Tierornament

[544] Tierornament (hierzu die Tafeln »Tierornamente I u. II«). Die Verwendung des Tierkörpers zu ornamentalen Zwecken scheint derjenigen des Pflanzenbildes vorausgegangen zu sein. Einige vorgeschichtliche Funde, z. B. in Frankreich, sind von überraschendem Naturalismus und merkwürdiger Beobachtungsgabe in der Darstellung jagdbarer Tiere. Zum Teil mag dies von dem noch heute bei Jägervölkern herrschenden Aberglauben herrühren, daß man ein Tier leichter zu fangen oder zu erlegen hoffte, wenn man sich zuvor seines Bildes bemächtigen konnte (s. Bildzauber), aber anderseits fesselt die Erscheinung des lebenden Tieres den Naturmenschen (wie die Kinder) ungleich mehr als die ruhende Pflanze. Religiöse Momente (Glauben an Seelenwanderung und Tiervergötterung) kamen hinzu, das T. für Wohnungs- und Tempelausschmückung zu bevorzugen; die Sitte, Schädel der Opfertiere an Tempeln, Altären und Bäumen festzunageln, erzeugte den sogen. Ochsenschädelfries (Tafel I, Fig. 11) und die Dachverzierung mit Pferde- und fälschlich so genannten Gemsenköpfen (Tafel II, Fig. 16 u. 18; vgl. Neidköpfe). Nur wenige Völker, wie die alten Ägypter (Tafel I, Fig. 2, Geier, Symbol der Neith) und aus jüngerer Zeit die Japaner (Tafel II, Fig. 27 u. 28), scheuten dabei vor einer Umbildung der natürlichen Gestalt zurück; schon die Griechen gingen mit starker Stilisierung vor (vgl. den Polypen von Mykenä, Tafel I, Fig. 4), und Doppeladler (Tafel I, Fig. 3) findet man bereits aus der mykenischen Zeit. Aus dem Orient kamen die Fabelwesen: Greifen, Chimären und Pegasus (Tafel I, Fig. 1 u. 5), aus Assyrien und Babylon die Mischformen mit Tierfüßen und Menschenhäuptern etc. In den Seidenstoffen der orientalischen und byzantinischen Kunst ist eine reiche Fülle von Tierornamenten erhalten, die meist paarweise in Kreisen zur Seite des sogen. Lebensbaumes über die Fläche verteilt sind. Die sasanidische Kunst bildet für die Entstehung des Tierornaments die wichtigste Quelle. Den Persern waren viele Tiere heilig, z. B. der Hahn, als Vogel des Lebens. Andre Tiere fanden wohl als eine Art von Wappenzeichen Verwendung, so der Greif und die Ente. Die arabische Kunst trat jenes Erbe an und bildete zuerst die Wappensymbolik aus. Hauptsächlich in den Kreuzzügen kamen derartige Wappentiere nach dem Okzident, besonders nach Frankreich, wo sie in den Zeiten des Ritterwesens eigne Umbildungen erfuhren. Die große Einfuhr orientalischer Seidengewebe und andrer Kostbarkeiten (vgl. die syrische Doppeladlerphiole, Tafel I, Fig. 8) nach dem Abendland, überhaupt die ständige Verbindung beider Länder hatte starken Einfluß auf die Bildungen des romanischen Stils und die seltsame Phantastik seiner Tierornamente (vgl. das romanische Drachenkapitell, Tafel I, Fig. 10). Im Norden Europas, namentlich in Irland, lösten sich alle Tierformen im Flachornament, wie auch in Schnitzerei durch Verlängerung und Verknotung der Füße und Schwänze in ein sogen. Drachengeschlinge (Tafel II, Fig. 21) auf, die Tierformen werden im Ornament fast unkenntlich; das Mittelalter kam in Ausbildung ungeheuerlicher Drachenformen (Tafel II, Fig. 22 u. 25) beinahe dem japanischen und chinesischen Geschmack (Tafel II, Fig. 23 u. 26) nahe, ist auch zum Teil von ihm beeinflußt. Die heraldischen Formen auf Schildern und Wappen drängten zu einer die Felder füllenden Dehnung des Tierleibes und seiner Gliedmaßen, wie z. B. bei den heraldischen Löwen und Adlern (Tafel II, Fig. 24; Tafel I, Fig. 9). Im innern Kirchenschmuck blieben die christlichen Tiere des Physiologus (s. d.): Fisch, Taube, Lamm, Löwe, Rind, Pelikan etc. (Tafel I, Fig. 7; Tafel H, Fig. 15 u. 20), bevorzugt, außen in den Wasserspeiern (Fig. 17) und Dachverzierungen herrschten die teuflischen Formen (Reptilien und Mischformen) vor, zu denen aus späterer Zeit auch der Salamander im Wappen König Franz' I. (Tafel II, Fig. 19) gehört. Die Renaissance kehrte zu edlern Gestaltungen des Tierleibes zurück, während die Barock- und Zopfzeit sich mit Ausnahme der Muschel-, Schnecken- und Delphinformen (Tafel I, Fig. 6, 12, 13 u. 14) sowie der fabelhaften Seetiere für Fontänenanlagen mehr auf das Pflanzenornament zurückzog. In neuerer Zeit ist der Versuch gemacht worden, dem Flächenschmuck auch wirbellose Meerestiere und selbst mikroskopische Formen, die sich ja häufig durch äußerste Zierlichkeit auszeichnen, einzuverleiben. Vgl. Seder, Das Tier in der dekorativen Kunst (nur 1. Serie: Wassertiere, Wien 1896); Sophus Müller, Die Tierornamentik im Norden (deutsche Ausg., Hamb. 1881); Sturm, Tierleben im Ornament (Stuttg. 1895); v. Schubert-Soldern, Das Stilisieren der Tier- und Menschenformen (Leipz. 1892); Salin, Die altgermanische Tierornamentik (Berl. 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 544.
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