Tournai

[647] Tournai (spr. turnä, fläm. Doornijk), Hauptstadt eines Arrondissements und ehemalige Festung in der belg. Provinz Hennegau, an beiden Ufern der Schelde, Knotenpunkt der Eisenbahnen nach Gent, Brüssel, Mons, Valenciennes, Douai und Lille und der Nebenbahnen nach Atte, Templeuve und Péruwelz, hat breite Kais, regelmäßige Straßen, eine schöne Liebfrauenkirche romanischen Stils aus dem 11. Jahrh. mit drei Schiffen und fünf Türmen, Gemälden von Jordaens, Rubens, Gallait u. a. und dem reichen Reliquienschrein des heil. Eleutherius, ersten Bischofs von T., die Kirche St.-Brice (in deren Nähe 1665 das Grab des Frankenkönigs Childerich aufgefunden wurde) und viele andre Kirchen und Kapellen, einen alten, neuhergestellten Belfried und ein Stadthaus mit öffentlichem Garten. Den Marktplatz schmückt das von Dutrieux modellierte Bronzestandbild der Prinzessin Maria von Epinoy (s. unten). Die Bevölkerung zählte 1905: 36,814 Seelen. Die wichtigsten Industriezweige sind: Fabrikation von Teppichen, Wollen- und Baumwollenfäden, Kalk, Fayence und Ziegeln, Strumpfwirkerei, Ausbeutung von Steinbrüchen, Gerberei und Brauerei. Der lebhafte Handel wird durch die schiffbare Schelde begünstigt. T. hat ein geistliches Seminar, Athenäum, Staatsmittelschule für Mädchen, Gewerbeschule, Lehrerinnenseminar, eine Zeichenakademie, öffentliche Bibliothek, eine Gemälde- und eine Altertümersammlung (in der ehemaligen Tuchhalle), ein naturhistorisches Museum, mehrere Krankenhäuser und ein Theater. Es ist Sitz eines Bischofs und eines Tribunals. – T. (zur Römerzeit Civitas Nerviorum oder Turnacum), eine der ältesten Städte Belgiens, wurde im 5. Jahrh. von den Franken teilweise zerstört, bald aber wieder aufgebaut, war bis Chlodwig Residenz der merowingischen Könige, gehörte später zu Flandern und bildete lange eine Art Städterepublik unter französischer Oberhoheit. Im frühen Mittelalter war T. die künstlerische Hauptstadt Belgiens, seit 1146 auch Bischofssitz und im 15. Jahrh. Mittelpunkt einer blühenden Teppichindustrie. 1521 von Karl V. erobert, fiel es 1526 mit seinem Gebiet (Tournaisis) an die spanischen Niederlande, mußte sich 1581 nach tapferer Gegenwehr dem Herzog Alexander Farnese, 1667 den Franzosen ergeben, die durch Umbau die Festungswerke[647] noch verstärken ließen, wurde aber 1709 von den Kaiserlichen unter Marlborough und Prinz Eugen wieder eingenommen. Seit 1714 gehörte es zu den österreichischen Niederlanden; doch hatten die Holländer kraft des Barrieretraktats (s. d.) bis 1781 das Besatzungsrecht. 1745–48 und seit 1794 war es abermals im Besitz der Franzosen, die hier 19. Mai 1794 unter Pichegru die Engländer unter dem Herzog von York schlugen, und fiel 1814 an das Königreich der Niederlande, 1830 an Belgien. Die Befestigungen sind jetzt geschleift. Vgl. Bourla, T.-guide, histoire etc. (Tourn. 1884); Cloquet, T. et Tournaisis (neue Ausg., Brügge 1894); D'Herbomez. Histoire des châtelains de T. de la maison de Mortagne (Tourn. 1895, 2 Bde.); H. Hymans, Gent und T. (Bd. 14 der »Berühmten Kunststätten«, Leipz. 1902).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 647-648.
Lizenz:
Faksimiles:
647 | 648
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika