Hafer

[605] Hafer (Avēna L.), Gattung der Gramineen, ein- oder mehrjährige Gräser mit zwei- bis sechsblütigen Grasährchen in Rispen; die Hüllspelzen sind häutig, ungleich, die Deckspelzen auf dem Rücken gerundet, oft zweizähnig, die Rückengranne ist gekniet, unten gedreht (bei Kulturformen bisweilen fehlend oder gerade). Über 50 Arten in den gemäßigten Zonen der Alten, spärlich in der Neuen Welt. Der ausdauernde weichhaarige Wiesenhafer (Rainhafer, Avena pubescens L., s. Tafel »Gräser II«, Fig. 5), 60 cm hoch, mit 1,3 cm langen Grasährchen, dichtbehaarten untern Blattscheiden und Blättern, wächst auf trocknem, aber nicht dürrem, sonnigem Land und auf bessern Wiesen und ist ein gutes Futtergras; der ausdauernde Trifthafer (Berghafer, A. pratensis L., Fig. 3), 30 bis 60 cm hoch, mit reichblütigern Grasährchen und kahlen Blattscheiden, bildet kleine Stöcke mit breiten, kurzen Wurzelblättern, wächst auf Kalk- und Sandmergel, an dürren Rändern und auf Triften, gibt keine reiche, aber sehr gute, nahrhafte Weide und eignet sich mit Klee zur Besäung von Triften. Mehrere andre Arten (Wildhafer) sind einjährige Ackerunkräuter. A. elatior (französisches Raigras), s. Arrhenaterum; A. flavescens (Goldhafer), s. Trisetum. Der gemeine Saathafer (Rispenhafer, A. sativa L, s. Tafel »Getreide II«, Fig. 1 u. 2) hat eine nach allen Seiten hin ausgebreitete Rispe mit zwei, drei, auch vier fruchtbaren Blüten in den Grasährchen. Die Granne der Deckspelze ist gerade oder fehlt, die Fruchtspelzen fallen nicht aus. Stammt vielleicht vom Flughafer (A. fatua L.), dessen Grannen gekniet sind, und dessen Fruchtspelzen ausfallen, oder von einer ähnlichen Art, deren es in Südeuropa und Westasien mehrere gibt. Der H. geht unter den Getreidearten im regelmäßigen Anbau am weitesten nördlich (in Norwegen bis 69,5° nördl. Br.), braucht aber eine längere Vegetationszeit als die kleine Gerste (16–22 Wochen). Er ist widerstandsfähiger gegen die Witterung als andre Halmfrüchte und kann sich vermöge seiner starken Wurzeln, die sich nicht wie die der Gerste dicht und büschelartig verbreiten, auch auf geringerm Boden entwickeln und ebenso in noch nicht kultiviertem Land. Man unterscheidet zwei Hauptrassen: Rispenhafer mit ausgebreiteter, und Fahnenhafer (Stangen-, Trauben-, Kamm-, türkischer H., A. sativa orientalis Schreb., s. Tafel »Getreide II«, Fig. 1) mit zusammengezogener, einseitswendiger Rispe. Jede derselben zerfällt in beschalte und nacktfrüchtige Varietäten, die erstern nach der Farbe der Fruchtspelzen in weiße, gelbe, graue, braune und schwarze. Bei dem Nackthafer (Avena orientalis gymnocarpa Kcke., s. Tafel »Getreide II«, Fig. 3) ist die Ährchenachse verlängert und trägt 4–6, die Hüllspelzen bedeutend überragende Blüten. Die Deckspelzen sind dünnhäutig und lassen die Frucht ausfallen. Der Rispenhafer (A. sativa patula) nimmt in seinen gestrecktkörnigen, gelben Formen mit leichterm Boden vorlieb (z. B. Goldhafer), für üppigen Boden sind die gedrungenen, weißkörnigen Arten (Eichelhafer) geeigneter; die begrannten Sorten findet man in dürren und in hohen Lagen vorherrschend. Der Fahnenhafer verträgt Frühlingsfröste besser als der gemeine, bestockt sich mehr, lagert sich nicht leicht, gibt aber nur in sehr guten Lagen bessere Erträge als der Rispenhafer, braucht 1–2 Wochen länger zur Reise, drischt sich schwerer, und sein Korn ist meist weniger wertvoll wegen der stärkern Spelze. Der große, nackte H. (A. sativa nuda Al.) gibt selbst auf reichem Land schlechte Erträge; seine durch Pressen aus den Spelzen entfernten Körner werden zur Grütze verwendet, wie der ebenfalls sehr selten und fast nur in Österreich gebaute kleine, nackte H. (A. sativa nuda L.). Letzterer ist vorzüglich zu Gemengsaaten geeignet und gibt leidliche Erträge. Der chinesische Nackthafer (A. sativa chinensis Fisch.) wird in China ausschließlich, in neuerer Zeit auch in Nordamerika angebaut, hat aber für Deutschland keine wirtschaftliche Bedeutung. Der Rauhhafer (A. strigosa Schreb.) und der Kurzhafer (A. brevis Roth) unterscheiden sich von A. sativa durch die gestielte untere Blüte und die meist zweigrannigen Ährchen. Die Früchte sind kürzer und breiter. Beide Arten werden nur noch wenig gebaut, erstere hin und wieder noch in Spanien, Portugal, auf den Orkney- und Shetlandinseln, in Mecklenburg, Holstein etc.

Tabelle

Die eiweißartigen Stoffe des Hafers bestehen vorzugsweise aus Pflanzenkaseïn von der Zusammensetzung und den Eigenschaften des Legumins, jedoch mit dem Schwefelgehalt und den Löslichkeitsverhältnissen des Glutenkaseïns. Infolge dieses hohen Gehalts an Kaseïn erscheint der H. den Hülsenfrüchten sehr ähnlich. In geringer Menge enthält er außerdem sehr schwefelreichen Pflanzenleim (Gliadin). Die Asche enthält vorwiegend Kieselsäure, Phosphorsäure, Kali und Magnesia. Übrigens schwankt die quantitative Zusammensetzung nach Art, Varietät, Bodenbeschaffenheit und Klima. – Der H., dessen ursprüngliches Vaterland man nicht mehr kennt, obwohl das Donaugebiet dafür gelten mag, kann füglich als die ursprüngliche europäische Brotfrucht angesehen werden. Kelten und Germanen kultivierten ihn schon vor 2000[605] Jahren, und er scheint sich von da aus in den gemäßigten und kalten Erdstrichen aller Weltteile verbreitet zu haben. Ägyptern, Hebräern, Griechen und Römern war er nicht bekannt. Mit der Einführung nahrhafterer und besserer Zerealien wurde er immer mehr auf magern Boden und in unwirtliche Gegenden zurückgedrängt. In Norwegen ist H. das Hauptgetreide und wird teils als Grütze, teils als flache Kuchen (Fladbröte) genossen. Ebenso in Schottland, Irland, auf den Orkney- und Shetlandinseln. Im übrigen Europa und in Nordamerika wird er hauptsächlich als Pferdefutter kultiviert, auch bereitet man Hafergrütze und in Belgien gewisse Weißbiersorten aus H. Haferschleim, aus Grütze gekocht, dient als reizmilderndes Getränk. Hafergrütze wird zu erweichenden Umschlägen benutzt. Außerdem wird H. als Grünfutter gebaut. Feinde des Hafers sind Brand- und Rostpilze, das Stockälchen, die Fritfliege, die Zwergzikade und der schwarze Kornwurm. Vgl. die Karten »Landwirtschaft in Deutschland« (bei Artikel »Deutschland«) und »Landwirtschaft in Österreich« (bei Artikel »Österreich«) sowie die Artikel »Getreidebau, Futter und Fütterung«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 8. Leipzig 1907, S. 605-606.
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