Nationalökonomie

[243] Nationalökonomie oder Volkswirthschaftslehre ist die Wissenschaft von den Quellen und Bestandtheilen des Volkswohlstandes und den Mitteln, ihn zu erhalten und zu vermehren. Sie stellt das Verhältniß des Menschen zur Güterwelt dar und sucht die allgemeinen Naturgesetze auf, von welchen das mehre oder wenigere Gedeihen des Volkswohlstandes abhängt, ohne die Mitwirkung des Staats zu berücksichtigen. Die Lehre von dieser Mitwirkung des Staats in Bezug auf Volkswohlfahrt und Vermehrung des Nationalvermögens ist vielmehr einer besondern Wissenschaft, der Staatswirthschaftslehre (s.d.) vorbehalten, welche indeß häufig mit der Volkswirthschaftslehre oder Nationalökonomie verwechselt worden ist. Die Staatswirthschaftslehre verhält sich aber zu der Nationalökonomie wie eine anwendende Wissenschaft zu einer reinen oder wie das positive Recht zum Naturrecht (s.d.). Sie leitet ihre obersten Grundsätze zwar aus der Nationalökonomie ab und darf deren Grundsätze und Ergebnisse nie unbeachtet lassen, allein sie kann sie nur mit Rücksicht auf bestehende staatliche Verhältnisse zur Anwendung bringen und ist häufig gezwungen, von den idealern Principien derselben abzuweichen. Allein nicht blos für die Staatswirthschaft, sondern auch für die Finanz-, Policei- und Kameralwissenschaft bildet die Nationalökonomie die Fundamentallehre. Demnach müssen wol die Fragen, mit welchen sich die Nationalökonomie zu beschäftigen hat, für das Wohl der ganzen Menschheit, wie für jeden Staat und jeden Einzelnen von der höchsten Bedeutung sein; eine glückliche Lösung derselben setzt aber tiefes Eindringen in die Natur der Dinge, einen sehr umfassenden Überblick der menschlichen Verhältnisse, einen vollkommen durchgebildeten Verstand und große Vorsicht und Gewandtheit im Verknüpfen und Folgern voraus. Fast über keinen Gegenstand hat daher von jeher eine solche Verwirrung der Begriffe und Verschiedenheit der Ansichten [243] geherrscht, und erst die neuere Zeit, welche die Volkswirthschaft zu einer besondern Wissenschaft erhob, hat eigentliches Licht darüber verbreitet. Die Völker des Alterthums hatten höchst irrige und unklare Begriffe von Volkswohlstand und Nationalreichthum. Sowol ihre innern als ihre auswärtigen Verhältnisse, namentlich die Verwaltung der eroberten Provinzen und das Sklaventhum beweisen, daß ihnen die eigentlichen Quellen des Volkswohlstandes gänzlich unbekannt waren, daher die betreffenden Ansichten alter Schriftsteller für unsere Zustände durchaus unbrauchbar sind. Dasselbe gilt ziemlich auch vom Mittelalter. Erst durch die glücklichen Handelsunternehmungen der Portugiesen und Spanier im 15. Jahrh., durch die lebendige Gewerbthätigkeit der Einwohner von Venedig, Genua, Florenz, Pisa und Flandern, sowie der deutschen Hansestädte, wurden nach und nach einzelne denkende Köpfe veranlaßt, wissenschaftliche Untersuchungen über den Reichthum anzustellen. Endlich wurden im 18. Jahrh. auch nationalökonomische Lehrstühle auf den Universitäten errichtet, doch waren die hier gehaltenen Vorträge theils blos auf eine technische Anleitung zu gewissen Erwerbzweigen, theils auf einzelne Regierungsmaßregeln zur Beförderung des Nationalreichthums gerichtet. Eigentliche nationalökonomische Systeme entstanden erst, als man die Quellen des Wohlstandes an und für sich untersuchte und sich die Frage stellte, wodurch denn ein Volk überhaupt wohlhabend und reich werden könne? Aus den verschiedenen Beantwortungen derselben entstanden allmälig drei ganz voneinander abweichende Systeme der Volkswirthschaftslehre; zuerst unter dem Minister Colbert in Frankreich das Mercantilsystem (s. Mercantilisch), welches das Geld allein für Reichthum erklärte und daher so viel wie möglich durch eine vortheilhafte Handelsbilanz in das Land hineinzuziehen und dessen Ausführung zu verhüten suchte. Dieses System, welches in allen Ländern schnell Nachahmung fand und noch heutiges Tages viele Anhänger hat, führte zur Verarmung des größten Theils der Nation und wurde mitwirkende Ursache zu dem später eintretenden gänzlichen Umsturze der Monarchie. Die Fehlerhaftigkeit dieses Systems stellte sich sehr bald den gründlichen Forschern dar, welche, um die Fehler desselben desto sicherer zu vermeiden, von ganz entgegengesetzten Grundsätzen ausgingen und die Erzeugnisse des Landbaues für den einzig wahren Reichthum ausgaben. Daraus ging das sogenannte physiokratische System hervor und zog eine Zeit lang die Blicke von ganz Europa auf sich; allein das Verunglücken einzelner Versuche, ihre Lehre ins praktische Leben einzuführen, und die Einseitigkeit des Systems an und für sich, brachten auch diese Theorie wieder in Verfall. Da trat im Jahre 1776 der Schotte Adam Smith auf und suchte, zwischen den frühern Lehren gleichsam die Mitte haltend, ein neues System zu begründen, welches beider Vorzüge theilen und ihre Fehler vermeiden sollte. Er fand eine andere Quelle des Reichthums, welche beide Systeme übersehen hatten, in der menschlichen Arbeit und stellte sie als die wahre Wertherzeugerin hin, da ohne sie weder der Handel noch der Landbau Wohlstand und Reichthum erringen kann. Arbeit, sagt er, ist die einzige Quelle aller Güter, ohne sie kommt man in der Welt zu Nichts, denn was man haben will, muß man sich durch einen Aufwand von Kräften erst erwerben oder man muß, wenn es von Andern erzielt wurde, etwas dafür geben, was man sich durch Arbeit verschafft hat. Die Arbeit ist aber auch der Maßstab des Werths der Güter, denn weil jedes nur durch Arbeit erzielt werden kann, so ist es dem Besitzer grade so viel werth, als es ihm Arbeit kostete. Da man ferner im Tausche stets den Werth (oder dieselbe Quantität Arbeit) wieder zu erhalten sucht, welchen der hingegebene Gegenstand hat, so ist die Arbeit auch ein Maßstab des Preises. Wertherzeugend oder productiv ist jede Arbeit zu nennen, welche den Dingen dadurch, daß sie auf sie verwendet wird, einen höhern Werth verschafft. Die Erzeugnisse der Arbeit können endlich in allen civilisirten Staaten, wo die Oberfläche der Erde in das Privateigenthum Einzelner übergegangen ist, in drei Theile, in den Arbeitslohn, welchen der wirkliche Arbeiter, die Grundrente, welche der Eigenthümer des Bodens, und den Capitalgewinn zerfallen, welchen Derjenige erhält, der seinen gesammelten Vorrath von Gütern zur Benutzung bei der Güterproduction hergab. Diese drei Antheile machen zugleich die Bestandtheile des Preises der Güter aus, die richtige Verwendung der Arbeit, des Bodens und der Capitale aber ist Sache des Einzelnen, welcher selbst am meisten dabei interessirt ist, sie möglichst einträglich zu machen. Da aber der Vortheil der Einzelnen zugleich auch Vortheil des Ganzen ist, so darf die Regierung nur jeder Thätigkeit volle Freiheit gewähren und die Nation wird reich. Insofern nun A. Smith weder den auswärtigen Handel noch den Ackerbau allein, wol aber alle Arten nützlicher Betriebsamkeit und Industrie als Mittel zum Nationalwohlstande betrachtete, denen daher auch gleiche Freiheit gegeben werden müsse, hat sein System den Namen des freien Industriesystems erhalten. Sein berühmtes Werk über »Natur und Ursachen des Nationalreichthums« wurde von Garve ins Deutsche übersetzt, desgleichen eine der wichtigsten Verarbeitungen seiner Lehre, Say's »Ausführliche Darstellung der Nationalökonomie u. sw.« von Professor Morstadt in Heidelberg.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 243-244.
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