat den absolutistischen und bureaukratischen Standpunkt gegenüber den Freiheitsbestrebungen der Massen. Auch hierdurch wurde die Opposition verstärkt.

Das Kriegs Jahr 1904/05.

Während immer deutlicher die Revolution sich vorbereitete, wurde Rußland durch einen Krieg mit Japan überrascht (über die Ursachen des Krieges und seinen Verlauf vgl. den besondern Artikel »Russisch-japanischer Krieg« mit Karte »Länder des Gelben Meeres«). Infolge der entscheidenden Niederlage bei Tsushima (28. Mai 1905) erhielt der Generaladmiral Großfürst Alexei Alexandrowitsch den Abschied, bald darauf auch der Verweser des Marineministeriums, Admiral Avellan; Admiral Birileff, seit Herbst 1904 Höchstkommandierender der Ostseeflotte, wurde 12. Juli 1905 Marineminister. Gleichzeitig wurde ein Landesverteidigungsrat unter dem Vorsitz des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch eingesetzt. Am 8. Aug. begannen die Friedensverhandlungen zu Portsmouth in New Hampshire (Nordamerika); 5. Sept. wurde der Friede unterzeichnet (über die Bedingungen vgl. ebenfalls den Artikel »Russisch-japanischer Krieg«, S. 330). Dieser für die Besiegten glimpfliche Vertrag war teils durch die diplomatische Kunst der russischen Unterhändler Witte und Baron Rosen, teils durch den Druck, den Nordamerika auf Japan ausübte, zustande gekommen. Japan wurde seit dem Frieden als Großmacht an erkannt; England schloß 25. Aug. mit dem Mikado ein noch engeres Bündnis ab, als das am 30. Jan. 1902 vereinbarte war.

Rußland hätte sich nun innern Reformen zuwenden können, wenn nicht die regierungsfeindlichen Parteien es verhindert hätten. In Finnland wurde der Generalgouverneur Bobrikow durch den Senatsbeamten Schaumann 16. Juni 1904, im Kaukasus der Vizegouverneur Andrejew von Jelissawetpol 18. Juli,[325] in Petersburg Minister v. Plehwe durch einen Anarchisten 28. Juli ermordet. Wenig Eindruck machten die Geburt des Thronfolgers Alexei 12. Aug. 1904 und der Erlaß eines Gnadenmanifestes 24. Aug. über die Aufhebung der Körperstrafe und bedeutende Steuererlasse, wie die Stiftung für die Kinder verwundeter und gefallener Militärs 27. Aug. Neue Demonstrationen gegen den Absolutismus begannen, so 29. Aug. in Riga. Viel Anteil an der Bewegung nahmen die Juden, deren Aufenthaltsrecht durch Erlaß vom 4. Sept. erweitert wurde. Entgegenkommen gegenüber den liberalen Forderungen bewies die Ernennung des Fürsten Swjatopolk-Mirski zum Minister des Innern (8. Sept.). Trotzdem verstärkten sich die Unruhen bei der Einberufung der Reservisten zum Kriege. Umzüge der Studenten, die freie Institutionen forderten, wurden durch Kosaken unterdrückt. Im Dezember heischten Versammlungen verschiedener Berufe eine Verfassung; die Semstwo von Kaluga schloß sich an. Während noch 15. Dez. der Minister des Innern diese Forderungen zurückwies, verkündete ein kaiserlicher Erlaß vom 26. Dez. Maßnahmen zur Erweiterung der Rechte der Bauernschaft, der Selbstverwaltungsorgane, zur staatlichen Versicherung der Arbeiter, zur kirchlichen Duldung. Am 28. Dez. verlangte die Intelligenz von Petersburg eine Verfassung und protestierte gegen den japanischen Krieg.

Im J. 1905 wuchs die Opposition zur Revolution an. Bildung und Industrie stellten gemäßigte, aber sehr entschiedene Forderungen. Am 6. Juni beschlossen die in Moskau versammelten Stadthäupter und Semstwomitglieder eine Adresse, die der Zar 20. Juni aus den Händen des Moskauer Professors Fürsten Trubetzkoi empfing, der unter Anklage des Umsturzes stand. Am 19. Juli 1905 trat in Moskau ein Kongreß der Vertreter der Semstwos der verschiedenen Gouvernements zusammen, tagte bis Anfang Dezember und stellte allgemeine Grundsätze auf, nach denen die Volksvertretung bei der Beratung und Beschlußfassung einer neuen Verfassung sich zu richten hätte. Und als 19. Aug. ein kaiserlicher Erlaß nach dem Entwurf des Ministers des Innern Bulygin eine nur beratende Volksvertretung in Aussicht stellte, verlangte der Kongreß das Beschlußrecht einer gesetzgebenden Versammlung und allgemeine Wahlen.

Während dieser Demonstrationen geriet auch die Arbeiterbevölkerung in Bewegung. Noch 17. Jan. 1905 wurden von streikenden Arbeitern nur ökonomische Forderungen aufgestellt; auch der Priester Gapon, der sich an die Spitze der Streikenden stellte, schrieb dem Zaren 20. Jan., daß das Volk den Zaren nicht angreifen wolle. Es schlossen sich indessen über 100,000 Arbeiter zusammen zu einer Petition um Menschenrechte und Abschaffung der Beamtenwillkür. Als 22. Jan. Tausende von Arbeitern, denen sich auch Studenten zugesellten, unbewaffnet vor dem Winterpalais erschienen, nahm der Zar die Petition nicht entgegen; da das Volk, aufgefordert, den Platz zu räumen, dies nicht tat, kam es zu einem blutigen Kampf. Infolgedessen entband Gapon in einem Brief an das Militär die Untertanen vom Gehorsam gegen den Zaren, den er für nicht mehr vorhanden erklärte. Die Regierung ernannte den energischen ehemaligen Polizeimeister von Moskau, General Trepow, zum Generalgouverneur von Petersburg mit großen Vollmachten. Nun begannen allenthalben im Reich Aufstände: 24. Jan. in Kowno, in Moskau, 26. in Riga, Libau und Dorpat, wobei es zu blutigen Zusammenstößen mit dem Militär kam, so auch 30. Jan. in Warschau. Am 1. und 3. Febr. empfing der Kaiser Arbeiterdeputationen, die er zur Geduld ermahnte. Am 9. Febr. begannen Straßenkämpfe in Sosnowize, Lodz, Skarzysko. Die Eisenbahnbeamten schlossen sich zuerst auf der Südwestbahn, 24. Febr. auch in Moskau und Kasan dem Streik an. Am 4. März rief Gapon zur Revolution auf; die ländlichen Arbeiter erzwangen in Livland höhere Löhne. Am 1. Mai wurden viele in neuen Straßenkämpfen getötet, so in Warschau, 2. Juni in Petersburg, 18. und 26. Juni in Lodz, 29. Juni in Odessa, 24. Juli in Nishnij Nowgorod, 2. Aug. in Noworossisk, im August in mehreren Städten Polens, 24. Aug. in Warschau. Im Oktober streikten die Eisenbahner in Moskau; 20. Okt. wurde der Verkehr Rußlands mit dem Auslande gänzlich eingestellt, 30. Okt. streikten die Telegraphisten. Am 19. Jan. 1905 trafen bei dem Fest der Wasserweihe unter den Salutschüssen einige scharfe das Winterpalais »versehentlich«; 24. Jan. zerstörten Matrosen das Marinedepot in Sebastopol, 27. Juni meuterten die Mannschaften des Knjäs Potemkin und eines Torpedoboots vor Odessa. Am 29. Juni wurden 6 Kompanien Marinesoldaten in Libau mit Mühe von den Landtruppen überwältigt. Am 30. Juni meuterten die Matrosen in Kronstadt, 15. Juli die Truppen in Lodz, 10. Nov. in Kronstadt, 14. in Wladiwostok; erst 30. Nov. gelang die Niederwerfung der Meuterer in Sebastopol.

Wenig halfen die Proklamationen des Zaren vom 3. März 1905, wo eine Mitwirkung aller Gutgesinnten zu Unterdrückung der äußern und innern Feinde erbeten und eine Vervollkommnung der Staatsordnung in Aussicht gestellt wurde, und vom 30. (17.) Okt., in der eine Verfassung versprochen, Sicherheit der Person, Freiheit der Presse, des Wortes, der Versammlungen zugesichert, das allgemeine Wahlrecht in Aussicht gestellt wurde. Die Volksvertretung, die Reichsduma, erhielt den Charakter einer gesetzgebenden Versammlung. Pobjedonoszew nahm 1. Nov. seinen Abschied (starb 23. März 1907). Die Anhänger des Absolutismus wagten sich nur wenig an die Öffentlichkeit. Größer war die Partei der Reformfreunde in den verschiedensten Abstufungen. Selbst in den Kreisen der Geistlichen zeigten sich freiheitliche Bestrebungen. Am 12. April wies der Zar die Einberufung einer Synode (Ssobor) zurück, genehmigte aber 29. April, daß der Abfall von der Staatskirche nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden sollte. Es traten infolgedessen Tausende aus der Staatskirche aus, besonders in den Ostseeprovinzen und in Polen.

Dabei wurden die Zustände in Stadt und Land immer schlimmer. Die Universitäten und Schulen waren fast alle geschlossen. Sozialdemokraten und Anarchisten wühlten das Volk auf. In den Ostseeprovinzen erhoben sich Banden von Verbrechern, welche die deutschen Pastoren und Gutsbesitzer mißhandelten, töteten und beraubten. Viele flohen ins Ausland. Am 17. Febr. wurde vom Anarchisten Katajew der Großfürst Sergei Alexandrowitsch durch eine Sprengbombe vor dem Kreml ermordet.

Am 1. Nov. wurde statt des bisherigen Ministeriums ein Ministerrat eingesetzt, wonach die einzelnen Minister sich einem Präsidenten unterzuordnen haben, dem dann alle Berichte und Maßnahmen der Ressorts vorgelegt werden müssen, ehe sie an den Kaiser gehen. Am 6. Nov. wurde Graf Witte zum Präsidenten des Ministerrats ernannt und P. N. Durnowo zum Minister des Innern. Am 26. Dez. erschien ein kaiserlicher Erlaß, der weitgehende Konzessionen in[326] betreff des Wahlrechts zur künftigen Reichsduma gewährte. Die Wahlen, die zum April 1906 ausgeschrieben wurden, fielen so demokratisch aus, daß Witte entlassen wurde, obgleich er noch Ende April eine Milliardenanleihe in Paris zustande gebracht hatte. Am 8. Mai folgte ein neues Ministerium unter der Präsidentschaft Goremykins. Am 10. Mai versammelte sich die erste russische Volksvertretung im Taurischen Palais. Die gemäßigt demokratische Partei der »Kadetten« (von K. D., konstitutionell-demokratisch) hatte scheinbar das Übergewicht. Am 12. Mai wurde der reorganisierte Reichsrat eröffnet. Die Duma richtete an den Zaren eine Adresse, deren Anforderungen für Erweiterung der Volksfreiheiten so radikal lauteten, daß jener die Annahme verweigerte. Die Partei der Volksfreiheit, zu deren linkem Flügel die Sozialdemokraten gehörten, forderte dann vollste Amnestie und Verteilung aller Domänen wie des privaten Landeigentums an die Bauern. Endlich wurde von der radikalen Minderheit ein Ausruf an das Volk beschlossen, der in scharfer Form die Haltung der Regierung in der Agrarfrage geißelte. Da entschloß sich 21. Juli der Zar, die Duma aufzulösen und den Minister des Innern, Stolypin, zum Ministerpräsidenten zu ernennen. Ein Teil der Abgeordneten ging nach Wiborg, von wo sie durch die Drohung, daß über den östlichen Teil von Finnland der Kriegszustand erklärt werden würde, gezwungen wurden, zurückzukehren. Die nächste Duma trat 5. März 1907 zusammen.

Literatur.

[Allgemeine Geschichtswerke.] Karamsin, Geschichte des russischen Reichs (deutsch, Leipz. 1820–1833, 11 Bde.); Ustrjalow, Geschichte Rußlands (deutsch, Stuttg. 1839–43, 5 Tle.); Strahl und Herrmann, Geschichte des russischen Staats (Hamb. u. Gotha 1832–66, 7 Bde.); Solowjew, Geschichte Rußlands (Mosk. 1851–80, 29 Bde., bis 1774 reichend); Bestushew-Rjumin, Geschichte Rußlands (deutsch von Schiemann, Mitau 1873, Bd. 1) und Quellen und Literatur zur russischen Geschichte (deutsch, das. 1876); Schiemann, Rußland, Polen und Livland bis ins 17. Jahrhundert (Berl. 1884–89, 2 Bde.), Die Ermordung Pauls und die Thronbesteigung Nikolaus' I. (das. 1902) und weitere Werke Schiemanns (s. d.); Ilowaisky, Kurzgefaßte Geschichte des russischen Reichs (deutsch, 2. Aufl., Reval 1881); Rambaud, Histoire de la Russie (Par. 1878; deutsch, Berl. 1886); A. Bruckner, Geschichte Rußlands bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (Gotha 1896, Bd. 1); Kostomarow, Geschichte Rußlands in Biographien (deutsch von Henckel, nur Bd. 1, Leipz. 1886, Die Herrschaft des Hauses Wladimirs des Heiligen, 10.–16. Jahrh.); Kljutschewsky, Kursus russischer Geschichte (russ., Bd. 1, Mosk. 1904); Milkowicz im 5. Bd. von Helmolts »Weltgeschichte« (Leipz. 1905); Morfill, Russia (in dem Sammelwerk »Story of the nations«, 5. Aufl. 1904) und History of Russia from birth of Peter the Great to death of Alexander II. (Lond. 1905).

[Werke über einzelne Perioden] v. d. Brüggen, Wie Rußland europäisch wurde (Berl. 1885); Kojalowitsch, Geschichte der russischen Selbsterkenntnis (Petersb. 1884); Brückner, Beiträge zur Kulturgeschichte Rußlands im 17. Jahrhundert (Leipz. 1887) und Die Europäisierung Rußlands (Gotha 1888); Kowalewsky, Russian political institutions (Chicago 1902); Marquart, Osteuropäische und ostasiatische Streifzüge (Leipz. 1903, zur Geschichte des 9. und 10. Jahrhunderts); R. N. Bain, The first Romanows 1613–1725 (Lond. 1905); M. J. v. Crusenstolpe, Der russische Hof von Peter I. bis auf Nikolaus I. (Hamb. 1855–59, 9 Bde.); Sugenheim, Rußlands Einfluß auf unsre Beziehungen zu Deutschland von Peter I. bis zum Tode Nikolaus' I. (Frankf. 1856, 2 Bde.); Ungermann, Der russisch-türkische Krieg 1768–1774 (Wien 1906); v. Bernhardi, Geschichte Rußlands und der europäischen Politik in den Jahren 1814–1831 (Leipz. 1863–77, 3 Bde.); Schmeidler, Das russische Reich unter Kaiser Alexander II. (Berl. 1878); (J. Eckardt) Von Nikolaus I. zu Alexander III. (2. Aufl., Leipz. 1881); Pypin, Die russische Gesellschaft unter Alexander I. (deutsch, Berl. 1894); Dalton, Beiträge zur Geschichte der evangelischen Kirche in Rußland (Bd. 1 u. 2, Gotha 1887–88; Bd. 3 u. 4, Berl. 1898 bis 1905); Beitzke, Geschichte des russischen Kriegs im Jahr 1812 (2. Aufl., Berl. 1862); v. Pfuel, Der Rückzug der Franzosen aus Rußland (das. 1867); v. d. Osten-Sacken, Der Feldzug von 1812 (das. 1901); Fabry, Campagne de Russie, 1812 (Par. 1902–04, 5 Bde.); Jos. Steinmüllers »Tagebuch über seine Teilnahme am russischen Feldzug«, herausgegeben von K. Wild (Heidelb. 1904); Herzen, Die russische Verschwörung und der Aufstand vom 14. Dez. 1825 (Hamb. 1858); Fürst Wolkonski, Memoiren des Dekabristen S. G. Wolkonski (Petersb. 1901); Custine, Rußland im Jahr 1839 (deutsch, 3. Aufl., Leipz. 1847, 4 Bde.); Petrow, Der russische Donaufeldzug im Jahre 1853/54 (deutsch, Berl. 1891); über den Krimkrieg und den Feldzug nach Chiwa s. die betreffenden Artikel; Bodenstedt, Die Völker des Kaukasus und ihre Freiheitskämpfe gegen die Russen (2. Aufl., Berl. 1855, 2 Bde.). Über den letzten Türkenkrieg: Greene, The Russian army and its campaigns in Turkey 1877–1878 (Lond. 1879); Springer, Der russisch-türkische Krieg 1877–1878 in Europa (Wien 1891–93, 7 Bde.); Kuropatkin, Kritische Rückblicke auf den russisch-türkischen Krieg (übersetzt von Krahmer, Berl. 1885–90, 3 Bde.); v. Trotha, Von der Donau bis Plewna (das. 1903); v. Jagwitz, Von Plewna bis Adrianopel (das. 1880); »Geschichte des russisch-türkischen Krieges«, herausgegeben von der kaiserlich russischen kriegsgeschichtlichen Kommission des Hauptstabes (deutsche Bearbeitung von Krahmer, das. 1902; auch von Grzesicki und Wiedstruck, Wien 1902–06, 3 Bde.); de Wardes, La guerre russo-turque (Par. 1903); Clément, Campagne turco-russe de 1877–1878 (das. 1906); ferner v. Samson-Himmelstjerna (V. Frank), Rußland unter Alexander III. (Leipz. 1891); Skrine, The expansion of Russia 1815–1900 (Cambridge 1903); über den Russisch-japanischen Krieg s. d. (S. 330) und den Artikel »Mandschurei«; ferner: Krahmer, Die Beziehungen Rußlands zu Japan (Leipz. 1904). Über die Krisis im Innern vgl. Thun, Geschichte der revolutionären Bewegungen in Rußland (Leipz. 1883); E. Bauer, Aus den Tagen der Nihilistengefahr (das. 1897); Nacht, Die revolutionäre Bewegung in Rußland (Berl. 1902); »Russen über Rußland«, Sammelwerk (hrsg. von J. Melnik, Frankf. a. M. 1906); Nikolai Michailowitsch, Russische Porträts des 18. und 19. Jahrh. (russ.u. franz., Petersb. 1905 ff.); v. Reusner, Die russischen Kämpfe um Recht und Freiheit (Halle 1905); Prugawin, Die Inquisition der russisch-orthodoxen Kirche (deutsch, Berl. 1905); Zilliacus, Das revolutionäre Rußland (a. d. Schwed., Frankf. 1905); v. Lignitz, Rußlands innere Krisis (Berl.[327] 1906); Martin, Die Zukunft Rußlands (Leipz. 1906); Basilewski, Staatsverbrechen in Rußland, 1825–87 (russ., Stuttg. u. Par. 1903–05, 3 Bde.; deutsch bearbeitet in: »Die gesellschaftliche Bewegung unter Alexander II.«, Par. 1905).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 17. Leipzig 1909, S. 289-328.
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