Kurden

[856] Kurden, Bergvolk in Vorderasien, zur iranischen Familie des indogermanischen Stammes gehörig, Nachkommen der alten arischen Bewohner im Süden des Wansees, die bereits die Griechen unter dem Namen Kyrtier oder Karduchen (bei Xenophon), Gordyäer (bei Strabon) kannten. Von dort haben sie sich in die anstoßenden Gebiete verbreitet. Im Zagrosgebirge, von Luristan bis zum Urmiasee und nördlich von ihm bis zum Gebiet von Maku wohnen die Kelhur, südwestlich von Kermanschah, die Dschaf zwischen Sihne und Suleimania, die Rivandi, Baliki, Mikrikurden südlich vom Urmiasee, die Schekaki zwischen Urmia- und Wansee, die Melakurden und die Dschelali bei Maku. Alle diese Stämme faßt man als östliche K. zusammen, während die westlichen K., die sich selbst als Kurmandschkurden bezeichnen, hauptsächlich im Wilajet Wan sowie in den Sandschaks Diarbekr, Wardin und Söörd wohnen, vielfach zwischen Armeniern, Nestorianern und Chaldäern sitzend. Etwas abseits bei Musch und Palu hausen die Duschikurden und Dumbeli mit eigentümlichem Dialekt. Die Zahl der K. wird für Türkisch-Asien auf 1,500,000, für Persien auf 750,000, zusammen auf 2,250,000 unsicher geschätzt, andre nehmen niedrigere Zahlen an. Die K. befinden sich in der Türkei in steter Ausbreitung. Auch die Bachtijaren (Große Luren) und Feili (Kleine Luren) werden zu den K. gerechnet. In Chorasan am Nordabhang des Elburz wurden sie vom Schah Abbas gegen die Turkmenen angesiedelt. Im kurdischen Hochland zerfallen die K. in zwei scharf geschiedene, auch äußerlich sehr verschiedene Stände oder Kasten: die Assireten, welche die Kriegerkaste bilden und nur Viehzucht, keinen Ackerbau treiben, und die Guranen, die Kaste der Ackerbauer, die nie Krieger werden können und von den erstern sehr gedrückt und ausgebeutet werden. Der Assirete hat grobe, eckige Gesichtszüge, dicken Vorderkopf und tief liegende blaue oder graue, starre Augen, während der Gurane eine sanftere Gesichtsbildung mit regelmäßigen Zügen zeigt, eine Verschiedenheit, die sich zur Genüge aus der Beschäftigung erklärt. Die Assireten zerfallen in eine bedeutende Anzahl von Stämmen, Geschlechtern und Familien, zu denen je eine Abteilung Guranen in einem Abhängigkeitsverhältnis zu stehen scheint. Auch die Jeziden, die in einigen Gegenden wohnen und von manchen für Überreste der alten Assyrer gehalten werden, sind mit den K. sprachlich verwandt.

An der Spitze der Stämme und Verbände stehen erbliche Häuptlinge oder Stammesälteste. Dem Glaubensbekenntnis nach sind die K. Sunniten und geschworne Feinde der Schiiten. Religiöser Eifer scheint ihnen indes nur wenig innezuwohnen; der ganze Gottesdienst besteht im täglichen fünfmaligen Gebet. Dem Charakter nach sind sie tapfer, freiheitsliebend, gastfrei, ziemlich keusch, auch bis zu einem gewissen Grade worttreu; dagegen haben sie keinen Sinn für regelmäßige Beschäftigung, sind der Blutrache leidenschaftlich ergeben und halten eine Raubtat in gleichen Ehren mit ritterlichen Heldentaten. Stark ausgeprägt ist die Liebe zur Familie. Die Wanderhorden wohnen in schwarzen Filzzelten, die Ansässigen in niedrigen Häusern aus Steinen mit flachem, auf Pappellatten[856] ruhendem Dach, das im Sommer auch als Schlafstelle dient. Die Stellung der Frauen ist freier als sonst im Morgenland. Sie gehen in und außer dem Haus meist ohne Schleier umher, verkehren ohne Scheu mit andern Männern und haben auch männliche Bedienung. Die Mädchen werden in der Regel zwischen dem zehnten und zwölften Jahre gegen Zahlung der Brautgabe verheiratet. Nur reiche und vornehme K. heiraten mehrere Frauen, die Guranen nie. Die Kleidung besteht in weiten Beinkleidern (Schalwar), einem eng anschließenden, durch einen Gürtel zusammengehaltenen Rock, einem weiten braunen und weißen Kaftan (Antari) und einem Mantel. Als Kopfbedeckung dient eine kegelförmige gelbe Filzmütze oder der türkische Turban. Die K. scheren sich meist den Kopf und tragen einen Schnurrbart, nur Greise den Vollbart. Ihre Waffen bestehen bei den Reitern in langer Lanze, Säbel und Pistolen; die Fußkämpfer tragen Flinten, im Gürtel den Dolch (Handschar).

Die Sprache der K. gehört zu der iranischen Familie der indogermanischen Sprachen, hat aber viele Fremdwörter aus den Nachbarsprachen aufgenommen. Vgl. Lerch, Forschungen über die K. (Petersb. 1857–58, 2 Tle., enthaltend kurdische Texte und Glossare); Hübschmann, Iranische Studien (in der »Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung«, 1878). Eine Grammatik lieferte Justi (Petersb. 1880), ein Wörterbuch Jaba (veröffentlicht von Justi, das. 1879). Vgl. auch Socin im »Grundriß der iranischen Philologie«, hrsg. von Geiger und Kuhn, Bd. 1 (Straßb. 1898). Eine eigentliche Literatur besitzen die K. nicht, dagegen sind sie reich an volkstümlichen Märchen, epischen und lyrischen Liedern, die neuerdings aus dem Munde des Volkes von Prym und Socin gesammelt sind (»Kurdische Sammlungen«, Petersb. 1887–90, 2 Bde.). – Musik und Tanz lieben die K. leidenschaftlich. Nationaltanz ist der Tschopi, ein Ringtanz mit lebhaftem Hin- und Herschwingen des Leibes, Fußstampfen und wildem Geschrei, begleitet von Trommel und Pfeife. Äußerster Haß gegen die Türken bildet noch heute einen allen K. gemeinsamen Zug. – In Persien brach 1880 infolge Steuererhöhung ein großer Aufstand unter den K. aus, die durch ihre türkischen Stammesgenossen unterstützt wurden, und konnte erst nach schweren Kämpfen niedergeworfen werden. Seit 1895 verüben die türkischen K., die militärisch in Hamidieh-Regimenter gegliedert wurden, fortgesetzt schwere Greuel gegen die Armenier. Vgl. Roediger und Pott, Kurdische Studien (in der »Zeitschrift für Kunde des Morgenlandes«, Bd. 3–7); Schläfli, Beiträge zur Ethnographie KurdistansPetermanns Mitteilungen«, 1863); F. Millingen, Wild life among the Koords (Lond. 1870); Blau, Die Stämme des nordöstlichen Kurdistan (»Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft«, Bd. 12, Leipz. 1858).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 856-857.
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