Tätowieren

[340] Tätowieren (Tättowieren, richtiger Tatauieren, vom tahit. tatau, hierzu die Tafel »Ornamentale Tätowierung«), der Gebrauch, gewisse Farbstoffe durch Stechen mit Dornen und Nadeln oder durch Einreiben in die durch Muscheln oder Zähne geritzte Haut eines Menschen einzuführen, um möglichst unvergängliche Zeichnungen hervorzubringen. Diese an die Körperbemalung (s. d.) anschließende Gewohnheit findet oder fand sich bei beinahe sämtlichen Völkern, den wilden sowohl als den zivilisierten, und dient oft zu einer wirklich geschmackvollen, den Wuchs vorteilhaft hervorhebenden, die Nacktheit in Vergessenheit bringenden Verschönerung, besonders wenn sie, wie bei den Ostpolynesiern, den ganzen Körper bedeckt, oder, wie z. B. in Japan, in mehreren Farben und mit zeichnerischer Vollendung geübt wird. Wegen der mit dem T. verbundenen Schmerzen wird es bei beiden Geschlechtern häufig als eine der vielfach grausamen Zeremonien bei der Feier der eingetretenen Pubertät vollzogen, dient dann aber auch als Zeichen der Mannbarkeit und Heiratsfähigkeit bis zu dem Grade, daß auf den Nukuoroinseln Kinder, die von untätowierten Müttern geboren wurden, getötet werden. Hier und da sind mit dem T. Begriffe religiöser Art verknüpft worden, auch entwickelt es sich zum Stammes- oder Häuptlingsabzeichen, ersetzt bisweilen auch die Ehrenmale, indem gewisse Zeichen nur nach Vollbringung gewisser Heldentaten eingeätzt werden dürfen, doch hat man mit Unrecht eine tiefere Symbolik in den meist sehr willkürlichen und wechselnden Mustern gesucht. Für Samoa haben indessen neuerdings Marquardt und v. Luschan die Bedeutung gewisser Tätowiermuster festzustellen vermocht. Völker mit dunkler Hautfarbe, wie Neger, Melanesier und Australier, ziehen dem T. den Gebrauch vor, den Körper mit Narbenzeichnungen zu zieren, die auf der schwarzen Haut, oft künstlich vergrößert, besser zur Geltung kommen als die dunkelblauen Muster der Tätowierung. In der Südsee, bei Amerikanern, Melanesiern, Neuseeländern und Afrikanern sind die gewählten Muster meist geometrisch und arabeskenhaft (Fig. 1–4), bei Malaien und Japanern figürlich (Fig. 5–7). Bei den Alëuten und Aino begnügen sich die Mädchen und Frauen meist damit, sich einen großen blauen Schnurrbart zu tätowieren. Die Öffnungen zum Einreiben der Farbe (meist seiner Ruß oder Tusche) werden mit spitzen Dornen oder Knochen, auch kammartig gezahnten Werkzeugen erzeugt, wobei dunklere Schattierungen durch dichter stehende Punkte hervorgebracht werden. Zum T. der roten Farbe wird meist Zinnober verwendet. In der Südsee ist die Sitte des Tätowierens durch den Einfluß der Missionare im Aussterben, dagegen in Hinterindien, Laos, Birma etc., noch lebhaft im Schwange; in Japan neuerdings verboten. In Alteuropa war das T. nach den Berichten des Herodot, Strabon und Plinius bei Thrakern, Dakern, Sarmaten und Agathyrsen (im heutigen Siebenbürgen) verbreitet. Ferner wird die Sitte namentlich von den alten Assyrern erwähnt, in der Bibel den Juden wiederholt verboten, doch hielt sich der Gebrauch, religiöse Symbole auf den Körper einzugraben, lange bei den ältern Christen, und noch bis in die neueste Zeit blieb es hergebracht, sich bei Wallfahrten nach dem Heiligen Lande dort Wahrzeichen auf die Arme tätowieren zu lassen. Im heutigen Europa beschränkt sich die Liebhaberei auf einzelne[340] Figuren und Symbole und findet sich vereinzelt bei allen Gesellschaftsklassen, häufiger bei Matrosen, Soldaten und Handwerkern sowie seltsamerweise auch bei Gewohnheitsverbrechern. In den 1890er Jahren war das T. auch bei der goldenen Jugend in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten zum Sport geworden. – Wie aller Schmuck, so dient auch die Tätowierung in erster Linie zur Hervorhebung ihres Trägers aus der Masse der Stammesgenossen; darüber hinaus verfolgt sie indessen noch eine große Reihe von Nebenzwecken, wie 1) Unterscheidung von Freien und Unfreien in einem Stamme. 2) Unterscheidung höhern und niedern Standes (Kasten) desselben Stammes. 3) Tapferkeitszeugnisse für Erduldung selbstauferlegter Qualen bei Pubertätszeremonien etc. 4) Zeichen bewiesener Tapferkeit im Privatleben. 5) Auszeichnung für Kriegstaten. 6) Religiöse Symbolik. 7) Heilmittel für vorhandene Krankheit. 8) Vorbeugungsmittel für drohende oder befürchtete Erkrankung. 9) Brandmarkung als Zeichen der Ungnade. 10) Merkmal des Verheiratetseins bei Weibern oder 11) der Heiratsfähigkeit. 12) Kennzeichen zur persönlichen Wiedererkennung (Identifikation). 13) Bezauberung des andern Geschlechts. 14) Furchteinflößung dem Feinde gegenüber. 15) Zauber, um sich unverwundbar zu machen, und 16) Glück zu verschaffen. 17) Merkmal der Mitgliedschaft eines Geheimbundes. Die Zeichnungen und Figuren teilen sich also in aufgenötigte und selbsterwählte, in Auszeichnungen, die durch Leistungen erworben werden müssen, und die nicht jeder tragen darf; veränderbare, wie die der Unverheirateten und Verheirateten, den Amuletten angehender Kulturvölker vergleichbare Schutz-, Zauber- und Drohmittel, die teils auf den eignen Körper, teils nach außen auf andre wirken sollen, und endlich in Erkennungszeichen für Eingeweihte. Der Ethnograph vermag unter Umständen eine ganze Geschichte aus dieser ornamentalen Bilderschrift herauszulesen. Eine Tätowierung zu Heilzwecken wird in Ägypten seit 4–5000 Jahren bis heute geübt. Die Mumie einer Priesterin der Hathor zeigte drei Reihen von Tätowierungen auf dem abgemagerten Unterleibe, die zur Heilung einer Krankheit dienen sollten, und die ägyptischen Frauen lassen noch heute diese Kurmethode hauptsächlich bei Migräne, Neuralgie und Rheumatismus von einer klugen Frau an sich vornehmen. Vgl. Wuttke, Die Entstehung der Schrift (Leipz. 1872); Lacassagne, Les tatouages (Par. 1881); Joest, T., Narbenzeichnen und Körperbemalen (Berl. 1887); Robley, Moko; Maori tattooing (Lond. 1896); Marquardt, Die Tätowierung beider Geschlechter in Samoa (Berl. 1899); Le Blond und Lucas, Du tatouage chez les prostituées (Par. 1899); Krämer, Die Samoa-Inseln, Bd. 1 (Stuttg. 1902); v. Luschan, Beitrag zur Tätowierung in Samoa (in der »Zeitschrift für Ethnologie«, Bd. 28, Berl. 1896).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 340-341.
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