Bonaparte [4]

[293] Bonaparte (Lucian), geb. 1772 zu Ajaccio, Fürst von Canino, der talentvollste und selbständigste Charakter unter Napoleon B.'s Brüdern, flüchtete mit seiner Familie nach Frankreich, wo er sich als eifriger Republikaner bewies und bald eine Anstellung bei der Armeeverwaltung erhielt. Seiner Gesinnungen wegen wurde er Mitglied des Revolutionsausschusses zu St.-Maximin im Var-Departement, sah sich aber nach Robespierre's Sturze zur Flucht genöthigt und lebte in Dürftigkeit. Seit 1796 verbesserten sich mit Napoleon's Verhältnissen auch die Lucian's; er wurde Kriegscommissair, 1797 Mitglied und 1799 Präsident des Rathes der Fünfhundert. Vorzüglich auf seine Veranlassung eilte Napoleon aus Ägypten herbei und Lucian wurde der Held des durch ihn vorbereiteten 18. Brumaire (s.d.). Hierauf zum Minister des Innern ernannt, wirkte er rühmlich für das Beste von Wissenschaft und Kunst, beförderte den öffentlichen Unterricht, lud aber mehrfach den Vorwurf eigenmächtigen und eigennützigen Verfahrens auf sich. Sein Festhalten republikanischer Ansichten gegenüber den Bestrebungen Napoleon's, die Militairherrschaft geltend zu machen, entzweite die Brüder und Lucian ging 1800 als franz. Gesandter nach Madrid, wo er durch seine Gewandtheit und sein einnehmendes Betragen sich bei dem König Karl IV., vorzüglich aber bei der Königin und dem Friedensfürsten (s.d.) so in Gunst setzte, daß der engl. Einfluß ganz verdrängt und Spanien der Verbündete Frankreichs wurde. Auch schloß er 1801 den Frieden von Badajoz zwischen Spanien und Portugal, vorher aber mußte letzteres sich in einem geheimen Artikel zu 30 Mill. Francs Contribution verstehen, die zwischen Frankreich und Spanien getheilt wurden und wovon Lucian 5, Napoleon 10 Mill. für sich genommen haben soll. Selbst eine Vermählung seines Bruders mit einer span. Infantin wollte Lucian einleiten, was jedoch unterblieb, seine großen Dienste aber wurden bei seiner Rückkehr nach Paris 1802 mit der Ernennung zum Tribun und zum Senator belohnt. Die Einigkeit der Brüder war indeß von kurzer Dauer, denn Lucian lehnte nach dem Tode seiner ersten Gattin, einer Schwester des Gastwirths Boyer in St.-Maximin, seine von Napoleon beabsichtigte Vermählung mit der Königin von Hetrurien ab, heirathete 1803 die geschiedene Frau des Wechselagenten Jouberton und widerstrebte fortwährend seines Bruders Plänen nach Alleinherrschaft. Einer Verhaftung zu entgehen, begab er sich 1804 nach Italien und lebte mit seiner Familie in der Nähe von Rom den Künsten und Wissenschaften und der Verwaltung seines ansehnlichen, als Kriegscommissair, Minister und Gesandter zusammengebrachten Vermögens. Die ihm von Napoleon angetragenen Throne von Neapel und Spanien, auch die Vermählung seiner Tochter mit dem Prinzen von Asturien schlug er aus, fand es aber 1810 seiner Sicherheit angemessen, sich nach Amerika einzuschiffen, wobei er den Engländern in die Hände fiel, die ihn als Gefangenen nach England brachten und bis 1814 dort zurückhielten. Er begab sich darauf wieder nach Rom, kaufte das kleine Fürstenthum Canino und wurde mit dem Titel desselben vom Papste belehnt. Um von seinem aus Elba wiedergekehrten Bruder einen Befehl zur Räumung des von Murat besetzten Kirchenstaats auszuwirken, eilte er 1815 nach Paris, erreichte auch seine Absicht, wurde aber an der franz. Grenze zurückgehalten und mußte sich wieder nach Paris begeben, wo ihn Napoleon nöthigte, in die Pairskammer zu treten; doch war er auch jetzt nicht ganz mit ihm einverstanden. Nach Ludwig XVIII. abermaliger Rückkehr suchte Lucian Italien zu erreichen, wurde aber von den Östreichern aufgefangen, auf die Citadelle nach Turin gebracht, durch Verwendung des Papstes jedoch im nämlichen Jahre mit der Bedingung entlassen, sich nicht aus dem Kirchenstaate zu entfernen. Umsonst bat er 1817 um Pässe nach Amerika und als er später einen Theil seines Vermögens durch verunglückte Speculationen verlor, verkaufte er seinen Palast in Rom und lebt seit 1829 in Sinigaglia. Lucian hat mehre unbedeutende poetische Werke herausgegeben, die ihm zugeschriebenen Denkwürdigkeiten aber sind untergeschoben. Von seiner ersten Gattin hat Lucian zwei Töchter, deren älteste, Charlotte, mit dem Fürsten Gabrielli, die andere, Christine, mit dem schwed. Grafen Posse vermählt, wieder geschieden und dann mit Lord Stewart verbunden wurde. Seine zweite Gemahlin gebar ihm einen Sohn, Karl, Prinzen von Musignano, vermählt mit Joseph B.'s Tochter Zenaide; von ihren Töchtern ist Lätitia an den Irländer Wyse, der aber nicht mit ihr lebt, Johanna an den Marquis Onorati verheirathet; ein zweiter Sohn, Paolo, verunglückte in Griechenland auf Lord Cochrane's Schiffe. Ferner ist hier zu erwähnen Anna Jouberton, von Lucian adoptirte Tochter seiner Gemahlin aus ihrer ersten Ehe, jetzt Witwe des Fürsten Ercolani.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 293.
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