Femgerichte

[24] Femgerichte, auch Freigerichte oder Freiding, westfäl. Gerichte, Feme, heilige Fehme, waren Gerichtshöfe eigenthümlicher Art, welche sich im Mittelalter allmälig in ganz Deutschland einen bedeutenden Theil der richterlichen Gewalt, namentlich der Strafrechtspflege, angemaßt hatten. Über ihre Entstehung und Verfassung ist von Historikern und Rechtsgelehrten viel gestritten und über ihr Thun und Treiben von Romanschreibern viel gefabelt worden. Nach Auflösung der altdeutschen Gauverfassung, wodurch Deutschland ein gemeinsames Oberhaupt und eine Anzahl mehr oder weniger selbständiger Fürsten erhielt, ging auch die richterliche Gewalt an die Landesherren über. Nur in Westfalen, dem alten Herzogthume Sachsen, hatten sich bei der allgemeinen Verwirrung, welche namentlich nach dem Sturze Heinrich's des Löwen (1179) herrschte, viele freie Gemeinden so unabhängig zu erhalten gewußt, daß sie die obere Gerichtsbarkeit (die niedere wurde auch hier von landesherrlichen Beamten ausgeübt) nicht durch die vom Landesherrn bestellten Beamten (die Gografen), sondern durch selbstgewählte höhere Richter (die sogenannten Freigrafen) ganz nach alter Sitte ausüben ließen. Nur insofern waren sie oft vom Landesherrn abhängig, als dieser das Bestätigungsrecht oder die sogenannte Stuhlherr schaft über sie hatte. Der Erzbischof von Köln suchte im 13. Jahrh. über sämmtliche Freigerichte in ganz Engern und Westfalen eine solche Stuhlherrschaft zu erlangen und der Kaiser, welcher immer als oberster sogenannter Stuhlherr betrachtet wurde, gestand ihm auch so viel zu, daß kein Freigraf in diesem Districte seine richterliche Gewalt ausüben dürfe, wenn er nicht zuvor vom Erzbischofe von Köln geprüft und bestätigt worden sei, und daß kein Freigericht ohne seine Einwilligung angelegt werden solle. Dieses oberste Aufsichtsrecht machte es den Erzbischöfen möglich, in die innere Verfassung der Freigerichte Manches hineinzubringen, was ihnen ursprünglich fremd gewesen war, und dadurch scheinen sie im 13. Jahrh. zu sogenannten Stillgerichten (heimlichen Gerichten) geworden zu sein, während sie früher, wie das altdeutsche gerichtliche Verfahren überhaupt, öffentlich waren. Seit dieser Zeit finden wir auch den Ausdruck Fem- oder Vehmgerichte (Faem- oder Veimgerichte) häufiger gebraucht, welcher indeß nichts Anderes bedeutet als oberes (Fahm heißt das Oberste) oder Blutgericht, was gleichbedeutend ist. Doch war das Verfahren bei diesen Gerichten immer nur theilweise heimlich, nämlich dann, wenn es sich um todeswürdige Verbrechen handelte. Aber auch hierbei wurde immer noch unterschieden, ob der Verbrecher zu den Wissenden (sciti, Femgenossen, vemenoti), d.i. Schöffen, welche in das geheime Verfahren eingeweiht waren, deren Anzahl sich mit der Zeit sehr vergrößerte, gehörte oder nicht. Gegen Nichtwissende konnte ein heimliches Verfahren nur dann stattfinden, wenn sie auf gehörige Anklage, die in einem heimlichen Gericht geschehen zu sein scheint, vor ein offenes Freigericht geladen worden waren und in dem gesetzlichen Termine von sechs Wochen und drei Tagen nicht erschienen, oder die Klage zu entkräften nicht im Stande gewesen waren oder die Sache von ihrem ordentlichen Gerichte nicht abgefodert war. Dann wurde das heimliche Verfahren eingeleitet, der Kläger führte den Beweis der Klage mit sechs Eideshelfern, d.h. er beschwor mit noch sechs andern Männern, welche aber alle Freischöffen oder Wissende sein mußten, daß seine Anklage in der Wahrheit beruhe, und der Beklagte wurde in die heimliche Acht verurtheilt (verfemt, verführt). Das Urtheil wurde durch die Freischöffen selbst vollzogen, wobei jeder Freischöffe, der durch eidliche Versicherung anderer Femgenossen von der Verfemung unterrichtet wurde, Hülfe zu leisten verpflichtet war. Gegen Wissende war das ganze Verfahren heimlich. Sie konnten aber erst nach dreimaliger Vorladung, deren Termine jeder wenigstens sechs Wochen und drei Tage voneinander entfernt sein mußten, verfemt werden. Erschienen sie aber, so konnten sie durch einen Eid ihre Unschuld beschwören; diesen Eid konnte zwar der Ankläger durch einen Eid mit drei Eideshelfern entkräften, allein dann stand dem Angeklagten eine weitere Vertheidigung mit sechs Eideshelfern, und wenn auch diese mit 14 Personen widerlegt wurde, die Vertheidigung mit 21 Eideshelfern zu, welches das höchste Gezeugniß war und die Freisprechung ohne Weiteres bewirkte. Wurde der Verbrecher bei einem vor die Femgerichte gehörigen Verbrechen (Feimwroge) auf frischer That (mit hebender Hand und gichtigem Mund) von drei oder vier Freischöffen ertappt, so konnten ihn diese sofort richten. Jeder Freischöffe war verpflichtet, in der heimlichen Acht alle ihm bekannt gewordenen Femwrogen anzuzeigen. Vor dem Femgerichte zu klagen, war nur erlaubt, wenn vor dem ordentlichen Gerichte des Klägers kein Recht zu erlangen stand. Von der Gerichtsbarkeit der heimlichen Gerichte waren alle Geistliche, reichsunmittelbare Personen, welche die vollständige Landeshoheit besaßen, und vielleicht auch Juden und Weiber frei. Nur auf rother, d.i. westfäl. Erde, konnten, vermöge der kais. Privilegien, durch welche die Freigerichte begnadigt waren, Femgerichte gehalten werden; doch dehnten sie ihre Macht über ganz Deutschland aus und misbrauchten dieselbe häufig zu Verbrechen und Gewaltthaten. Daher kam es, daß beim Kaiser häufig Beschwerden über sie einliefen und Befreiung von ihrer Gerichtsbarkeit an ganze Städte und Bezirke ertheilt wurde. Ausdrücklich aufgehoben sind sie indeß nie, sie kamen aber durch die im 16. Jahrh. gänzlich umgestaltete Criminalgesetzgebung und nach dem westfäl. Frieden durch die größere Befestigung der landesherrlichen Gewalt, deren früherer Schwäche sie hauptsächlich ihren Ursprung verdankten, immer mehr außer Gebrauch.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 24.
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