Analphabēten

[473] Analphabēten (griech.), die des Lesens und Schreibens unkundigen Personen, deren Zahl, verglichen mit der Gesamtbevölkerung eines Landes, bezeichnend für den Kulturzustand des Volkes ist. Mit der Ermittelung der betreffenden Zahlen hat man sich erst in den modernen Kulturstaaten und auch in diesen noch nicht lange sorgfältiger beschäftigt. Geringe Zuverlässigkeit haben die Angaben über die Zahl der A. in Ländern außerhalb der europäischen Kultursphäre. In den Kulturstaaten Europas und Amerikas und deren Kolonien hat mit Verbesserung des Schulwesens, Einführung des obligatorischen Schulbesuches und Vermehrung gemeinnütziger Anstalten für Volksbildung die Zahl der A. mehr und mehr abgenommen. Für die Schätzung der Zahl der A. gibt es verschiedene annähernd zutreffende Anhaltspunkte. Solche sind in Ländern mit allgemeiner Militärpflicht oder doch Konskription (Deutschland, Frankreich, Österreich-Ungarn, Italien, Dänemark, Schweden, Belgien, Niederlande, Schweiz) der Nachweis über den Bildungsgrad der Militärpflichtigen, in andern Staaten (Großbritannien und Irland, Australien) die Kenntnis des Schreibens bei Heiratenden; endlich die allgemeinen Volkszählungen. Daß alle diese Anhaltspunkte jedoch keine ganz sichere und namentlich keine unbedingt vergleichbare Zahlen ergeben können, liegt auf der Hand. Als typisch können folgende Prozentsätze von A. gelten. In Preußen zählte man 1871 (spätere Zählungen liegen nicht vor) unter der Bevölkerung von 10 und mehr Jahren 12 Proz. A. (9,5 männliche, 14,7 weibliche). Das Verhältnis hat sich seitdem zweifellos sehr verbessert. Nordamerika (Vereinigte Staaten) 1890 unter der Bevölkerung über 10 Jahren: Weiße 7,7, Neger 56,8; Kanada 1890 über 6 Jahren: 13,3; Irland 1891 über 10 Jahren: 23,7; Belgien 1890 über 6 Jahren: 28,1; Finnland über 14 Jahren: 2,1; Italien 1881 über 7 Jahren: 61,9; Spanien 1887 über 7 Jahren: 51,2; Portugal in der gesamten Bevölkerung 1890: 79,9; Serbien 1890 über 7 Jahren. 85,8. Große Verschiedenheiten zeigte die Bevölkerung Österreich-Ungarns 1890. In Österreich (Reichsrat) über 6 Jahren: 29,5 Proz. (wo aber Deutsche und Tschechen weit günstiger, die übrigen Slawen und Italiener ebensoviel ungünstigerstehen); Ungarn, gleiche Altersklasse: 42,5; Kroatien, desgleichen: 66,4. Von den Eheschließenden vermochten den Heiratskontrakt nicht zu unterschreiben auf 100:

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Wie hieraus ersichtlich, stehen die Männer in der Schulbildung durchschnittlich höher als die Frauen. Die Zahl der männlichen erwachsenen A. wird in vielen Staaten bei der Aushebung zum stehenden Heere festgestellt. Es waren unter je 100 Rekruten A. in:

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Auf die einzelnen Provinzen des Preußischen Staates verteilen sich die A. ziemlich ungleich; doch ist die Ungleichheit längst nicht mehr so auffallend wie vor 30 Jahren. Es gab A. unter 100 Dienstpflichtigen in:

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Wenn bei einzelnen Staaten die Ziffer der A. noch auffällig hoch erscheint, so mag daran erinnert werden, daß 1866 und 1867 die Zahl der A. unter 100 Konskribierten in Frankreich noch 24, in Belgien 26, in Italien 64, in Österreich 66, in Ungarn gar 78 betrug. Auch sind oft die einzelnen Landesteile in dieser Hinsicht sehr verschieden. Wie in Deutschland früher die östlichen preußischen Provinzen, so treiben im cisleithanischen Österreich noch immer Kärnten und Krain, namentlich aber Istrien, Galizien, Dalmatien und Bukowina mit starken Prozentsätzen von A. den Gesamtdurchschnitt unverhältnismäßig in die Höhe. Auch in der Schweiz, wo bei der Aushebung eingehende Erhebungen über den Bildungsstand der Rekruten stattfinden, ist dieser in den einzelnen Kantonen sehr verschieden. Vgl. Petersilie, Artikel A. im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«, 2. Aufl., Bd. 1 (Jena 1898); »Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich«, 1901 (Berl.); »Zeitschrift des preußischen Statistischen Bureaus«, 1901.

Was die gemeinrechtliche Stellung der A. betrifft, so bestand für sie die Vorschrift, daß sie bei der Errichtung eines Privattestaments außer den vorschriftsmäßigen sieben Testamentszeugen noch eine achte Person als subscriptor (zum Unterschreiben) hinzuziehen mußten, während sie nach preußischem Landrecht nur mündlich zu Protokoll testieren konnten. Die Unterschrift eines A. bei einer Behörde wird durch ein Handzeichen, meistens drei Kreuze, ersetzt, das von dem betreffenden Beamten beglaubigt werden muß. Nach § 2238 des Bürgerlichen Gesetzbuchs können A. ein Testament nur durch mündliche Erklärung vor einem Richter oder Notar errichten, es sei denn, daß die Bedingungen eines Dorftestaments oder eines Testaments am abgesperrten Orte vorliegen (s. Testament). Ihre Unterschrift unter dem über die Errichtung des Testaments zu errichtenden Protokoll wird durch die in dieses aufzunehmende Feststellung ersetzt, daß sie nicht schreiben könne (Bürgerliches Gesetzbuch, § 2242). Vgl. auch Handzeichen.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 473.
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