Thermochemie

[476] Thermochemie (griech.), die Lehre von den durch chemische Prozesse bedingten Wärmeerscheinungen. Der Wärmezustand eines Körpers ist abhängig von der Art der Bewegung seiner Moleküle. Je schneller sich diese bewegen, je größer ihre lebendige Kraft ist, um so wärmer erscheint uns der Körper. Mithin muß, wenn durch äußere Einwirkung oder innere Veränderung die Bewegung der Moleküle in einem beliebigen Massensystem geändert wird, auch der Wärmezustand dieses Systems eine Veränderung erleiden. Wenn sich zwei isolierte Gasatome, die sich vollkommen unabhängig voneinander bewegen, zu einem Molekül vereinen, so werden die früher frei beweglichen Atome durch die chemische Verbindung gezwungen, sich innerhalb bestimmter Grenzen zu bewegen. Der scheinbare Wärmeinhalt des Systems wird also nach der Vereinigung der beiden Atome ein geringerer sein, es wird während der Vereinigung Wärme (Bildungswärme) nach außen abgegeben. Mithin wird bei der chemischen Vereinigung zweier Atome stets Wärme frei (exothermische Reaktion). Zur Trennung der chemisch vereinten Atome ist die Anziehungskraft zu überwinden, welche die Atome zwingt, sich innerhalb bestimmter Grenzen zu bewegen; den Atomen ist eine so lebhafte Bewegung mitzuteilen, daß sie sich voneinander losreißen, sich unabhängig voneinander bewegen können. Es muß also bei der Zersetzung einer chemischen Verbindung Wärme von außen zugeführt werden, es wird Wärme gebunden (endothermische Reaktion) und zwar genau so viel, wie bei der Entstehung der betreffenden Verbindung frei geworden war. Da nun aber bei der Entstehung einer chemischen Verbindung um so mehr Wärme frei wird, je größer die durch die Affinität zerstörten oder richtiger in Wärme verwandelten Bewegungsgrößen der Elementaratome oder nähern Bestandteile der fraglichen Verbindung waren, so gibt die frei werdende Wärmemenge ein relatives Maß der bei der Entstehung der fraglichen Verbindung sich betätigenden Verwandtschaftskräfte ab, vorausgesetzt, daß nicht anderweitige physikalische oder chemische Vorgänge, die sich neben der eigentlichen Reaktion abspielen, von Wärmeerscheinungen begleitet sind. Wenn bei der Vereinigung von Wasserstoff und Chlor zu gasförmigem Chlorwasserstoff im Kal. entwickelt werden, so ist diese Wärmeentwickelung nicht durch die bei der Vereinigung der beiden Gase in Frage kommende Affinität allein bedingt, sondern es kommen noch andre Faktoren in Betracht. Der Prozeß ist nicht: H+Cl = HCl, sondern: H2+Cl2 = 2HCl, d. h. es müssen erst die Wasserstoff- und die Chlormoleküle in die diskreten Atome zerlegt werden, ehe die letztern sich zu Chlorwasserstoff vereinigen können. Die oben angeführte Wärmetönung gibt also die Bildungswärme des Chlorwasserstoffs, vermindert um die Zersetzungswärme der Wasserstoff- und der Chlormoleküle. Die thermochemischen Daten haben aber hohen Wert als relatives Maß der bei einem chemischen Prozeß zum Ausgleich kommenden Affinitäten. Man darf eben nur auf solche Prozesse bezügliche Zahlen direkt miteinander vergleichen, die analog verlaufen und Produkte von analoger Konstitution liefern, so daß man eine annähernde Gleichheit der sekundären Wärmeerscheinungen annehmen kann. Die letztern werden sich dann bei der Differenzierung aufheben. Wenn ein System einfacher oder zusammengesetzter Körper unter bestimmten äußern Umständen und Bedingungen chemische und, wie wir gleich hinzusetzen können, physikalische Veränderungen erleidet, so ist die dabei auftretende Wärmeabsorption oder Emission allein von dem Anfangszustand und dem Endzustand des Systems abhängig und bleibt dieselbe, welches immer die Beschaffenheit und die Aufeinanderfolge der Zwischenzustände sei. Es geht daraus hervor, daß, wenn ein System von zwei verschiedenen Anfangszuständen zu demselben Endzustand oder von ein und demselben Anfangszustand zu zwei verschiedenen Endzuständen übergeführt wird, die Differenz der diesen beiden Prozessen entsprechenden Wärmetönungen diejenige Wärmetönung ergibt, die dem Übergang des Systems aus dem einen Anfangs-, bez. Endzustand in den andern entspricht. Die Affinitätskräfte beruhen auf der Verwandlung von Bewegungsgrößen in Wärme. Jedes bewegte Massensystem strebt aber dem Zustande des stabilen Gleichgewichts zu, und das Gleichgewicht ist am stabilsten, wenn das System den möglichst großen Verlust an lebendiger Kraft erlitten hat. Mithin ist stets die wahrscheinlichste Reaktion, vorausgesetzt, daß nur die Affinitätskräfte den Verlauf derselben bedingen, diejenige, bei der die Atome den größten Verlust an lebendiger Kraft erleiden, bei der also die größte Wärmemenge entwickelt wird. Dies Prinzip der größten Arbeit, das am meisten bestreitbare und auch bestrittene Prinzip. der T., ist nur eine erste Annäherung, die man unter Vernachlässigung aller sekundären Kräfte erhält, und die ihren Wert so lange bewahren kann, als diese Vernachlässigung statthaft ist. Unter dieser Voraussetzung hat das Prinzip für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer Reaktion seinen großen Wert. Ein Problem, an dessen Lösung man oft gezweifelt hat, ist das, was eintritt, wenn man eine Säure auf das Salz einer andern Säure einwirken läßt. Bringt man z. B. Natriumsulfat und Salpetersäure zusammen, so können sich Natriumnitrat und freie Schwefelsäure bilden. Es können aber auch eine Mischung von Natriumnitrat und Natriumsulfat, von freier Salpetersäure und freier Schwefelsäure in der Endlösung anzunehmen sein. Hierüber vermögen chemische Untersuchungsmethoden nicht zu unterscheiden, die T. hat aber vollkommene Sicherheit dafür verschafft, daß die zuletzt erwähnte Teilung in der Lösung vor sich geht. Die T. liefert also nicht allein die Mittel, um die Affinitätskräfte einer genauen relativen Messung zu unterziehen, sie gibt zugleich Ausschluß über die Wirkungen dieser Kräfte in Fällen, wo rein chemische Methoden versagen. Sie gibt die Handhabe, um über die Möglichkeit, in vielen Fällen sogar über die Wahrscheinlichkeit des Verlaufs eines chemischen Prozesses von vornherein zu entscheiden, und eröffnet der theoretischen chemischen Forschung dadurch ganz neue Bahnen. Vgl. Thomsen, Thermochemische Untersuchungen (Leipz. 1882–86, 4 Bde.) und Systematische Durchführung thermochemischer Untersuchungen (deutsch von Traube, Stuttg. 1906); Naumann, Lehr- und Handbuch der T. (Braunschw. 1882); Jahn, Die Grundsätze der T. (2. Aufl., Wien 1892); Horstmann, Theoretische Chemie einschließlich der T. (Braunschw. 1885); Ditte, Kurzes Lehrbuch der anorganischen Chemie, gegründet auf die T. (deutsch, Berl. 1886); Planck, Grundriß der allgemeinen T. (Bresl. 1893); Berthelot, Praktische Anleitung zur Ausführung thermochemischer Messungen (deutsch, Leipz. 1893) und Thermochimie (Par. 1897,[476] 2 Bde.); van t'Hoff, Vorlesungen über theoretische und physikalische Chemie (Braunschw. 1901); Roozeboom, Die heterogenen Gleichgewichte (das. 1901–1904, 2 Hefte).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 476-477.
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