Volksfeste

[231] Volksfeste, Feierlichkeiten, an denen sich das Volk, wenn auch nur in einzelnen Ständen, Gewerken etc.,[231] selbsttätig beteiligt und ihnen dadurch, gegenüber dem kirchlichen oder obrigkeitlichen Charakter andrer Feste, ein volkstümliches Gepräge verleiht. Die verbreitetsten V. lehnen sich an die periodischen Erscheinungen des Jahreslaufs und Naturlebens an. So gab bei den verschiedensten Völkern der Sonnenlauf, Wechsel der Jahreszeiten, das Ende des Winters und der Anbruch des Frühlings (s. Maifest und Sonnenfestfeuer), Saat, Ernte, Weinlese u. dgl. zu Festen Veranlassung. Mehr auf einzelne Völker, ja auf Teile derselben beschränkt sind die V. oder Nationalfeste zum Andenken an bedeutende geschichtliche Ereignisse, wie der Guy Fawkes' Day in England, das Gedächtnisfest der Schlacht bei Leipzig, die Sedanfeier, das Münchener Oktoberfest, Naumburger Kirschfest, die verschiedenen Konstitutions- und Unabhängigkeitsfeste, ferner die Feste, die aus der Neigung des Volkes zu gewissen Tätigkeiten und Übungen hervorgegangen sind, wie die Kampfspiele der Alten, die Schwingfeste der Schweizer, die Stiergefechte der Spanier, die Wettrennen der Engländer, oder endlich auf gesellschaftlichen Einrichtungen beruhen, wie die Jahrmärkte, die Feste einzelner Zünfte und die aus dem Waffendienst der Bürger sich berschreibenden Vogel- und Scheibenschießen etc. Die Religion äußerte einen um so bedeutendern Einfluß auf die V., je sinnlicher der Charakter der Religion war, je mehr sie das weltliche Leben des Volkes in ihr Gebiet zog, und je mehr sie durch bestimmte Satzungen oder auch durch ihre Geschichte und namentlich durch ihre Mythen Anhaltspunkte für festliche Feier bot. Daher waren vornehmlich die heidnischen Religionen so reich an Volksfesten, und die V. der christlichen Welt, wie Karneval, Georgs-, Walpurgis-, Johannis- und Michaelisfest, setzen im wesentlichen uralte Jahreszeit- und Sonnenfeste fort. Bei mehreren christlichen Festen, wie Weihnachten und Ostern, ward sogar der Name früherer heidnischer Hoch- oder Festzeiten beibehalten, und manche Gedächtnistage von Heiligen und Kirchweihen, die wahre V. geworden sind, mögen absichtlich in Zeiten verlegt worden sein, die schon vorher zu religiösen Feierlichkeiten bestimmt waren. Bei wenigen Völkern hat das Festwesen, das mit der Religion in inniger Verbindung stand, so das ganze Volksleben durchdrungen und ist zugleich Sache des Staates geworden, wie bei den alten Griechen, wo es in den großen Nationalfesten der Olympischen, Pythischen, Isthmischen und Nemeischen Spiele seinen Gipfel erreichte. In neuester Zeit haben die Deutschen eine Wiederbelebung der alten Schützen-, Sänger- und Turnerfeste angestrebt, um eine Annäherung der stammverwandten deutschen, österreichischen und schweizerischen Stämme zu befördern. Ein neues schönes Volksfest ist der Arbor-day Nordamerikas, der zuerst 1872 in Nebraska eingeführt wurde und nun schon in vielen Staaten mit Pflanzung eines Baumes durch jedes Schulkind begangen wird. In Nebraska werden dabei jährlich 20 Mill. Bäume neu gepflanzt, und Norddakota soll durch dieses Volksfest bereits 16,000 Hektar Wald erhalten haben. Vgl. Reimann, Deutsche V. im 19. Jahrhundert (Weim. 1839); Brand, Popular antiquities (Lond. 1849, 3 Bde.); Montanus, Die deutschen V. (Iserl. 1854–58, 2 Bde.); v. Reinsberg-Düringsfeld, Das festliche Jahr (2. Aufl., Leipz. 1897); Lippert, Deutsche Festbräuche (Prag 1884). Vgl. Zunftgebräuche und Volksbelustigungen.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 231-232.
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