Deklamation

[597] Deklamation (lat.), der kunstgerechte Vortrag eines poetischen oder rhetorischen Gebildes, durch den nicht nur dessen Sinn treu und verständlich wiedergegeben, sondern auch die Gemütsstimmung, in der es verfaßt ist, auf den Hörer übertragen wird. Die erste Bedingung einer guten D. besteht in der kunstgemäßen Pflege und Ausbildung des Sprachorgans; wieder Sänger muß auch der Redner die richtige Behandlung der Stimme erlernen. Dahin gehört der Stimmansatz, die Übung der Zunge, die Verteilung des Atems u. dgl. Das zweite Erfordernis ist die fehlerfreie Aussprache aller einzelnen Laute und die Vermeidung dialektischer Abweichungen von der Normalsprache; als solche gilt in Deutschland die Bühnenaussprache (s.d.). Das dritte und wichtigste Erfordernis der guten D. besteht in sinngemäßer Betonung und stilvoller Anpassung an den besondern Charakter der Rede: beides geht Hand in Hand. Hiernach müssen diejenigen Wörter am stärksten betont werden, durch die neue und wichtige Vorstellungen in den Zusammenhang der Rede eingeordnet werden, während diejenigen Wörter, die bereits vorher geweckte Vorstellungen wieder hervorrufen oder nur unwichtige Elemente zu der Gesamtvorstellung hinzufügen, keine starke Hervorhebung vertragen. Wesentlich für die D. ist die richtige Verteilung langer, halblanger und kurzer Pausen sowie das stilvoll variierte Tempo der Rede. Das letzte Geheimnis des guten Vortrags liegt aber in der kunstvollen Abstufung der Satzmelodie: die gesprochene Rede verläuft in mannigfaltigen, aber sehr feinen und kleinen Intervallen und wechselt je nach dem Charakter des Inhalts der Worte öfter die Artikulationsbasis, von der aus das Spiel dieser seinen Intervalle einsetzt. Diese zarten Schattierungen der Satzmelodie bilden den hörbaren Ausdruck für den Gefühlscharakter, der sich mit dem Vorstellungsgehalte der Rede verbindet; diesen ganz zu erschließen und durch die richtigen Mittel im Hörer wiederzuerwecken, ist das letzte Ziel der stilvollen D.

Aus Quintilians »Rhetorik« geht hervor, daß die Alten rücksichtlich jeder Art der Rede Forschungen sowohl über die Stimme als über die Mittel, sie zu heben und zu stärken, angestellt haben. Die Erteilung eines eignen Unterrichts darüber war sogar einer besondern Berufsklasse vorbehalten. Es ist dies die der Phonasken, Stimmeister (der Laubesche Vortragsmeister?) oder nach Varro Stimmhähne, die sich den Tonkünstlern und Ärzten anreihten, die Stimmorgane in der gehörigen Stärke des Tones übten und dafür diätetischen Rat und Hilfsmittel gaben. Überall, hauptsächlich beim Vortrag schwerer und Nachdruck erfordernder Stellen war der Phonaskos zur Seite, um nötigenfalls sogleich Ton und Takt anzugeben. Dies war indes nur bei der öffentlichen Rede der Fall,[597] wogegen die Schauspieler auf der Bühne eine andre musikalische Begleitung ihrer D. durch eine Art Flöte (tibia), außerdem ihren Musikmeister oder Taktangeber und selbst ihren Souffleur (hypoboleus, monitor) hatten. Im Mittelalter wurde die D. sehr vernachlässigt, bei dem Wiederaufleben der Wissenschaften aber wieder hervorgesucht. Seitdem hat sie sich da wieder gehoben, wo die schönen Künste geschätzt werden, insbes. hat die Beredsamkeit den Weg zu den höchsten Ehrenstellen, zumal in den konstitutionellen Staaten, gewonnen. SchocherSoll die Rede auf immer ein dunkler Gesang bleiben?«, Leipz. 1792) stellte ein eignes System von Regeln für die D. auf und wurde dadurch der Begründer der Deklamatorik oder der Theorie der D. Vgl. außerdem: Klopstock, Über Sprache und Dichtkunst (Hamb. 1779); Bielefeld, Über die D. als Wissenschaft (das. 1807); Wötzel, Geschichte der D., nach Schochers Ideen (Leipz. 1815); O. Guttmann, Gymnastik der Stimme (3. Aufl., das. 1876); Agnes Schebest, Rede und Geberde (das. 1861); R. Benedix, Der mündliche Vortrag (1. Teil, 9. Aufl., das. 1902; 2. u. 3. Teil, 4. Aufl., das. 1888); R. Genée, Poetische Abende (neue Ausg., Erfurt 1880); Palleske, Die Kunst des Vortrags (3. Aufl., Stuttg. 1892); Skraup, Die Kunst der Rede und des Vortrags (Leipz. 1894).

In der Musik, speziell in der Vokalkomposition, ist D. die Umwandlung des poetischen Rhythmus (Metrums) in einen musikalischen. Die poetische und musikalische Akzentuation müssen einander im allgemeinen decken. Das schlichte, populäre Lied folgt meist streng dem Gang des Metrums, das Kunstlied dagegen gestaltet dasselbe freier, verlängert und verkürzt die Perioden durch Silbendehnungen, durch Folgen einer Anzahl kurzer Töne etc. Zu den wichtigsten Gesetzen der musikalischen D. gehört auch die Respektierung der Reime, die im musikalischen Metrum die Lage auf schwere Zeitwerte fordern.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1906, S. 597-598.
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