Bewegung (Schöne Künste)

[155] [155] Bewegung. (Schöne Künste)

Ist einer der Gegenstände der schönen Künste, so wie der Ton, die Farben und die Figur. Die Tanzkunst gründet sich größtentheils auf Bewegung, die Musik ahmet sie glüklich nach, und in den zeichnenden Künsten kommt viel schönes von der Vorstellung der Bewegung her. Das eigenthümliche der Bewegung sind die verschiedenen Grade des langsamen und geschwinden, und darin allein liegen schon Gründe, wodurch die Bewegung der Schönheit fähig wird; weil darin Mannigfaltigkeit und Abwechslung bey der Einförmigkeit stattfindet. Wir haben an einem andern Orte (Takt) angemerkt, wie aus der bloßen Bewegung etwas entstehen kann, das mit dem taktmäßigen Gesang einige Aehnlichkeit hat. Wenn man in der Bewegung ein gewisses Zeitmas zur Einheit annimmt, so sind die Grade der Geschwindigkeit, wie Glieder eines Ganzen anzusehen; die Zeit in welcher die Bewegung geschieht und der Raum durch welchen sie geschieht, können als das Ganze angesehen werden, welches aus sehr mannigfaltigen verbundenen Theilen besteht, und also der Schönheit fähig ist.

Alle Handlungen der Seele führen den Begriff der Bewegung mit sich; nicht nur die, welche wir Gemüthsbewegungen nennen, sondern auch Handlungen ohne Leidenschaft. Daher kann die Bewegung zum Zeichen oder Ausdruk dessen gebraucht werden, was in der Seele vorgeht. Hierin liegt der Grund eines großen Theils der Kunst die Leidenschaften und andre Gemüthsfassungen durch den Takt in der Musik und in dem Tanz auszudrüken.

Es ist aber hiebey anzumerken, daß die Bewegung allemal den Begriff der Figur mit sich führe. Denn da sie nothwendig nach gewissen Linien geschieht, so kann eine sehr veränderte Bewegung, den Begriff einer mannigfaltigen Figur erweken. Eben so kann im Gegentheil die bloße Figur den Begriff der Bewegung erweken, aus der sie entstanden ist, oder entstehen kann.

Aus diesem läßt sich begreifen, wie in der Bewegung gar mannigfaltige Schönheiten liegen können, wie der Begriff derselben in uns erwekt werde, wie folglich durch das Anschauen der Bewegung Lust und Unlust, Empfindungen und Leidenschaften können hervorgebracht werden. Die Theorie, welche das Schöne in der Bewegung überhaupt untersuchte, wäre die allgemeine Tanzkunst, wovon die besondere Kunst des Tanzens, und so gar ein Theil der Tonkunst, nur besondere Anwendungen wären. Die schöne Bewegung ist von der schönen Figur nur darin unterschieden, daß hier die Theile auf einmal neben einander sind, dort aber nach und nach auf einander folgen. Die schöne Bewegung ist eine sich beständig ändernde schöne Figur.

Damit wir die Schönheit der Bewegung deutlicher und richtiger erkennen, dürfen wir uns nur ein System verschiedener verbundenen Körper vorstellen, deren jeder seine eigene Bewegung hat, sich mit eigener Geschwindigkeit nach eigenen Linien und nach eigenen Richtungen bewegt. Man wird begreifen, daß bey der Einheit eines solchen Systems eine sehr große Mannigfaltigkeit möglich sey. Setzen wir nun noch hinzu, daß diese Körper an Grösse und Figur so verschieden seyen, als an Bewegung, so bilden sich Begriffe von der höchsten Schönheit, die aus Bewegung und Figur zugleich entstehen.

Hierin liegt der eigentliche Grund, der uns die Tanzkunst, unter die schönen Künste zählen macht. Denn da ist das Schöne der Figur und Bewegung vereiniget. Wir können ohne Untersuchung und Nachdenken uns von der großen Macht der mit Bewegung verbundenen Figur überzeugen, wenn wir jemahls den Reiz einer vollkommenen Tänzerin, und anderseits das Abscheuliche in gewißen kramfigten Bewegungen eines schon an sich mißgebohrnen Körpers empfunden haben. Es giebt Menschen, die von Natur aufgelegt sind, immer die angenehmsten, reizendsten Stellungen und Bewegungen aller Gliedmaaßen zu treffen; alles lenkt sich bey ihnen nach dem besten Geschmak. So müssen vollkommene Redner und vollkommene Schauspieler gebildet seyn. Hingegen giebt es auch lebende Mißgebuhrten, die etwas so gar widriges, ekelhaftes oder fürchterliches in der Verziehung der Gliedmaaßen an sich haben, daß man sie nur einmal sehen darf, um hernach auf immer bey jedem erneuerten Andenken derselben, Furcht oder Ekel zu empfinden. Gewisse elende Menschen erweken unser Mitleiden durch wenige Gebehrden weit lebhafter, als die beweglichste Rede thun würde. [156] Dieses soll jeden Künstler auf das Angenehme und Widrige in der Bewegung aufmerksam machen. Nicht blos den Tänzer, dessen eigentliches Studium sie ist, sondern auch den Tonsetzer, den Mahler und den Dichter. Denn daher werden sie bisweilen die höchste Kraft ihrer Vorstellungen nehmen können. Raphael hat nicht nur den höchsten Reiz der Bewegung, sondern auch das höchst widrige derselben in der Natur entdeket. Von dem letzten geben der Besessene in seiner Verklärung des Heilands, und der sterbende Ananias deutlichen Beweis.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 155-157.
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